WO GENAU LIEGT HARTSPANN, dieses dorf im gelände?
zwischen zufahrtsstraße, wirbelsäule, schulterblatt,
von hier aus blickt man: auf den schongang
verspannter landschaften, die haltungsschäden
der krüppelkiefern. man grüßt sich auf dem weg
mit einem nicken, einem knacken der sehnen,
eine nackensteife haltung, die man hier findet,
wenn man sie sucht. ansatz, ursprung, was
nicht alles muskel sein kann: ja, herz, zwerch-
fell, aber seele, hirn, das elternhaus
am rande? du hältst den kopf so schief, ein träger
säulenheiliger, der atlas, der sich nach einer
schonung sehnt, eine lichtung, die du siehst,
das nervöse leiden nadelnder bäume,
spaziergänge, die das weichbild massieren,
die flur, den trapezius, die siedlung bis hin
zu den physiotherapeuten, die das dorf einrenken,
gemeindegrenzen überdehnen, psychiatrien
in den oberzentren, orthopäden, die kartieren,
was dir fehlt: die rautenmuskulatur der seiten-
straßen, das skelett der letzten fachwerkhäuser,
alles facharztpraxen jetzt,
von radiologen. kontrastmittel nach feierabend,
die schnäpse, das bier, die relaxation, das
ist hartspann, das dorf, die schlichte diagnose
Christoph Wenzel
das lagerfeuer brennt und ich erinnere mich,
wie mein sohn in meine schuhe schlüpft
als probierte er mich selber an
die schuhe sind ein raum, für füße ein zuhause
die zuflucht des verlorenen sohns,
in ihnen wohnt die zeit als ein zurückgelegter weg
immer, wenn wir neue schuhe feiern wie das neue jahr
hoffen wir, dass wir in ihnen weiter kommen als gedacht
mein sohn trägt meine schuhe jetzt
und ich weiß es nicht, bin unschlüssig,
ob ein teil von mir darin zurück zuhause
oder ein teil bereits gegangen ist; was davon mag besser sein
wie viel paar schuhe sind mir wohl noch bestimmt, wie viel zuhause
in dem ich vielleicht nicht mal leben werde
ich schaue in das feuer,
die schuhe meines vaters gehen darin von uns
in ihnen wird er ewig leben
Sigitas Parulskis
Übersetzung: Christoph Wenzel
Während unserer Workshopstunden haben Sigitas Parulskis und ich fast ausschließlich geredet und einander zugehört. Wir haben dabei Zugänge gelegt: zu Badezimmern, Gegenden, Dörfern, Rotlichtvierteln und Wolfsrevieren, zu unseren Stimmen und zur Geschichte unserer Gedichte, zu unseren Muttersprachen. Wir notierten, nickten, hakten ein und hakten nach. Unsere unverzichtbare Begleiterin Rūta Jonynaitė hat uns dabei Fenster und Türen in die Sprach- und Gedichträume des anderen geöffnet. Das eigentliche Übersetzen fand bei uns erst anschließend statt, auf dem eigenen Zimmer, nachdem sich die Gespräche legen konnten.
In den Begegnungen und Diskussionen habe ich nicht nur Bekanntschaft machen dürfen mit dem Lyriker Parulskis, seinen Texten und seiner Poetik, ich habe gleichzeitig auch in kürzester Zeit so viel über meine eigenen Gedichte und das eigene Schreiben erfahren wie selten zuvor.
Christoph Wenzel
Unsere poetische Werkstatt war arbeitsintensiv und kreativ. Es ist überaus nützlich, vom Autor selbst zu erfahren, wie er an seinen Texten arbeitet, und was er damit ausdrücken möchte – gerade beim Übersetzen ist das eine sehr wertvolle Information. Besonders kostbar sind jene Augenblicke, in denen aus dem Chaos und einem scheinbar fragmentierten Haufen Wörter mithilfe des Autors und eines assistierenden Übersetzers (in meinem Fall war es Rūta Jonynaitė eine interessante und verständliche poetische Schöpfung entsteht. Solche Momente habe ich in Kėdainiai erlebt, und ich empfand sie als Geschenk.
Und noch etwas zum Übersetzen: In der Wandhalterung einer Leuchte direkt über meinem Bett verfing sich eine Wespe. Sie summte die halbe Nacht wie verrückt und ließ mich nicht einschlafen. Ich konnte sie nicht befreien und habe verschiedene Dinge probiert, bevor es mir schließlich gelang. Lebend. Ich entließ sie in den nächtlichen Herbstregen. Anstatt bei Licht und Wärme begegnete sie ihrem Tod in Dunkelheit und Kälte. Ich übertrug sie aus der Sprache des Lebens in die des Todes. Und dann schlief ich ein.
