DIE ZEIT UND DIE MAUER
Auch wenn du älter wirst und alt
So lange du springen kannst, spring:
Der Wall steht nicht für die Ewigkeit
Sondern fällt irgendwann
Vielleicht bald.
Duck dich im Schatten. Und ist es soweit
Wenn du noch singen kannst, sing.
Aber dann? Denk daran
Das Kapital ist schlauer
Geld ist die Mauer.
Der Rest ist Schweigen
Auf der anderen Seite des Walles
Und Schweigen Reifsein
Und Reifsein alles.
1988
An Stelle eines Nachworts vom Herausgeber zur Person B.K.T. steht hier ein Gespräch von H.D. Schütt mit dem Autor. Vor einem Vierteljahrhundert stand es in der Tageszeitung Neues Deutschland.
Hans-Dieter Schütt: „Guck in den Spiegel fetter Klohn / Viel-zerteilter Nie-geheilter / Gespeilter Geseilter Gelangweilter / Unterm Speck sieht man deine Knochen schon / Rückgrat krumm Schädelbein dumm / Hinter den Rippen gehen Gespenster um / Abgewetzter Verletzter Zersetzter / Von niemand Geschätzter / Ich schätze du bist bald stumm.“ Das schreibt B.K. Tragelehn sich selber zum 35. Geburtstag, 1971, und es klingt nicht, als ob Sie den 60. erreichen wollten, Zeitpunkt unsres Gesprächs.
B.K. Tragelehn: Ich hatte gerade Shakespeares Wie es Euch gefällt inszeniert, mit Studenten in Babelsberg. Danach war die Rede von Hippieunwesen und Pornographie. Die Filmhochschule war in der Umstellung, die Fernsehausbildung wurde erweitert, und hat gemeint, eine Klassiker-Diskussion kann sie sich nicht leisten. Die Kampagne gegen Dresens Faust am Deutschen Theater hing noch in der Luft. Also spielten wir dreimal. Beim dritten Mal waren nur noch geladene Gäste zugelassen. Ich war wieder mal in ein Loch gefallen und dichtete vor mich hin.
Schütt: Sie sind in der DDR kaum gedruckt worden. Als im Verlag Neues Leben ein Poesiealbum an Ihrer Unwilligkeit zur Selbstzensur scheiterte, stand im Börsenblatt des Buchhandels eine Notiz, die aussah wie die Korrektur eines technischen Versehens: Der Autor des Poesiealbums soundsoviel heißt nicht B.K. Tragelehn, sondern Ludwig Uhland. Wie war Ihnen da?
Tragelehn: Ich war sauer. Aber irgendwann nimmt man die Außenseiterrolle an, du lieber Gott, welche sonst? Repräsentanten sind Arschlöcher. Und im Nachhinein – ich bin ja am Schlimmsten vorbeigeschrammt – ist vieles nur noch komisch. Bei den späteren Interviews zu der Uraufführungsaffäre der Umsiedlerin haben Heiner Müller und ich fast so sehr gelacht wie damals bei der Arbeit. Aber damals war es natürlich manchmal überhaupt nicht komisch. In dem Fall war die Formel konterrevolutionär, antikommunistisch, antihumanistisch. Nach der Uraufführung wurden Heiner und ich ins Kulturministerium bestellt, und nach einem bedrohlichen Gespräch – wir mussten hören, dass einige Genossen gefordert hatten, uns zu verhaften – gingen wir vom Molkenmarkt durchs Zentrum über den alten, kleineren Alex und tranken in jeder Eckkneipe einen Schnaps. Heiners Lippen wurden immer dünner, und er sagte immer wieder: Es geht eben nicht mit Realismus. Ich habe verstanden, dass in Deutschland die Realität den Realismus erdrückt. Seit zweihundert Jahren… Dann gab es aber auch wieder Hoffnung. Und wieder Enttäuschung. Ein Wechselbad. Bei Brecht heißt es, in den „Liedern des Glücksgotts“, „Sterne treten ungenau / In ein neues Haus“. Verse wie vom alten Goethe.
Schütt: Von dem Repräsentanten?
Tragelehn: Der hat den Außenseiter sehr geschickt maskiert.
Schütt: Sie arbeiten 1976 im Westen und zitieren in einem Gedicht aus diesem Jahr zwei Zeilen von Brecht: „Ich bin nicht gern wo ich herkomme / Ich bin nicht gern wo ich hinfahre“. 1989 sind Sie aus Düsseldorf, wo Sie Schauspieldirektor waren, in die DDR zurückgekehrt.
