Christa Reinig: Sämtliche Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christa Reinig: Sämtliche Gedichte

Reinig-Sämtliche Gedichte

Das Übervölkerungssystem rief die Philosophen und Theoretiker auf den Plan. Wie konnte es zu jener grenzenlosen Vermehrungswut der Lebewesen kommen? Hier die indische Version der Malthuslehre:

Es schwammen sechs Enten auf einem Teich.
Drei sind arm und drei sind reich.
Drei sind hager, drei beleibt.
Drei bemannt und drei beweibt.
Drei sind schwarz und drei sind weiß.
Drei sind kühl und drei sind heiß.
Drei sind warm und drei sind kalt.
Drei sind jung und drei sind alt.
Drei sind stark und drei sind schwach.
Drei wollen Frieden und drei wollen Krach.
Drei wollen Schlaf, drei wollen Tanz.
Drei haben’nen Sterz und drei’nen Schwanz.
Eins rottete das andre aus.
So wurden dreiunddreißig draus.

Dreiunddreißig Enten auf einem Teich.
Sechzehn sind arm und sechzehn sind reich.
Nur eines hatte die Fresse voll,
Verlor den Verstand und wurde toll.

 

 

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Vorwort

Mein tiefstes herz heißt tod
wenn das die mörder wüßten
wären sie es müde

(1963)

Als Christa Reinig 1964 den Bremer Literaturpreis erhielt, sagte sie:

Zwölf Jahre lang habe ich gestanden wie mit dem Gesicht zur Wand. Wenn ich die Augen schloß, konnte ich sie richtig vor mir sehen. Es schien eine rote Ziegelmauer zu sein.

Sie sagte:

Ich mußte mit unendlicher Geduld, mit Feilen und Fingernägeln eine Fuge herauskratzen, dann gibt es einen lockeren Stein, dann breche ich den Stein heraus.

Und sie sagte:

Meine Mauer dauerte zwölf Jahre, jetzt ist sie reif zu fallen.

Und danach ging sie nicht mehr nach Ostberlin zurück, wo sie als Kunstodin im Märkischen Museum tätig war. Sie hatte eine Handtasche mitgenommen und einen kleinen Koffer, ein paar Kleidungsstücke, Manuskripte, ein paar Bücher. Das war alles. Wie ein Flüchtling des Jahres 1945. Auf dem aufgeräumten Schreibtisch im Museum ließ sie das Röntgenbild ihrer Wirbelsäule zurück.
Außer ein paar Gedichten und zwei, drei Prosastücken wurde in der DDR von ihr nichts gedruckt. Aber sie war schon lange eine Berühmtheit. Ihre Gedichte wurden mit der Hand abgeschrieben und gingen von Augen zu Augen, von Ohren zu Ohren. Sie waren gereimt und man konnte sie sich leicht merken. Mir sind noch heute viele Zeilen in lebendiger Erinnerung. „Robinson“:

Kratzt mit einer muschelkante
seinen namen in die wand
und der allzuoft genannte
wird ihm langsam unbekannt.

Oder: „Der hirte“:

Leute kommt zu mir ans feuer
wer die nacht liebt, ist ein feind.

Oder: „Der soldat“:

Unterm netz von stacheldraht
hockt verlassen der soldat.

Oder: „Die gerechten“:

Als schuster Baruch schon im sterben lag…

Das waren keine politischen Gedichte, die man hätte verbieten müssen. Aber es waren Gedichte, die trotzig auf ihrer individuellen Aussage beharrten. Da war nicht von Aufbau die Rede und nicht vom verordneten Optimismus, da war weder Klage noch Anklage. Jedes dieser Gedichte sprach, auf ganz verschiedene Weise, von Trauer, von der Verlorenheit, von den Verwundungen, vom Tod. Das waren – schon damals – Endzeit-Gedichte.
Und es war der ganz und gar unübliche Ton, der auffiel. Ein kalter, genauer gesagt: ein gekälteter Ton, einfache, lapidare Sprache, eine strenge klassische Form. Das Gedicht: ein makelloses Gefäß. Aber innen (der Inhalt), da brannte und rebellierte es. Das ist es, was ihre Leser gleich empfunden haben, hinter der Schönheit: Verzweiflung. Sie hat für bestimmte Situationen die einzige, die vollkommene Lösung im Bild gefunden. Robinson wird mir immer so erscheinen, wie einer, der sich selbst vergißt. Der Henker, der seinem Gehilfen den richtigen Knoten beibringt. Der alte Pirat, der in Sydney ausheuert und über die Blätter der Heiligen Schrift blinzelt. Die Form ist gebändigt, doch die Wörter zeigen schon ihre Widerhaken.
Christa Reinigs Geist war immer ein anarchischer. Noch ehe sie das in den Gedichten in Prosa „Der traum meiner verkommenheit“ radikal ausspricht, ist das unterschwellig spürbar.
In den kurzen, lapidaren Gedichten, die sie dann im Märkischen Museum schrieb, wird die Form, wird das Schöne zerfetzt. Das Gorgo-Gesicht kommt zum Vorschein, für Sekunden. Dann wird es wieder verhüllt. Nur für die Dauer von ein paar Wörtern zeigt da jemand seine Verwundungen, die Foltermale. Solche Verse sind Aufrisse der Wahrheit.

Der Wörter rohe Außenseite
Mitmäulern haßvoll abgefratzt,
das war der Riß.
Was uns versagt war,
schweige innen im Gedicht.