Sigitas Parulskis
Johannes Bobrowski: „Litauische Lieder“
Nachts, tieräugig, ein Strauch
bin ich, ein Baum am Tag,
ein Wasser im Mittagsschatten,
unter der Sonne das Gras…
Zwölf Dichterinnen und Dichter aus dem litauischen und deutschen Sprachraum finden sich in der vorliegenden Anthologie vereint und geben darin in mehrfacher wie auch ungewöhnlicher Weise Einblicke in ihr Schaffen: alle Gedichte erscheinen zweisprachig, über den gedruckten QR-Code und mithilfe eines Mobiltelefons können die Stimmen der Dichter zugeschaltet werden, sodass sich der private Lese- zu einem Konzertraum erweitern lässt. In kurzen Essays berichten die Dichterinnen und Dichter zudem aus ihren poetischen Werkstätten.
Bislang wissen wir recht wenig über die Entwicklungen im Bereich der Lyrik, die in beiden Sprachräumen innerhalb der letzten zehn Jahre vonstattengegangen ist, und auch nichts darüber, welche Dichterinnen und Dichter diese maßgeblich geprägt haben. Die nun vorliegende Anthologie, die zeitgleich in zwei Verlagen in Deutschland und Litauen erscheint, unternimmt den Versuch, dies zu ändern, und zwar im beste Sinne: sie will eine Brücke bauen zwischen den beiden poetischen Räumen und diese dadurch einander ein kleines Stück näherbringen.
Dass Litauen 2017 Schwerpunkt-Land der Leipziger Buchmesse ist, bot den Anlass für das Dichtertreffen im Herbst vergangenen Jahres in Kėdainiai, das auf Einladung des Lithuanian Culture Institute, des Haus für Poesie und des Goethe-Instituts Litauen stattfand.
Und obwohl räumlich nur gut 1.000 Kilometer voneinander entfernt, weisen Litauisch und Deutsch sprachlich betrachtet weitaus größere Entfernungen zueinander auf. Litauisch ist neben dem Lettischen die älteste lebendige Sprache, die noch auf indoeuropäische Wurzeln zurückzuführen ist.
Im Gegensatz zum Deutschen gilt das Litauische als Tonsprache, das bedeutet, je nach Betonung der einzelnen Silben, kann sich die Bedeutung des Gesagten zum Teil erheblich verändern. Wo das Deutsche nach einem relativ festen syntaktischen Schema von Subjekt-Prädikat-Objekt agiert, begegnet einem im Litauischen ein vergleichsweise frei operierender Satzbau. Morphologisch wartet das Litauische mit zahlreichen Suffixkonstruktionen auf, die abhängig vom Kontext aus einem ,klein‘ durchaus auch mal ein ,armselig‘ werden lassen.
Diese wenigen Beispiele sprachlicher Eigenarten und Unterschiede sollen an dieser Stelle aber schon genügen, um deutlich zu machen, dass allein philologisch operierende Übersetzungsverfahren a priori zum Scheitern verurteilt sind; zumal es sich bei Gedichten um Klang- und Rhythmusgebilde handelt, die innerhalb der ästhetischen Konstituenten des Gedichts mit Bedeutungen jonglieren und diesem so Strahlkraft verleihen. All dies muss in der Zielsprache aufs Neue entstehen, und zwar als ein gutes Gedicht.
Nicht ganz unbegründet gilt das Übertragen von Gedichten in eine andere Sprache als die Königsdisziplin des Übersetzens. In Kėdainiai arbeiteten die deutschsprachigen und litauischen Dichterinnen und Dichter mehrere Tage lang an der Übersetzung ihrer Texte, in den meisten Fällen ohne die Sprache des Gegenübers zu verstehen. Was zunächst absurd erscheint, ist aber bei dem vom Haus für Poesie entwickelten Konzept des VERSschmuggels Methode: VERSschmuggel verweist auf die oft ungewöhnlichen, auch klandestinen, immer fantasievollen und kreativen Energien, derer es bedarf, um beim Übertragen einer Dichtung in eine andere Sprache wieder ein wundervolles sprachliches Kunstwerk entstehen zu lassen. Gedichte zu übersetzen kann dabei spannend sein wie ein guter Krimi, zumal wenn die Dichter selbst die „Schmuggler“ sind.