Tragelehn: Ich dachte: Umbau ohne mich – nein. Ich habe meinen Vertrag am Theater gelöst und stand am 15. Oktober, einem Sonntag, mit einem gemieteten Lastauto voller Möbel auf dem Grenzkontrollpunkt Heinrich-Heine-Straße. Einer zieht in den Osten um! Dem Major fiel die Kinnlade runter, ich hab sie höflich aufgehoben und zurückgereicht. Er war so verblüfft, dass der Fahrer des Wagens, ein Freund aus Westberlin, kein Eintrittsgeld bezahlen musste. Der Major hat das einfach vergessen über dem Schock.
Schütt: Rückkehr wieder mit Hoffnung?
Tragelehn: Drei Wochen. Dann entschwand die über die Bornholmer Brücke.
Schütt: Sind Sie verbittert?
Tragelehn: Die Hoffnung kommt aus den Wünschen, deshalb macht sie sich schnell Illusionen, aber deshalb ist sie auch nicht umzubringen. Nein. Verbittert bin ich nicht, traurig bin ich. Übrigens ist das mit der Bornholmer Brücke wahrscheinlich ungerecht gegen die Leute. Die DDR war am Ende ein Sumpf, unrettbar. Aber im Abendlicht war sie dann auch wieder einen Augenblick schön. Am 1. Mai 1990 hab ich das erste Mal neben die rote Fahne eine DDR-Fahne gehängt. Ich musste erst eine kaufen.
Schütt: Was war schön oder gut an der DDR?
Tragelehn: Vor über dreißig Jahren hab ich ein Stück geschrieben. Es ist nicht ganz fertig geworden, weil ja keine Aussicht bestand, dass es aufgeführt wird, ein DDR-Stück. Das lag unter Papierbergen, ich hab lange nicht dran gedacht. Als ich das Fragment vor zwei Jahren hab drucken lassen, hab ich ein Motto davor gesetzt, aus einem Geschichtsbuch, Silas Haslams History of the Land Uqbar, von 1874: Wussten sie am Ende noch, dass sie einmal begonnen hatten mit einer Aufgabe? Die Spur im Gedächtnis war zugeschüttet. Sie hatten sich eingemauert. Sie wurden belagert. So lebten sie hin, die Belagerung dauerte, es schien das Normale zu sein. Schließlich gaben sie auf. Am Ende standen sie zusammen mit den Siegern im Freien. Vor der Aufgabe.
Schütt: Eine Aufgabe, das heißt Hoffnung. Immer und immer wieder? Das Wort kommt auch in Ihren Gedichten oft vor.
Tragelehn: Hoffnung ist auch Arbeit, ja, und nicht einfach etwas Rosiges. Ich fürchte, dass wir rosigen Zeiten entgegengehn. Neulich hab ich, sehr spät erst, die Volksbühnen-Aufführung Murks den Europäer gesehen, von Christoph Marthaler, bei einem Gastspiel in Hamburg. Da ist dieser Regisseur, also ein Wessi, ein Schweizer noch dazu, in den Osten gekommen und hat ganz genau hingesehn und diesen schrecklichen und schrecklich komischen Wartesaal entdeckt, in dem die Aufführung spielt. Ich erkannte meine DDR wieder, und als ein Hamburger Zuschauer das Theater verließ, hab ich noch gesagt: Der erste DDR-Flüchtling. Aber dann geschah etwas Merkwürdiges: Der Wartesaal wurde aus einem DDR-Bild zu einem gegenwärtigen Bild, nicht nur von diesem neuen Deutschland, sondern von Europa. Der Titel stimmt! Das ist die Hoffnung. Von der DDR lernen, heißt untergehen lernen. Was jetzt ist, wird auch nicht dauern.
Schütt: Zu Ihren Theater-Anfängen: Was war damals für Sie Brecht? Und was wurde Heiner Müller für Sie?