Das liest sich wie das Stenogramm einer Poetik; ein kurzgefaßtes Selbstporträt jener Zeit. Zwei- und Dreizeiler von solcher Lakonik und Betroffenheit, schrieb damals niemand. Man spürte einfach, da macht nicht jemand gute Gedichte. Da werden einem Menschen, der die Zähne zusammenbeißt, Wörter abgetrotzt, herausgerissen. Da war jemand, der leben, lieben und auch leiden wollte. Aber da man ihn nicht leben ließ, schrie er. Mit blutigem Mund.
Christa Reinig war berühmt in beiden deutschen Staaten. Sie wurde viel gelesen. Sie erhielt einige Preise, darunter den angesehenen Hörspielpreis der Kriegsblinden. Doch unsere Zeit ist rasch vergeßlich. Wenn die drei, vier, fünf wichtigsten Lyrikerinnen dieser Jahre genannt werden, ist ihr Name nicht mehr dabei. Doch er gehört unbedingt dazu. Sie war damals, als ihre ersten beiden Bücher erschienen, neben Ingeborg Bachmann die wahrhaftigste, die aufregendste, die originärste Dichterin. (Anhand dieser Gedicht-Ausgabe kann man das erneut überprüfen.) Das Einverständnis war ihr sicher, der Applaus. Ich erinnere mich an eine Lesung in Frankfurt, da verlangte das Publikum durch Zuruf am Schluß „Die Ballade vom blutigen Bomme“ (die sie nicht lesen wollte, weil sie ihr allzu raschen Beifall eingebracht hatte, damals). Was daran lag, daß nach Brecht und Kästner niemand diesen lockeren Bänkelsängerton (auch nicht Rühmkorf) getroffen hat, und Reinig so virtuos auch nur in diesem einen langen Gedicht.
Christa Reinig hat danach noch einige großartige Gedichte geschrieben. Aber die Prägnanz, die Kraft, die Radikalität, auch die Originalität von früher hat sie nicht mehr erreicht. Das muß man kritisch sagen. Und das hing nicht mit der Zelle zusammen, die für sie das Leben in der DDR bedeutete. Das wäre eine politische und eine zu einfache Deutung. Es war ihre eigene, ihre biographische Zelle, ihre private Unterdrückung, die Foltern der Kindheit in Krieg und vor allem Nachkrieg. Sie hat uns davon eine Ahnung vermittelt in dem Prosabuch Die himmlische und die irdische Geometrie aus dem Jahre 1975 – das wird von ihr noch einmal genauer und ausführlicher beschrieben werden müssen. Sie hat sich psychisch und künstlerisch davon befreit. Sie muß nicht mehr mit zugeschnürter Kehle schreien. Vielleicht trifft das auf sie zu, was Hans Joachim Schädlich für sich selber in Anspruch nahm, ein Autor, der fünfzehn Jahre später die DDR verließ:

Mir ist es lieber, die Literatur ist weniger interessant und die Verhältnisse besser.

In den besten Gedichten der Reinig – und das macht ihren Beitrag zur Literaturgeschichte aus – ist das Erleben einer ganzen Generation gültig artikuliert, jener vom Nachkrieg Geschlagenen.

