− Zu Elke Erbs Gedicht „Vexierbild“ aus Elke Erb: Vexierbild. −
ELKE ERB
Vexierbild1
Der Tor mit seiner Mutter ist im Wald. Sie wird ihr
Haar flechten. Die glänzenden Reiter kommen. Ver
lust des Sohnes. Wo wir uns halten wie jeder Stamm
seine Äste – verweslich vor und zurück der Ellenbogen
winkel, des Gebeins Haarsonne strählend: der herange
rittene Schmerz glänzt von geraubtem Licht, schnaubt
vor Kindlichkeit. Das Haar wird in Zöpfe geflochten.
Mit der Zeit wird es grau. Wo ist die Mutter? Sie trägt
es als Kranz um den Kopf.
Im programmatischen Nachwort des Bandes Vexierbild berichtet Elke Erb über eine für sie zum damaligen Zeitpunkt neue Schreibweise, die sie als vom Zwang der Linearität und Hierarchisierung befreit und befreiend empfindet. Als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen beschreibt sie den Wunsch, das Gesicht und die Gesichtszüge eines Menschen in all seiner Simultanität, Widersprüchlichkeit und „assoziativen Gedrängtheit“ ins Medium der Sprache zu überführen, sowie die Erfahrung, dass solch ein Unterfangen mithilfe der sprachlichen Mittel, die sie bis dahin als ihr zur Verfügung stehend erlebt habe, nicht oder kaum ihren Vorstellungen entsprechend zu bewerkstelligen sei.
Sie schreibt:
Die Absetzung der ausschließlich herrschenden linearen Schreibweise hat mir auf dem Blatt eine Verteilung und Zusammenstellung von Wortgruppen ermöglicht, die in den linearen Ablauf nicht mehr einzugliedern gewesen wären […]. Sie stehen zu dem Wort, das zunächst den eingeschlagenen Gedankengang weiterbahnt, und untereinander in einem bleibend aktiven Zusammenhang, ohne Einhelligkeit einerseits, Trotz andererseits vorspiegeln zu müssen, also nicht in einer zur Aggressivität verfremdeten, auf Sieg oder Niederlage zielenden Kollektivität. Sie haben vieles andere und sehr verschiedenes anderes zu tun.
Gleich beim ersten Lesen von Elke Erbs Gedicht „Vexierbild“, dem titelgebenden Text ihres Bandes von 1983, hatte ich das Gefühl, der Text möchte den Eindruck erwecken, man könne/dürfe ihn umarrangieren, er habe verschobene Anschlüsse, die er anders zusammenzuführen einlädt.
Es erweist sich, daß, verzichtet man auf diese/weitläufigen/verbalen/linearen Verbindungen, sich nicht nur erstrebte, im Bewußtsein vorbereitete Zusammenhänge präsent machen lassen – und in einer Kürze, die nicht vernachlässigt! – sondern sich auch andere Zusammenhänge herausstellen, die in wieder andere, nie sonst gedachte Konstellation und Eröffnungen führen.
Die „Hemmungen […], sich provisorisch […] auszudrücken“, versteht sie letztlich als einen Akt der Angst. Dieses Schreiben, das nicht bloß feststelle, sondern sich sofort selbst auf seine Folgen einlasse, nennt sie „nicht resultativ, sondern prozessual“.
Hier scheint sich mir ein tief verspürter Widerstand gegen ein Verständnis von Text als verankerter, statischer Größe zu artikulieren sowie ein Plädoyer für Wertfreiheit dem Sprachmaterial gegenüber und für das Wagnis, das sogenannte Provisorium als Dauerlösung zuzulassen, und zwar in all seiner eigentlichen Ungelöstheit, Dynamik, Fluidität. Diese Zumutung muss die Leser*in aushalten, ebenso wie die Schreibende sie aushalten muss.
Elke Erb spricht hier, so lese ich es, von einer Demokratisierung und Diversifizierung des Phänomens Text und letztlich auch des Leseprozesses, von einer Aufhebung der Lese- und Deutungshoheiten sowie von Enthierarchisierung des Verhältnisses Autor*in – Leser*in, die sich u.a. in einem Rückzug der Dichterin aus der Position derer, die uns sagt, was wir zu tun, zu lesen, zu assoziieren haben, äußert.
Dieses befreite, un-hierarchische Arrangieren von Textelementen in mehr oder weniger losen Gruppen oder Feldern macht aus dem Leseprozess eine Suchbewegung des Auges auf dem Blatt, macht das Blatt zum Ort des Textes im Gegensatz zur Zeile allein bzw. deren fixer, von links nach rechts ablaufender Folge. Das Auge sucht Anker, Ansatz- und Anfangspunkte, aber der Blick muss springen, kippen. Mit der Bewegung des Textes hin zum Bild bzw. von der Faden-Struktur zu einer Spinnennetz-Struktur ist der Blick gezwungen, vom Lese-Modus zum Seh-Modus überzugehen.