Tragelehn: Brecht, das Theater, die Akademie, Berlin – das war eine Öffnung, Ausweg aus der Enge der Residenzstadt Dresden. Residenz, egal ob unter König, Gauleiter, Bezirksfürst oder Ministerpräsident, die Dresdner machen ihren Diener. Berlin – da war noch ein Hauch von dem, was vor 33 war… Und sechs Jahre lang war die Grenze noch offen… Ich war neunzehn, als ich nach Berlin kam, und habe alles aufgesogen wie ein Schwamm. Die Proben von Brecht waren keine Sekunde langweilig, er war der beste Regisseur, dem ich je zugesehen habe. Müller hab ich ein Jahr nach Brechts Tod kennengelernt. Er war sieben Jahre älter als ich. Brecht war auch für ihn wichtig, aber Müller hatte auch ältere Erfahrungen, und die Erfahrung Brecht hatte er schon angefangen zu sortieren. Er hat mich davor bewahrt, ein Sektierer zu werden. Und ich hatte als Einzelkind plötzlich so etwas wie einen großen Bruder. Er hat später mal gesagt: Ich hatte immer das Gefühl, ich muss dich beschützen. Ich war sehr leichtsinnig und sehr jähzornig – sonst hätte ich vielleicht die Uraufführung von Umsiedlerin gar nicht so durchboxen können. Und andererseits war ich manchmal schnell verschüchtert. Zum Beispiel in diesen Berliner Theatern von damals. Wenn man da antrat, dann war das, als ob man an einer Glaswand klettern soll. Da hat Müller mir gesagt: Trink ein paar Schnäpse vor der Probe.
Schütt: Im Berliner Ensemble ist Müller erst spät gespielt worden.
Tragelehn: Nach Brechts Tod hat sich die Brechtschule geteilt, ein Vorgang wie nach Hegels Tod. Das BE, eh eine Festung in feindlicher Umgebung, wurde jetzt apologetisch, mit der Parabel als Credo. Das war das Offizielle, die Erbepflege. Benno Besson, im Deutschen Theater, das war der Publikumserfolg. Und Müller, das war die Fortführung der Produktion – das Wort in dem weiten Sinn genommen, wie Brecht, nach Marx, es gebraucht hat. Meine Option war klar, als ich Lohndrücker gelesen hatte, im Mai ’57, das erste Stück von Heiner.
Schütt: Was ist übrig von Brecht, für Sie? Glauben Sie noch an ein Theater der Aufklärung?
Tragelehn: Hab ich nie dran geglaubt. Warum sollen Besserwisser Ahnungslose aufklären können? Übrig von Brecht ist für mich vor allem das, was angeblich tot ist, das epische Theater: Sagen lassen sich die Leute nichts, erzählen lassen sie sich alles.
Schütt: Das Erzählen lässt Freiheit, was dazuzudenken.
Tragelehn: So ist es. Man darf eine Geschichte nicht erklären, das weiß jeder Witzeerzähler. Erklärung von der Bühne, das ist Kolonisierung des Publikums. Erklärung oder Urteil ist Sache der Zuschauer.
Schütt: Sie haben sehr wenig Brecht inszeniert, aber sehr viel Müller.
Tragelehn: Ja. Ich bin wahrscheinlich der Regisseur mit den meisten Müller-Inszenierungen. Mit den Übersetzungen sind es so an die fünfzehn Aufführungen. Aber mit einer langen Pause in der Reihe, zwanzig Jahre, von der Uraufführung von Umsiedlerin 1961 bis zur Uraufführung von Quartett in Bochum 1982 hab ich nichts von ihm machen können. Es gab so Argumente wie: Die beiden Namen sollen doch besser nicht wieder zusammen erscheinen. Als ich im Westen war, hatte sich schon ein großer Nachholbedarf angesammelt, und da ich mir aussuchen konnte, was ich machen wollte, hab ich mir Müller ausgesucht.
Schütt: Warum nicht Brecht?
Tragelehn: Weil seine Inszenierungen der eigenen Stücke ein so mächtiger Eindruck waren. Heute würde ich zum Beispiel gerne Galilei machen, Brechts Selbstporträt als Galilei. Brecht als Galilei, das war das Bild, das ich aus seinen Proben Ende ’55, Anfang ’56 mitgenommen habe. Das Politische darin ist mir erst viel später aufgegangen, die Auseinandersetzung mit den Moskauer Prozessen. Oder die Maßnahme, wo gelernt wird, was auf den Leib geschrieben ist, bis zum Tod, wie in Kafkas Strafkolonie.
Schütt: Sie sagen, es sei im Theater folgenlos, wenn sich alles in allgemeinem Humanismus trifft.
Tragelehn: Deutlich wird das am Extrem der Nazizeit. Bei den Proben zu Müllers Schlacht hab ich den Schauspielern gesagt: Ihr müsst das spielen wie Werbung für den Nationalsozialismus. Die Geschichten gehen alle in die Scheißgasse. Aber nur wenn die Faszination, die das hatte, zu merken ist, wird man unsicher. Sonst sitzen im Parkett lauter gute Menschen und meinen, dass ihnen das nie passiert wäre. Die Irritation, wenn der Zuschauer von heute nicht mehr sicher sein kann, wie er sich verhalten hätte damals, ist der erste Schritt zu der Überlegung, wie man es vermeiden kann, in so eine Lage zu kommen.