Horst Bienek, Vorwort, Februar 1984

Lyrik als Arbeit

Mein bestimmendes Motiv war, aus meinem Leben etwas zu machen, nicht ruhmlos untergehen, nicht mein kostbares Leben vergeuden, indem ich anderen Leuten, und seien es die liebsten Leute der Welt, den Dreck wegräume. Die schnurgerade Idee war, Soldat werden und in den Krieg ziehen, und mein Lieblingsbuch war Im Westen nichts Neues, an zweiter Stelle kam Das Feuer von Henry Barbusse, wobei ich die pazifistische Tendenz der Bücher nicht begriff. Dann kam auch die Möglichkeit, zur See zu gehen, Amerika und die Antarktis entdecken oder etwas ähnliches. Dann gab es eine geheimnisvolle, mythische Beschäftigung, „studieren“.
Ich ging mit einer Energie ohne gleichen an die mir zugänglichen Reclamheftchen und versuchte mich am Faust, am Tasso und an Eichendorff. Die Leseerlebnisse, die ich daraus hatte, die produktiven Mißverständnisse, will ich nicht einzeln aufführen. Manches war geradezu lächerlich, so daß ich allen Ernstes glaubte, Tasso würde mit einem Schiff auf einen Felsen aufgelaufen sein. Dann die Eigenart der Gedichte, daß ich jedes Wort begriff, Bäume und Bach und Berg und Tal, aber den Zusammenhang begriff ich nicht. Schließlich las ich mich ein, und mit jeder Zeile, deren Sinn ich mir erschlossen glaubte, wurde ich stolzer.
Es war ein früher Morgen auf der Landstraße von Altstrelitz nach Fürstensee. Der Gedanke, wenn ich doch auch! lag irgendwie in der Luft, aber wie sollte ich es anfangen? Einfach mit dem, was ist: „Der kühle Morgenwind umweht mir das Gesicht“. Mein erstes Gedicht entstand, und o Wunder! es war sogar gereimt, die „Sonne“, die ihr rotes „Haupt“ emporhob, hatte ich von Liviu Rebreanu entlehnt. In seinem Roman Der Aufstand, erhebt die Sonne ihr blutiges Haupt über die gemetzelten Bauern. Bei mir ist es dann harmloser.
Als der Krieg zuende war, zogen wir nach Berlin und mir gingen die Themen aus. Nichts mehr von kühlem Morgenwind, von Blättern und Bäumen, jede Menge von Trümmern und Schutt und das Problem: Was ist eigentlich ein Sonett?
Ich kam auf die glückliche Idee, mich von der Masse der Jungdichter abzuheben, indem ich keine Traueroden schrieb, sondern Hymnen auf die Sonne, die herrlich und siegreich die zerbrochenen Mauern überstrahlte. Trümmerlandschaft als Ästhetik, damit konnte ich damals nicht landen, und wenn ich die Faust ballte und politisch wurde, dann machte die interalliierte Kontrollkommission nicht mit. Trotzdem zahlte sich meine Härte auf die Dauer aus. Inmitten all der blauen Blumen, denen doch vergönnt sein sollte, in Frieden und Freundschaft zu blühen, war mein Ton nicht zu überhören.
Dann lieh mir eine Kollegin Rilkes Stundenbuch, und, da ich es zurückgeben mußte, schrieb ich es ab, und als ich es abgeschrieben hatte, konnte ich es auswendig. Ich dichtete einfach so weiter, und damit es nicht ausartete, erfand ich eine Gedichtform, die ich „Ringelreime“ nannte, alle Strophen des Gedichts waren auf nur zwei Reime durchgereimt. Ich erfand unermüdlich Neues, zum Beispiel Gedichte, die den Reim auf der Anfangssilbe hatten. Das war eine elende Schinderei, die keine große Wirkung ergab. Und ich hatte es mir zur Aufgabe gestellt, größte Eindrücke mit kleinstem Aufwand zu erzielen. Es gab damals nicht die Möglichkeit, einfach in ein Geschäft zu gehen und Papier zu kaufen. Papier bekam ich, indem meine Mutter von Zeit zu Zeit in eine Kartenstelle ging und unter dem Vorwand, irgendeinen Bezugschein zu beantragen, heimlich das Papier klaute. Ich dichtete auf der Rückseite von Behördenformularen.
Es war die Zeit der Dichtergruppen. Beliebige Leute schlossen sich zusammen aus keinem anderen Grund, als gemeinsam für eine Druckerpresse zu sparen und endlich das zu tun, was Zeitschriften und Verlage nicht gern taten: Deutsche Literatur der Gegenwart zu drucken. Da die Gruppen keine verbindlichen Ideen hatten, war es üblich, daß sie sich gegenseitig unterwanderten, und die eine Gruppe versuchte, als Untergrundbewegung an das Sparschwein einer anderen Gruppe heranzukommen. Ich gehörte der Gruppe der „Zukunftssachlichen Dichter“ an.
Zunächst war es ein Zufall, daß ich bei den „Zukunftssachlichen Dichtern“ angekommen war, aber es zeigte sich, daß mir das Thema lag. Ich konnte eine Menge damit anstellen. Zunächst einmal waren Rilke und Goethe und Eichendorff gestorben. Die Menschheitsdämmerung und die expressionistische Poesie wurden mir aufgetan. Die Anthologie Menschheitsdämmerung wurde geradezu mein Gebetbüchlein. Ich war fanatisch. Science fiction Groschenhefte waren meine Erbauungslektüre und Pauwels Aufbruch ins Dritte Jahrtausend war meine Bibel. Die Legende, daß Brecht mich gekannt, meine Gedichte geschätzt und mich zum Weiterdichten ermuntert habe, ist eine Legende. Zu Brechts Lebzeiten waren von mir zwei oder drei Gedichtchen in Anthologien erschienen. Wenn er sie zufällig unter die Augen bekommen hätte, würden sie ihn weder nach Form noch nach Inhalt beeindruckt haben.
Eines Abends schaltete ich mich in ein TV-Programm ein, es war eine Sendung über Tantrismus und tibetanische Mönche beteten das Om-mani-padme-hum. Die Sendung war zuende, ich legte mich aufs Ohr, um zu schlafen, und das Gebet lief in mir weiter. Es hörte nicht mehr auf zu beten. Ich betete wo ich ging und stand und eines Morgens wachte ich auf, da erinnerte ich mich, daß ich durch meine Träume hindurch weitergebetet hatte. Inzwischen hatte es sich herumgesprochen, daß ich Science fiction dichtete, und es kamen endlich die Aufträge. Aber ich war aus der Sache heraus, sie interessierte mich nicht mehr. Noch ohne daß ich Vernunftgründe dafür hatte, wußte ich, daß es das Dritte Jahrtausend nicht geben würde, jedenfalls nicht so, wie ich es mir erdichtet und erdacht hatte.
Ähnlich heftig verlief mein Übertritt zum Feminismus einfach dadurch, daß ich an einer Bushaltestelle ein Erleuchtungserlebnis bekam. Ich stieg in den Bus ein, und wußte nicht mehr, wohin ich fahren wollte. Meine Erinnerung war abgebrochen, und, um zu wissen, was ich nun überhaupt geworden war, fuhr ich zur Staatsbibliothek und blätterte die Karteikarten unter „Feminismus“ auf. Ich studierte die feministische Literatur und da stand, daß viele Frauen ein ähnliches Erlebnis gehabt hatten, und daß diese Frauen die „Unumkehrbaren“ genannt wurden. Da richtete ich mich auf die Dauer ein und wagte mich öffentlich heraus.
Mein Körper ist mein Instrument, genauso gut wie bei einem Tänzer, nur glücklicher, da Alter und Krankheit und Unfall meinen Beruf nicht wesentlich beeinträchtigen können. Wenn ich dichtend durch die Bude rase und bleibe an einem rostigen Nagel hängen, dann blute ich nicht und merke auch nichts, erst einige Zeit später, wenn ich wieder normal geworden bin, dann denke ich, was hab ich denn da, und dann klafft da offenes Fleisch, und wenn ich dann überlege, was das ist, fängt es an zu bluten. Mein Leben ist mein Thema und die Erinnerung meine Materie. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Dichtern komme ich nicht ohne Literaturgeschichte aus. Da waren andere vor mir, die haben Begriffe und Formen geprägt, die ich übernehmen muß, ob ich will oder nicht. Das Wort „Morgenröte“ steht in der Gegend wie ein Möbelstück, und was sollte ich an seine Stelle tun?
Einmal wurde ich beauftragt, die Gedichte von Marina Zwetajewa aus dem Russischen ins Deutsche zu übersetzen. Ich sagte, das kann ich nicht, mein Russisch war nie gut und jetzt hab ich es vergessen. Du mußt, hieß es, du bist die einzige in Deutschland, die noch Reime machen kann. Ja, das sah ich ein, und da mußte ich halt. Dann hörte das Reimen auch bei mir auf. Es kann doch nicht eine Form einfach aufhören, dachte ich. Aber alles, was ich als Reimgedicht erdachte, entartete zu Scherz und Albernheit und Gute Laune. Bei Clausewitz vermutete ich einen Spruch, der sollte heißen:

Zu einem großen Ziele brauchen wir einen erhabenen Ernst.