Es sind ausdrücklich Texte des Bandes, die formal anders konstruiert und auch deutlich länger sind als „Vexierbild“, auf die sich Elke Erb in ihrem Nachwort bezieht, doch verfährt auch dieser Text für mein Empfinden in seiner Essenz ähnlich.
Der Tor mit seiner Mutter ist im Wald. Sie wird ihr Haar flechten. Die glänzenden Reiter kommen. Verlust des Sohnes. Wo wir uns halten wie jeder Stamm seine Äste – verweslich vor und zurück der Ellbogenwinkel, des Gebeins Haarsonne strählend: der herangerittene Schmerz glänzt von geraubtem Licht, schnaubt vor Kindlichkeit. Das Haar wird in Zöpfe geflochten. Mit der Zeit wird es grau. Wo ist die Mutter? Sie trägt es als Kranz um den Kopf. (Vexierbild, S. 46)
Grimms Wörterbuch definiert das Vexierbild als „bild mit einem in der zeichnung verborgenen betrug, scherz“. Die Definition des Dudens lautet: „Bild, auf dem eine oder mehrere versteckt eingezeichnete Figuren zu suchen sind; Suchbild; Bilderrätsel“, und zweitens: „bildliche Darstellung eines Gegenstandes, dessen seitliche Konturen bei genauerer Betrachtung die Umrisse zweier spiegelbildlich gesehener Figuren ergeben“. Hergeleitet wird der Begriff vom Verb „vexieren“ = necken; ärgern; quälen, vom Lateinischen „vexare“ = stark bewegen, schütteln, plagen, quälen. Eines der bekanntesten Beispiele für ein Vexier- oder Kippbild zeigt die Zeichnung des Kopfes eines Hasen (oder einer Ente), den man, mit anderem Blick, auch als Kopf einer Ente (oder eines Hasen) sehen kann. Eine ähnliche Dynamik der Verwandlung, des Schwebens ist in Elke Erbs Gedicht „Vexierbild“ wahrnehmbar.
Der Text ist als Fließtext im Blocksatz gesetzt, also in einer Form maximaler Geschlossenheit und fixierter Linearität. Trotzdem trägt er für mein Empfinden eine unbedingte Brechung dieser formalen Linearität in sich. Da sind Zwischenräume, Risse, Spalten zwischen den Sätzen, kaum einer schließt (grammatikalisch, semantisch, kohäsiv) eindeutig an den nächsten an. Wenn die Sätze aber nicht aneinander anschließen, was tun sie dann? Was ist dann dazwischen bzw. woran schließen sie an, wenn nicht aneinander? Was tut sich auf in den Zwischenräumen?
Ich möchte den Text auseinanderziehen, aus seiner strengen Blocksatz-Form lösen, das Gewebe ein wenig auftrennen und sehen, was passiert. Ich versuche, eine Art verbindende Logik zu erzeugen und Möglichkeiten zu finden, Textteile, die aneinander anschließen könnten bzw. die sich möglicherweise aufeinander beziehen, zusammen zu gruppieren, einander visuell (durch unterschiedliche Formatierungen) zuzuordnen.
Wie viele Texte stehen hier? Was ist ein Text im Licht dieses Textes? Sobald man verschiedenen möglichen „Seiten“ des Textes auch visuell eine Seite gibt, sieht der Ausgangstext den von Elke Erb sogenannten prozessual geschriebenen Gedichten plötzlich gar nicht mehr so unähnlich. Der bislang nur lesende Blick geht in eine Kippbewegung über. Aber wodurch entsteht die innere Kippbewegung des Textes?
Rein syntaktisch/funktionell handelt es sich größtenteils um aneinandergereihte, einander beigeordnete Hauptsätze, die auf gleicher syntaktischer Stufe stehen. Durch den weitgehenden Verzicht auf Konjunktionen, Füllwörter sowie generell Elemente, die semantische Logik erzeugen, die Verbindungen, Eindeutigkeiten, Zuordnungen schaffen, entsteht der Eindruck der Unverbundenheit.