Schütt: Welche Bilder haben Sie vor Augen, wenn Sie an Ihre Kindheit denken? 1945 sind Sie neun Jahre alt geworden.
Tragelehn: Der ungeheure Jubel, als die siegreichen deutschen Truppen zurückkamen vom Frankreichfeldzug. Menschen und Menschen und Blumen und Blumen und strahlende Gesichter und das Geräusch der genagelten Stiefel auf dem Straßenpflaster, eine sehr frühe Erinnerung. Später dann meine Mutter, stumm über dem Atlas mit dem riesigen Rußland, als die Nachricht vom Überfall auf die Sowjetunion kam. Ich gehe, eine Brezel essend, an der Hand meiner Großmutter über den Dürerplatz in Dresden. Da bauten russische Kriegsgefangene ein Wasserbassin für den Luftschutz, und ein junger Gefangener, geschoren, sah mich mit großen Augen an. Der Posten wandte gerade den Rücken, und der Gefangene bettelte, stumm, die Hände aneinanderlegend, wie auf der Dürerzeichnung der betenden Hände. Meine Großmutter zog mich weg. Ein paar Tage später wurde die Mutter eines Schulkameraden abgeholt, weil sie Kartoffelschalen ins Gebüsch geworfen hatte. Das weinende Gesicht des Schulkameraden. Einmal habe ich Juden gesehen mit dem Stern, der unheimliche Eindruck von etwas Schrecklichem. Niemand sprach darüber.
Schütt: Sie waren in Dresden bei dem großen Angriff am 13. Februar 1945?
Tragelehn: Ja. Der Feuersturm… Der Brand leuchtete wie ein Sonntag. Das war ein strahlendes Jahr, 1945. Ein herrlicher Frühling und ein herrlicher Sommer, ohne Schule, im Wald und im Wasser. Der Winter eisig, die Wiesen an der Röder meilenweit überschwemmt, alles Eis, nur der schmale Fluss nicht fest zu. Ich bin natürlich eingebrochen. Wir wohnten zwei Jahre auf dem Dorf, nachdem wir ausgebombt waren. Ich war gerne da, in Ottendorf-Okrilla, zwanzig Kilometer östlich von Dresden. Die Residenzstadt hab ich gehasst, die Kunststadt, mit Malerei und Musik und Theater, hat mir den Ausweg gezeigt.
Schütt: Würden Sie sagen, dass Sie ein Linker sind?
Tragelehn: Ich fürchte, ich war immer ein Häretiker, nicht mit Absicht. Das muss habituell sein. Wenn alle dafür sind, bin ich auch dagegen.
Schütt: Worin, glauben Sie, lag die Tragik der Kommunisten in der DDR?
Tragelehn: In der Angst, mit der sie leben mussten – nicht obwohl, sondern weil sie Macht bekommen hatten. Der Sohn von Hanns Eisler, später ein Wiener Maler, ging mit seinem Onkel Gerhart, einem alten Kominternmann, spazieren. Von dem Bunkerberg im Friedrichshain sahen sie über die abendliche Stadt, und der Alte sagte: „Das ist nun unser Berlin, siehst du. Und überall, wo ein Licht angeht, sitzt einer und überlegt, wie er uns die Kehle durchschneidet.“ Es gab reale Angst und es gab mythische Angst. Wer sich nicht ganz rein fühlt, hat Angst, und um die Angst loszuwerden, gab es die Säuberungen. Das war die Therapie der Partei, mit der sich viele von der Angst befreit haben. Von der und der und so oder so. Um den Preis ihrer selbst.
Schütt: Zum Schluss die Frage an den Gedichteschreiber Tragelehn, Vizepräsident des Deutschen P.E.N.-Zentrums (Ost): Warum schreiben Sie?
Tragelehn: Schwer zu sagen. Manchmal frag ich mich selber, was das soll… Es ist eine Angewohnheit, eine, von der man weiß, dass sie einen entlastet. Man schickt Erfahrung auf einen Transport und versucht den Transport abzusichern. Ein Konzentrat transportiert sich besser.
Schütt: Das Konzentrat – eine Idealvorstellung, wie Gedichte sein müssen?
Tragelehn: Wie Musik von Webern. Zum Beispiel opus 7, kurze Stücke für Violine und Klavier, sehr konzentrierte, sozusagen kristalline Gebilde. Diamanten etwa bilden sich unter hohem Druck. Solche Gebilde herzustellen… Manchmal gelingt es.