Die Leute, die glauben, daß ich aus Leichtherzigkeit leichte Gedichte mache, irren sich, ich muß alles, was ich tue, aus einem ungeheueren Willen tun, und ein starker Wille äußert sich als Wucht, auch wenn es die Wucht einer geschleuderten Quarkschachtel ist. Ich schlage bei Clausewitz nach und sehe, daß ich mich vertan habe. Das Wort, auf das ich es abgesehen habe, heißt in Wirklichkeit:

Ein gewisser schwerer Ernst und eine strenge Dienstordnung können kriegerische Tugenden einer Truppe länger halten, aber sie erzeugen sie nicht.

Der Krieg ist aus. Es war mein Krieg, ich hab ihn vom Zaune gebrochen gegen Grammatik, gegen die Rätselsprüche der großen Vorfahren, die ich auflösen mußte, um an meine eigenen Sprüche heranzukommen, und ein Kampf natürlich auch gegen Verleger und Kritiker. Ich habe als junge Frau gedacht, daß Lyrik eine Äußerungsform der Jugend ist, und daß ich ab Dreißig anfangen muß, episch zu werden, wohlgemerkt, ich glaube nicht an die Dichotomie „Was machen Sie jetzt, Lyrik oder Prosa?“. Da gehe ich jedes Mal in die Luft, Lyrik kann Prosa, Epik kann Poesie sein, und die Lyrik hat vielleicht einmal ein Ende, wenn ich einfach zu objektiv, zu neutral meinen eigenen Problemen gegenüberstehe. Aber die Poesie geht weiter.
So gibt es einen Gedichtband von mir, der eigentlich keine Lyrik ist: Müßiggang ist aller Liebe Anfang. Aber ist es Poesie? Es sind Epigramme, als moderner Mensch nennen wir das „Haikus“. Es ist eine Zwischenform zwischen allen Stühlen zu einem Ausgang hin, der mich in Freiräume führt, die ich noch nicht kenne.

Christa Reinig, Nachwort

 

Übermütige Melancholie

– Die Lyrikerin Christa Reinig. –

„Dieser Text ist verschwunden.“

Vor zwanzig Jahren erhielt Christa Reinig den angesehenen Bremer Literaturpreis. Das war eine mutige Entscheidung der Jury, denn die Preisträgerin, in Ost-Berlin lebend, war damals der Öffentlichkeit in West und Ost nahezu unbekannt. Sie hatte in der DDR kein einziges Buch und viele Jahre überhaupt nichts mehr publiziert, und im Westen waren bis zu ihrem schmalen Bändchen Gedichte (1963) nur in zwei Kleinverlagen Verse und Prosastücke von ihr erschienen: Die Steine von Finisterre (1960) und Der Traum meiner Verkommenheit (1961). Trotzdem war sie schon damals ein Geheimtip der Kenner. Und das aufgrund eines einzigen Gedichts, der „Ballade vom blutigen Bomme“, die Walter Höllerer in seiner Anthologie Transit. Lyrik der Jahrhundertmitte (1956) veröffentlicht hatte:

hochverehrtes publikum
werft uns nicht die bude um
wenn wir albernes berichten
denn die albernsten geschichten
macht der liebe gott persönlich
ich verbleibe ganz gewöhnlich
wenn ich auf den tod von Bomme
meinen Freund zu sprechen komme

möge Ihnen nie geschehn
was Sie hier in bildern sehn

So, im Bänkelsängerton, begann diese Ballade, mit der sich Christa Reinig in die Reihe der besten Moritatensänger seit Wedekind, Klabund und Brecht hineinschrieb. Niemand beherrschte die Kunst der raffinierten Simplizität und der unpathetischen Rhetorik so meisterhaft wie sie. Erst Wolf Biermanns balladeske Lieder brachten etwas Vergleichbares, allerdings auch etwas anderes, weil in ihnen die nachromantische Zerrissenheit eines Heinrich Heine, nicht, wie in Christa Reinigs Versen, die unterkühlte Sachlichkeit eines Erich Kästner nachwirkte.
Die 1963 erschienenen Gedichte bestätigten den Rang dieser Schriftstellerin. Vierzig Gedichte enthielt der Band, darunter Verse, die in großer, eindringlicher Schlichtheit die Situation eines Isolierten, Eingeschlossenen, Ausweglosen entwarfen („ich habe nicht mehr als ein gras zwischen zwei pflastersteinen / nicht mehr zu leben“). Je näher man sich mit diesen Gedichten vertraut machte, desto sichtbarer wurde, daß hier eine Lyrikerin darauf und daran war, sich mit spröder Unnachgiebigkeit um Kopf und Kragen zu schreiben:

Kein wort soll mehr von aufbau sein
kein wort mehr von arbeit und altersrente
hört weg – ihr helden – ich rede allein
für asoziale elemente.

Die „Asozialen“, die Mörder, Dirnen, Piraten, Seiltänzer, Selbstmörder und Henker in diesen Gedichten vertreten eine Gegenwelt abseits der sozialistischen Wirklichkeit; es sind die Nichtintegrierbaren, zu denen sich Christa Reinig bekennt:

ich bin so eingewohnt in mist
und achte nicht mehr auf behausung
wenn goethezweihundertjahrgeburtstagsfeier ist
dann gehe ich gerade zur entlausung.

Und das im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat! Dabei gehörte Christa Reinig zu den Bürgern der DDR, denen die Segnungen der Arbeiter- und Bauernfakultäten mit Vorzug zuteil wurden: Ihnen verdankte sie, die bis dahin nur eine abgebrochene Blumenbinderlehre, eine Ausbildung als Sekretärin und eine Tätigkeit als „Trümmerfrau“ vorzuweisen hatte, die Möglichkeit, das Abitur nachzuholen sowie Kunstgeschichte und christliche Archäologie zu studieren, nach deren Abschluß sie am Märkischen Museum als Kustodin arbeitete. Sie verstand sich als durchaus proletarisch, was für sie die Solidarität mit der Regierung der DDR ausschloß. Sogar zu Brecht, den sie als zu regierungstreu ansah, fand sie nach eigenem Bekenntnis erst spät einen Zugang. Trotz früher Zensurerfahrungen blieb sie in Ost-Berlin, solange es möglich war, den geforderten Kollektivismus mit literarischen und privaten Westkontakten zu sublimieren. Sobald aber die Mauer stand, suchte sie die Lücke, um hindurchzuschlüpfen.