In einem ersten Schritt werden deshalb Interlinearübersetzungen der Gedichte in die jeweils andere Sprache angefertigt, mit deren Hilfe die Dichterinnen und Dichter anschließend arbeiten. Interlinearübersetzungen geben dabei zunächst nur den Sinn eines Gedichtes wieder und übersetzen es Wort für Wort in die Zielsprache. Besonderheiten des Rhythmus, des Klangs, etwaige Sinnverschiebungen oder Doppeldeutigkeiten werden vom Interlinearübersetzer in einem oft umfangreichen Fußnotenapparat vermerkt. Die Interlinearübersetzungen bereiten den Dichterinnen und Dichtern also gewissermaßen das Feld, auf dem sie sich anschließend bewegen – wie mit einer Karte in der Hand.
Zusätzlich, und das ist eine weitere Qualität des VERSschmuggels, arbeitet ein Dolmetscher mit den sich gegenseitig übertragenden Dichtern und sorgt dafür, dass sie sich all jene Geschichten erzählen können, die hinter den Worten und Versen versteckt liegen. Oft handelt es sich dabei um höchst private, ja geradzu intime Bekanntmachungen! Der Dolmetscher ist beim VERSschmuggel als Medium der Dritte im Bunde.
Das Besondere am VERSschmuggel stellt die Freiheit dar, die sich die Dichterinnen und Dichter einander während des poetischen Dialogs beim Übersetzen gewähren können, weil Lösungen, die den Kollegen vorgeschlagen werden, solange verworfen werden können, bis sie ,passen‘ und der andere sie autorisiert. Das Format bietet also viele Möglichkeiten zum Experimentieren, viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer verstehen diese Art der Übersetzung sogar als Fortschreibung im Sinne ihrer eigenen Poetik. Die Dichter schmuggeln das Eigene ins Fremde und vice versa.
Dabei muss oftmals radikal Neues erfunden werden, um die Potenz des Gedichts erfahrbar zu machen und übertragen zu können. Und so ermöglicht der direkte Austausch, dieses Ergründen sprachlicher Tiefenstrukturen, das „Schmuggeln“ von poetischen Traditionen, kulturellen Konnotationen, vor allem aber auch von musikalischen Elementen, denn „der Rhythmus ist der Geist des Gedichts“ (Antanas A. Jonynas).
Hören Sie, indem Sie lesen: beispielsweise wenn Mathias Traxler in seiner Klangperformance „Gesänge für Sammy Noone“ die litauische und die deutsche Version ineinanderfließen lässt. Übersetzt wurde hier parallel durch Hören und Sprechen beider Sprachen – gleichsam zu erleben in diesem Buch.
Die Begegnung mit dem Fremden ist oft auch die Begegnung mit dem Intimsten: Beim VERSschmuggel machen die Autorinnen und Autoren nicht nur Bekanntschaft mit neuen Texten und Poetiken, sie erfahren über den fremden Blick zugleich auch Neues über ihr eigenes Schreiben. Im Extremfall kann dies sogar zum Neuschreiben eines Gedichtes führen, so geschehen etwa bei Agnė Žagrakalytė im Anschluss an die Werkstatt in Kėdainiai.
Die Anthologie erscheint in Deutschland im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn, in Litauen im Verlag des Schriftstellerverbandes in Vilnius. In beiden Ländern wünschen wir diesem Buch viele Leserinnen und Leser, möge es Lust machen auf mehr, denn auf beiden Seiten gibt es noch Vieles zu entdecken.
Aurélie Maurin und Thomas Wohlfahrt, Februar 2017, Vorwort
baut eine poetische Brücke zwischen Litauen und Deutschland. Auf Einladung des Lithuanian Culture Institute, des Haus für Poesie und des Goethe-Instituts in Vilnius trafen sich im Herbst 2016 sechs litauische und sechs deutschsprachige Dichterinnen und Dichter, um ihre Poesie gegenseitig zu übersetzen und über die Grenzen ihrer Sprachwelten hin- und herzuschmuggeln. Die Ergebnisse finden sich in der vorliegenden Anthologie exklusiv zu lesen und zugleich – per QR-Code – zu hören.
Verlag Das Wunderhorn, Rašytojų sąjungos fondas, Klappentext, 2017
Aurélie Maurin und Rainer G. Schmidt: Übers Übersetzen von Gedichten
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