Nachwort
ist der zweite von insgesamt drei Lyrikbänden mit Gedichten und Gedicht-Übersetzungen von B.K. Tragelehn, die einzeln oder zusammen im Schuber bei Vorwerk 8 erhältlich sind. 1936 in Dresden geboren und aufgewachsen, lebt Tragelehn seit 1955 in Berlin. Vierzig Jahre, von 1957 bis 1997, hat er an vielen deutschen Theatern [erst in der DDR und seit 1987, nach mehreren Berufsverboten, auch in der BRD] inszeniert, oft Stücke von Shakespeare und anderen Autoren seiner Zeit, die er selbst übersetzt hat, Stücke von Molière, die er gemeinsam mit U. Ludvik übersetzt hat, sowie Stücke von Heiner Müller, dessen Freund, und von Brecht, dessen Schüler er war. So sind viele Gedichte mit der Theaterarbeit verbunden, z.B. Schauspielern gewidmet.
NÖSPL, die Sammlung der Gedichte von 1956–1981, konnte erst 1982 in Frankfurt am Main erscheinen. In der DDR war fast nichts gedruckt worden. Dieser zweite Band Das andere Ende / Neue Xenien sammelt die noch nicht erschienenen Gedichte von 1982–2007 und Epigramme von 1959–1999. Der dritte Band Doppelgänger sammelt alle Übersetzungen: von antiken Dichtern wie Ovid über Giordano Bruno bis zu Adam Mickievicz [nach Interlinearversionen] und zu Dichtern des 20. Jahrhunderts wie W.H. Auden und W.C. Williams.
Das Ganze bildet eine persönliche poetische Chronik der Geschichte des 20. Jahrhunderts in seiner zweiten Hälfte. Der Herausgeber Gerhard Ahrens hilft mit Anmerkungen über die Schwellen von Ost und West und von Zeitabständen hinweg.
Vorwerk 8, Klappentext, 2021
Es nervt, eine lebende Legende zu sein. Und doch war er der letzte Meisterschüler Brechts und der vertrauteste Regisseur Heiner Müllers. Seine Inszenierung der Umsiedlerin war so treffend, dass er sich in der Braunkohle bewähren musste. Sein erster Gedichtband im Poesiealbum wurde verboten und als er 1979 bei Reclam erscheinen sollte, da arbeitete der Autor schon im Westen, weil er es im Osten nicht mehr durfte.
Legenden taugen zum Bewundern, also nicht zum Leben. B.K. Tragelehn will gelesen, nicht bewundert sein. Obwohl oder gerade weil der Schüler längst selbst ein Meister ist. Ein Meister des Erbens, was das Gegenteil von Besitz bedeutet. Während die Brecht-Erben über den Wortlaut der Werke des Listenreichen wachten, gingen BKT und Müller daran, BBs Geist, seine Welthaltung produktiv zu machen. Auf der Bühne und im Gedicht.
Beides dreht sich um das lebendige, das gesprochene Wort, im Gegensatz zur erhabenen Kunstsprache der Klassik. Wie BKT am Wort arbeitet, das zeigt die dreibändige Sammlung seiner Gedichte.
Der erste Band beginnt 1956. Als er 1982 im Westen erschien, hielt man den Titel NÖSPL für ein Dada-Wort, einen Witz. Doch erinnerte er an das „Neue ökonomische System der Planung und Leitung“: den Versuch der DDR, eine ideale Gesellschaft wie eine Maschine zu konstruieren.
Der zweite Band bringt die Gedichte von 1982–2007 nebst Neuen Xenien, die zum Goethe-Jahr 1999 erschienen:
Aufgemacht wurde das Tor für die Zukunft, Spalier stand die Menge
Närrischer Weise jedoch trat die Vergangenheit ein.
Und überraschend aktuell:
Absurditäten in Wirtschaft und Staat lang gewohnt aus dem Osten
…
Vom Resozismus zu lernen, heißt untergehen lernen.
Fragt mich nicht, was denn dann ist. Macht das, was ihr selber wollt.
Der dritte Band versammelt die Übersetzungen von Ovid bis W.H. Auden und W.C. Williams.
Schon im Äußeren ist Anti-Klassik Programm: statt Goldschnitt graue Pappbände, rau und roh wie Schotter. Auch das Druckbild schmucklos, die Anhänge (Anmerkungen, poetologische Notizen und ein Interview mit H.-D. Schütt) eng, blockhaft, eine Bleiwüste, die man nicht konsumieren kann. Man muss sie durcharbeiten, sich mit spitzem Stift aneignen, dann wird die Last zur Lust, das Erkennen zum Genuss.
Wie BB, „der belehrbare Lehrer“, es BKT gelehrt hat.
Jens-F. Dwars, Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 75, 2022
Schreibe einen Kommentar