Diese Möglichkeit ergab sich mit dem Gedichtband und dem anschließenden Bremer Literaturpreis. In ihrer Dankrede wiederholte Christa Reinig die Worte, mit denen sie ihren ersten Gedichtband kommentiert hatte: „Zwölf Jahre habe ich gestanden wie mit dem Gesicht zur Wand, wenn ich die Augen schloß, konnte ich sie richtig vor mir sehn. Es schien eine rote Ziegelmauer zu sein. Ich mußte mit unendlicher Geduld mit Feilen und Fingernägeln eine Fuge herauskratzen, dann gibt es einen lockeren Stein, dann breche ich den Stein heraus, und wenn ich einen Stein geschafft habe, dann ist das Loch bald so groß, daß ich hindurchkann.“
Sie kam, blieb und schrieb, aber sie ließ sich nicht vereinnahmen vom Literaturzirkus. Auch im Westen war sie die eigenwillige Außenseiterin und ging, nicht immer zur Freude der Verleger und der Kritiker, ihre eigenen Wege. Typisch dafür ist, daß und wie sie Abschied nahm von ihrem Verlag:

Eines Tages bekam ich ein Manuskript, das schon angenommen war, zurückgestellt, über und über mit Verbesserungsvorschlägen bekritzelt, nein, nicht Vorschlägen! Anweisungen. So wollte man es haben. Die Sache war ein klarer Fall. Da ich das Manuskript nun für was anderes brauchte, mußte ich die Notizen ausradieren. Ich radierte einen ganzen Briefumschlag voll Krümel ab. Ich wollte die Krümel nach Frankfurt schicken. Aber dann dachte ich mir, ich bin kein literarisches Kind mehr. Mit diplomatischen Briefen zog ich meinen Hals aus der Schlinge und trage nun nicht mehr den Titel: Fischerautor. Ich kehrte zurück zu den Eremiten.

Dem kleinen Verlag der Eremiten-Presse ist sie seither treu geblieben: Alle ihre weiteren Bücher sind zuerst dort erschienen, in verhältnismäßig kleinen Auflagen, meist mit Bildern jüngerer Künstler geschmückt, in gemäßigter, gelegentlich auch exklusiver bibliophiler Aufmachung. Es ist nicht ganz ausgeschlossen, daß sich Christa Reinig mit diesem Rückzug zu den Eremiten um einen Teil der möglichen Wirkung gebracht hat, denn sie geriet allmählich wieder in Vergessenheit. Zählte sie 1964 noch zu den 53 Autoren, mit deren Porträts Klaus Nonnenmann die deutsche Literatur der Gegenwart glaubte umreißen zu können, so ist sie in vergleichbaren Sammlungen der siebziger und achtziger Jahre nicht mehr vertreten. „Wenn die drei, vier, fünf wichtigsten Lyrikerinnen dieser Jahre genannt werden“, schreibt Horst Bienek im Vorwort zu den jetzt erschienenen Sämtlichen Gedichten, „ist ihr Name nicht mehr dabei.“ Hat Christa Reinig ihre Bedeutung überlebt?
Ihr Zyklus Müßiggang ist aller Liebe Anfang (1979) gehört zu den originellsten Gedichtbänden der letzten Jahre: Er enthält 365 Kurzgedichte, auf jeden Tag des Jahres eines; Texte, in denen das Glück und die Gewöhnung, die Sensationen und die Sehnsüchte, die Eigenwilligkeiten und das Einerlei einer Liebesbeziehung auf die jeweils kürzeste Formel gebracht werden:

IM TRAUM

haben wir uns gestritten und geküßt
ich wachte auf
und wir haben uns gestritten und geküßt

Es ist eine lesbische Liebe, die sich hier, zärtlich und zornig, selbstbewußt und ordinär, selbst darstellt: Die Erfahrungen mit Vorurteilen und normierten Verhaltensmustern gehen als Feminismus und Männerhaß teils selbstgenügsam, teils aggressiv in diese tagebuchartigen Epigramme ein, die sich allerdings in solcher Thematik so wenig erschöpfen wie irgendeine andere Liebesdichtung. Die autobiographische Form des Diariums bildet das kompositorische Gerüst für ein virtuoses Nebeneinander von Trivialität und melancholischem Ernst. Gerade die Verbindung von übermütiger Artistik und kühler Schnoddrigkeit gibt dem Zyklus einen gelegentlich erschreckend schönen Schein von Authentizität und macht ihn jedenfalls zu einer singulären Erscheinung der modernen Lyrik.
Ähnliches ließe sich von den „Schwabinger Marterln“ sagen, mit denen Christa Reinig die hohe und traditionsreiche Kunst der „Poetischen Grabschrift“ zugleich fortsetzt und souverän erneuert, aber auch von dem „Papantscha Vielerlei“, in dem unter der Maske eines Ideologen allerlei Literaturdummheiten parodistisch entlarvt werden.
Es ist also durchaus nicht nur die literaturgeschichtliche Bedeutung einiger früher Verse, die es rechtfertigt, Christa Reinigs Sämtliche Gedichte zu sammeln und aufzubewahren. Vielmehr lohnt es sich, den Weg dieser Lyrikerin von den Anfängen bis in die jüngste Zeit hinein zu verfolgen. Doch gerade das wird dem Leser dieser Ausgabe schwer gemacht. Denn die Gedichte erscheinen hier ohne Rücksicht auf die Chronologie der Einzelbände; sie sind vielmehr so angeordnet, daß man den Eindruck erhält, als verlaufe die Entwicklung dieser Dichterin folgerichtig und geradewegs wie eine zunehmende Entfernung von ihren Anfängen, als sei an die Stelle der existentiellen Notschreie der frühen Nachkriegszeit mehr und mehr eine übermütige, aber letzten Endes belanglos-unverbindliche Spielerei getreten, als verflüchtige sich das lyrische Werk der Christa Reinig zusehens in höheren Blödsinn.
Dieser Eindruck, der durch und durch falsch ist, denn schon die „Bomme“-Ballade kultiviert die spielerische Artistik, und selbst den spaßigsten Nonsens-Versen fehlt es nicht an ernster Hintergründigkeit –, behindert den Leser, der Christa Reinig als Lyrikerin entdecken oder wiederentdecken möchte.
Hinzu kommt, daß die Sämtlichen Gedichte leider nicht sämtliche Gedichte von Christa Reinig enthalten. Vor allem fehlen die frühen Gedichte, die zuerst in Anthologien (so 1950 in der Dichterbühne) oder in Zeitschriften (im Aufbau oder im Ulenspiegel) erschienen sind. Hier wurde eine Chance leichtfertig vertan und dem Leser an Mühe aufgebürdet, was sich die Editoren ersparten. Daß er trotzdem auf seine Kosten kommen kann, verdankt er der Prägnanz, der Kraft, der Radikalität und der Originalität der Autorin.