Regeln der Deixis, also des Textzusammenhalts und der Beziehung von Text und Welt bzw. Text und Leser*in (Vielleicht sogar: Welt und Leser*in?) werden permanent gebrochen, es wird beispielweise auf vermeintliches Vorwissen zurückgegriffen, das im Kommunikationsverhältnis zwischen Text, Leser*in und außertextlicher „Realität“ nicht existieren kann. Es gibt kein greifbares gemeinsames Vorwissen des Textes und der Leser*in, nur jeweils individuelle, ganz persönliche Assoziations-, Intuitions- und Erinnerungsräume, die mittels poetischen Sprechens berührt werden können. Neue, noch nicht erwähnte Größen werden nicht eingeführt, stattdessen wird so getan, als wären sie bereits erwähnt worden: „Der“ Tor (Welcher Tor? Woher sollten wir ihn kennen?), „im“ Wald (In welchem Wald? Kennen wir ihn bzw. geht es um das Phänomen, das Abstraktum „Wald“?), „die“ Reiter? Wer ist plötzlich, im mittleren Abschnitt, „wir“? Usw.
Der Text verweigert sich, linguistisch betrachtet, zwei fundamentalen Prinzipien, die ein jedes Textgewebe zusammenhalten sollen, das „verstanden“ werden möchte – der Kohärenz (= inhaltliche Logik, semantischer Zusammenhalt, Eigenschaft, als zusammenhängendes, sinnvolles Ganzes wahrgenommen werden zu können) und der Kohäsion (= sprachliche Verknüpftheit, die sich aus lexikalischen und strukturellen Beziehungen ergibt). Die unausgesprochenen, aber dennoch in jedem Kommunikationsverhältnis unbewusst etablierten Maximen konventioneller (schriftlicher wie mündlicher) Kommunikation werden konsequent missachtet, es werden Zwischenstufen, Erklärungsstufen, Rückbindungen (im Sinne interpersoneller Gesten, die die Verbindung zwischen Sender*in und Empfänger*in aufrechterhalten) etc. übersprungen bzw. unterschlagen, und allmählich stellt sich das Gefühl ein, dass es um das Erwähnte gar nicht geht, dass es ein festgelegtes „worum es geht“ vielleicht gar nicht geben will, dass plötzlich Zwischen-Räumliches im Raum steht. So gesehen ist der Text kein Text im klassischen Sinne einer mittels Webstruktur zusammenhaltenden, assemblierten Entität – dennoch kommuniziert er ja.
Vielleicht tritt anhand eines so gestalteten Textes ein Verfahren poetischer Artikulation an sich hervor, nämlich das Kommunizieren jenseits der im alltäglichen Sprachgebrauch etablierten Muster und Schablonen, ein Kommunizieren, das auch in der Verweigerung des Gelesen-Werdens liegt und das irgendwo, irgendwie trotzdem gelingt, im Sinne der linguistischen Pragmatik aber fehlschlägt, da eine Übermittlung annähernd eindeutiger Inhalte nicht stattfindet und auch gar nicht die Intention eines solchen Sprechens ist. Der Text rutscht weg, zieht sich zurück, fällt unter den Augen der Leser*in auseinander. So werden Wahrnehmungsebenen adressiert, die jenseits inhaltlichen Textverständnisses und jenseits linguistischen Zusammenhangs liegen.
Rein formal, rein physisch folgt das „Vexierbild“ dem Ablaufmuster eines linearen Textes, aber in seiner Tiefenstruktur verlässt es dieses Muster, zerreißt den Stoff, die Textur, das Gewebe, reißt Löcher, Laufmaschen, trennt sich selbst auf. In diesem Auseinanderfallen des Textgewebes kann Poesie aufstehen, in diesem Fehlschlagen, Irren, Verweigern.
Der Irritationseffekt ist demnach für mein Empfinden hier größer als bei visuell disseminierteren Texten, weil es von einem im geschlossenen Blocksatz gesetzten Gedicht vielleicht weniger offensichtlich zu erwarten ist, dass es nicht-linear funktionieren will und seine eigene äußere Form unterwandert, eine Sprech-Ebene hat, die wie ein leises Störgeräusch gegen diese Form anredet. Das experimentelle Potenzial könnte man daher genau darin sehen, in dieser Hintertür, in diesem Sich-Wegschleichen, in diesem doppelzüngigen, zischelnden Sprechen. Der Kipp-Effekt liegt im Unerwarteten, im Wegkippen des Textes aus seiner eigenen physischen Form, das selbst noch dann und immer weiter geschieht, wenn man ihn umgestalten und die neu entstandenen Segmente wiederum als neuen, quasi-linearen Text hintereinanderstellen würde. Das Kippen zeigt sich als dem Text unumgehbare energetische Bewegung eingeschrieben, sodass ein Vexierbild entsteht im ursprünglichen Sinne eines quälenden Bildes (sowie auch inhaltlich eines Bildes der Qual), eines sich auf den Kopf stellenden, sich selbst brechenden Bildes, eines sich selbst zerreißenden Textes.
Alke Stachler, aus Transistor, Ausgabe 4, Herbst 2020
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