Wulf Segebrecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.8.1984

Aus der Idylle vertrieben

Christa Reinig hat ihre frühe Lyrik in der DDR geschrieben. Gegenwehr, Widerspruch, der Kampf ums Überleben sprechen aus zahlreichen Gedichten, die 1960 in der Eremitenpresse unter dem Titel Die Steine von Finisterre erschienen sind. „Der Rächer“, „Der Steinträger“, „Robinson“, „Der Hirte“, „Der Soldat“ – lauter männliche Gestalten – heißen existentielle Rollengedichte. Die strengen, regelmäßig gebauten Strophen sind gereimt (die meisten Autoren in der Bundesrepublik hatten damals schon den Reim aufgegeben).
Das bildnerische und verbale Pathos der Verse läßt ästhetisch expressionistische Entschlossenheit, politisch spätexpressionistische Vergeblichkeit nachklingen. „Die gelbe Blume“ ist eines der härtesten und zärtlichsten Theodizeegedichte.

Als gott auf seinem palast den stab aufhob
den menschen zu schlagen zu seinem bildnis
da sprachs:
mein herz ist eine gelbe blume.

Die Berliner Moritat „vom blutigen Bomme“ machte Christa Reinig mit einem Schlag berühmt. Lakonisch streng spricht aus der Finisterre-Sammlung der gehärtete Sprechton der Frau gegen die Gewalt des Mannes.
Der Übertritt in den Westen veränderte Reinigs poetische Aufmerksamkeit. Ein Villa-Massimo-Stipendium mit Italienaufenthalt ermöglichte neue Bilderfahrungen. Sie gingen in den Band Schwalbe von Olevano (1969) ein. Manche Natur- und Reisegedichte sprechen fast impressionistisch. Dann aber erscheint die andere Gefährdung des Menschen und der Welt. Vom „Baum, der reden lernte“, sagt die Sprecherin:

Daß er ein Baum war,
spürte er nicht.
Sie sägten ihn entzwei:
der Bagger konnte wenden.

Das bereits in den Olevano-Gedichten auftauchende epigrammatische Sprechen setzt sich in den Spruchgedichten auf alle Tage des Jahres fort. Sie sind unter dem zärtlich-ironischen Titel Müßiggang ist aller Liebe Anfang (1979) erstmals erschienen. Zwischen epigrammatisch anspruchsvollen Versen stehen so einfache Kalendersprüche wie dieser:

Ich liebe dich
mein problem
du liebst mich
dein problem

 

(Freitag, 6. Januar).

Die humorig-makabren „Schwabinger Marterln“ und die an Morgenstern und Ringelnatz erinnernden spielerischen Schwabinger Exotismen „Papantscha Vielerlei“ beschließen Sämtliche Gedichte. Der Genius loci der Autorin schlägt in diesen späten Gedichten nonsens-sinnig durch. Der Leser spürt, daß für Christa Reinig in den siebziger Jahren die autobiographische und feministische Prosa wichtiger geworden ist.
Diese Lyrikerin weiß sich seit Geburt aus der Idylle vertrieben, zur Idylle nicht zugelassen (Blumenbinderin, Fabrik- und Bauarbeiterin, später Studium, dann Übersiedlung in den Westen, seit Jahren an einer Wirbelsäulenverkrümmung leidend). Ein Horizont der Versöhnung kommt im ästhetisch-existentiellen Spiel dieser Verse nicht in Sicht. Leider enthalten Sämtliche Gedichte nicht die im S. Fischer Verlag 1963 erschienenen Gedichte (1963) noch die biblische Kantate „Gott schuf die Sonne“, die sie für die von der evangelischen Kirche geförderte Werkwoche Junge Kunst (1961) geschrieben hatte. Kann oder will sich die Autorin heute mit dieser Kantate nicht mehr identifizieren?

Paul Konrad Kurz, Evangelische Kommentare, März 1985

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Arnim Juhre: Lyrik als Arbeit
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 1.7.1984

Anton Krättli: Zugereiste Dichterin
Neue Zürcher Zeitung, 6.7.1984

Jürgen P. Wallmann: Trotz, Trauer, Albernheiten
Badische Zeitung, 21.8.1984

Petra Höhne: Lyrik als Arbeit und Abgesang
Frankfurter Rundschau, 16.2.1985

 

Erkennen, was die Rettung ist

(…)

Gansberg: Es kommt die Gestalt des Mannes als Bruder und Freund oder auch als Kollege bei dir nicht vor. Aber du hast männliche Freunde, und Kant und Buddha sind für dich maßgebende männliche Vorbilder gewesen.

Reinig: Brüder gabs nicht, Göttin sei Dank! Wenn mir ein solcher Bruder vor der Nase gesessen hätte, der hätte mir ganz schön den Fahrtwind weggenommen.

Gansberg: Und der Freund?

Reinig: Freunde habe ich jede Menge. Aber da ich keine Naturalistin bin und keinen sozialistischen Realismus schreibe, kommen sie in meiner Literatur nicht vor.

Gansberg: Ja, es interessiert dich nicht.

Reinig: Ungerechterweise. Schauen wir uns mal Christa Reinigs Gesammelte Werke an. Da stehen doch einige beachtliche Männer drin rum. Der „Henker“, der „alte Pirat“, „Robinson“, „Bomme“. Worüber beklagen sich die Sohnesmütter?

Gansberg: Dann gibts den Otto Kyra.

Reinig: Ja, den gibts, und der ist historisch. Und in Wirklichkeit war er fies. Den hab’ ich zurechtstilisiert. Ich glaube, aus dem habe ich einen schönen Mann gemacht, jedenfalls besser als die Wirklichkeit.

Gansberg: Es gab ein wirkliches Vorbild für diese Figur?

Reinig: Ich weiß nicht, ob er noch am Leben ist. Jedenfalls hatte ich ihn gut studiert und bekam, noch ehe es das Wort gab, einen „Softi“ heraus. Wenn du willst, kannst du wieder sagen, daß ich einem Otto dankesschuldig bin. Otto, ich danke dir, daß ich dich studieren durfte. Und du, Otto, bedankst dich bei mir, daß ich dich so schön hingekriegt habe. 

Gansberg: Zum einen geht der Kampf gegen den „Mörder-Mann“, und zum anderen geht deine satirische Attacke gegen den Chauvinismus der Frauen. In deiner Formulierung „die Mannsfrauen“. Warum haben sie dich so geärgert, daß du sie satirisch so bloßgestellt hast?

Reinig: Heute kann ich das meinen weiblichen Selbsthaß nennen. Aber in meiner Lebensgeschichte hatte ich viel Grund, mich über Frauen zu ärgern. Sieh mal, wenn eine Heterofrau nachts einsam und allein durch die Straßen geht, und sie ist nicht ganz blöd, dann nimmt sie sich keinen männlichen Beschützer, sondern sie ärmelt sich bei einer Lesbe ein. Ich muß sie an ihrer Haustür abliefern. Aber das „Dankeschön!“ bekomme ich nicht, darauf habe ich als Frau keinen Anspruch. Ich bin der Quasi-Mann auf Abruf. Dann gibt es die weibliche Hierarchie, die Gesellschaftspyramide, die ist so: Die oberste aller Frauen ist die Sohnesmutter, auch wenn sie unverheiratet ist, Sohn ist Trumpf, der alle Trümpfe sticht. Also erstens: die verheiratete Sohnesmutter, zweitens: die unverheiratete Sohnesmutter. An dritter Stelle kommt die verheiratete Frau, die nur Töchter geboren hat. An vierter Stelle die kinderlose verheiratete Frau. An fünfter Stelle die unverheirateten Frauen, die aber noch auf dem Sklavenmarkt ausgestellt werden können, die Witwe oder Geschiedene zur Wiederverheiratung, das Mädchen für den Bräutigam oder den Freund. An sechster Stelle kommt die Kurtisane, da findest du die Prostituierte und die unverheiratete Lebensgefährtin in ein und demselben Kästchen. An siebenter Stelle kommen die Nonnen, die sind nicht die letztuntersten, denn sie sind mit Jesus verlobt und unterstehen einem Beichtvater, sind also auch nicht Frauen ohne Mann. An achter Stelle kommt die Alte Jungfer, beachte dies, die ist nicht die letztunterste, sondern die vorletztunterste, denn die strickt dem Sohnemann ihrer Nichte einen Pullover. Und an letztunterster Stelle steht die Lesbe, die Frau, die ihren weiblichen Beruf verfehlt hat, weil sie vom Manne nicht genutzt werden kann. Die absolut unnütze Frau. Und diese Rangordnung machen nicht die Männer, die Männer schauen zu und lachen sich einen Ast. Nein, diese Rangordnung machen die Frauen unter sich aus. Und anschließend stelle ich an mir fest, daß der Ingrimm, der sich in mir gesammelt hat, mehr gegen Frauen als gegen Männer geht. Damit würde ich normalerweise gar nicht umgehen können. Der Frauenbewegung verdanke ich, daß ich damit überhaupt umgehen kann. Und alle Frauen, die Opfer dieser Rangordnung sind, haben einen Grund, sich bei der Frauenbewegung zu bedanken, daß wir dieses Problem des „weiblichen Selbsthasses“ überhaupt behandeln können.

Gansberg: Ja, das sind die gesellschaftlichen Zustände. Diese Frauen gibts. Auch ich leide unter dem Chauvinismus der Frauen mehr als unter dem Chauvinismus der Männer.

Reinig: Im Augenblick ist das ein ungelöstes Problem. Es steht im Frauenkampf verquer.

Gansberg: Wir müssen damit zurande kommen.

Reinig: Ich frage mich, wie? Ich kann doch nicht sagen, ich finde uns Frauen schön, wenn da soviel zum Kotzen ist?

Gansberg: Du sagtest schon das Stichwort „Sohnesmütter“. Ich zitiere einen Spruch aus Müßiggang vom 12.2.: Schmeiß / deinen achtjährigen Sohn / vom Balkon / und du bist gerettet.

Reinig: Das ist eine Replik auf einen Leserinnenbrief, der mal in der Courage erschien. Wohlgemerkt, eine Feministin schreibt: „Wenn ich die Wahl hätte, der Frauenbewegung zum Sieg zu verhelfen oder meinen achtjährigen Sohn vom Balkon zu schmeißen, dann würde ich natürlich meinen Sohn nicht vom Balkon schmeißen.“ Daraufhin bekam ich wieder mal meinen Tobsuchtsanfall in Frauenangelegenheiten, weil doch klar und offenbar ist, das der friedlichste Vater seinen allerliebsten Sohn sofort vom Balkon werfen würde, wenn er damit erreichen könnte, zum Bürgermeister von Kleinkleckersdorf gewählt zu werden. Ein anderes Beispiel von weiblicher Opferunwilligkeit aus Betty Friedans Memoiren: Sie schildert die Ereignisse auf dem Frauenkongreß 1975 in Mexico-City. Betty ist die weibliche Identitätsfigur. Wenn irgendeine Frau es erreichen könnte, eine globalfeministische Revolution auszulösen, dann sie, und in Mexico-City sind die Frauen aller Länder und aller Parteien versammelt. Das ist nicht allein Bettys Chance. Es ist die Chance der feministischen Revolution. Betty Friedan wird dort vom Generalstaatsanwalt verhört und fühlt sich bedroht. Sie schreibt: „Die Frauenbewegung ist wichtig, doch sterben möchte ich nicht dafür.“ Betty Friedan löst die feministische Revolution aus und will dann aber nicht ihr Leben opfern? Als ich das las, brach bei mir innen drin etwas durch. Da fürchtete ich, fing ich an zu befürchten, daß wir Frauen gegen die Männer wieder mal den Kürzeren ziehen würden. Siehst du nicht, für was alles die Männer ihr Leben opfern? Ein Mann opfert sein Leben, damit Schalke 04 ein Tor schießt! So ist das. Heute bin ich nicht mehr so kraß. Heute darf die Sohnesmutter ihren Sohn behalten. Ich schenke ihn ihr. Aber das ist meine Resignation.

Gansberg: Wenn ich nicht Literaturhistorikerin wäre und nicht wüßte, was die Satire darf, würde ich sagen, dieser Spruch ist politisch unerträglich. Wenn ich ihn zu Ende denke, ist es fast ein Aufruf zum Progrom.

Reinig: Literatur ist ein Zoo mit Tigern hinter Gitter. Du liest es und weißt, der Tiger beißt nicht. Und das ist auch die Verantwortungslosigkeit des Autors. Ich weiß, es wird nicht so heiß gegessen, wie ich es gekocht habe. Das Thema hatten wir schon: Recht der freien Meinungsäußerung. Wenn die Mächtigen uns dieses Recht lassen, dann haben sie ihre Gründe.

Gansberg: Ich denke, es ist eine Befreiungsphantasie, literarischer Art, künstlerische Freiheit.

Reinig: Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller hat es eingeholt. Es gibt in der Literatur merkwürdige Anekdoten, daß der Autor etwas phantasiert, was dann plötzlich Realität ist.

Gansberg: Wir haben von chauvinistischen Frauen gesprochen. Gibt es für dich auch das Gegenteil, Manifestation von Frauensolidarität? Die Tatsache, daß die Frau der Frau eine Helferin ist?

Reinig: Eigentlich wollte ich mir die Geschichte ja aufheben. Aber weil ich so kraß war, muß ich die andere Seite auch bringen. Eine meiner Heiligtümer. Also es ist in mir ganz hell. Ein immerwährender Sonnenschein, das schönste Wetter, das Deutschland je im Frühling hatte. Das ist der April 1945. Ich bin heimatlos, vogelfrei auf der Landstraße zwischen Alt- und Neustrelitz. Rundherum Waffen-SS. Bereit, alles über den Haufen zu schießen. Ein Dauerton, den du gar nicht mehr hörst, das Näher- und Näherkommen der Front. Kanonendonner. Dazwischen vereinzelte Schüsse: Die SS hat wieder mal einen renitenten Ausländer übern Haufen geschossen. Die Frauen von Neustrelitz haben sich vor der Kommandantur versammelt und fordern, der SS-General soll mit seinen Truppen kampflos abziehen. Dreimal darfst du raten, was er antwortete: Gehen Sie nach Hause, sonst lasse ich sie alle erschießen. Und jetzt ist die Frau in der großen Wohnung allein mit zwei kleinen Kindern. Sie ist ganz durcheinander. Soeben fast von der SS erschossen. Alsbald die Russen mit dem ihnen vorangehenden Ruf, dazu der heranrollende Kanonendonner. Sie macht die Wohnung auf und lädt uns ein. In dieser Zeit nur nicht allein sein. Es ziehen ein vier Fräuleins: Fräulein Reinig, die jüngste mit achtzehn Jahren, Fräulein Senf, die Älteste, über siebzig, Fräulein Beck mit einem kranken alten Vater, der eins der wenigen Betten bekommt und weiter keine Rolle spielt. Zum Glück, denn Männer waren in dieser Zeit das Schlimmste. Deutsche Männer, die zu den Russen gehen und sagen: Ich weiß wo Frau, wenn du geben Fleischkonserve. Männer, die Frauen den Rat geben, sich doch langzulegen, ist doch nichts dabei. Nun! Also, Göttin sei Dank! Kein zählbarer Mann in unserer Mitte. Ich habe Fräulein Senf in dem Erzählband Orion und Fräulein Beck in dem Erzählband Die ewige Schule ein Denkmal gesetzt. Dann, als vierte, Fräulein Markmann, ein heiligmäßiger Mensch, die kommt in meinen Werken nicht vor, vielleicht bin ich nicht heilig genug. Zwei Mütter gabs, meine Mutter und die Mutter von Fräulein Markmann. Aber nun das Verrückte. Der Zufall dieser vier Fräulein zwischen achtzehn und siebzig, genau das, was aus der Gesellschaft als das letztunterste herausfällt, die absolute weibliche Minderwertigkeit, und es war das Höchste, es war die tagtägliche allgemeine Lebensrettung und in bester Laune. Wir haben viel gelacht, viel gesungen, einander viele Geschichten erzählt. Und wir hatten viel Zeit. Denn auf den vermeintlichen Tod warten ist auf die Dauer langweilig, und wenn du nichts zu essen hast, sparst du auch Zeit. Also diese Fräulein-Gesellschaft, diese Versammlung Alter Jungfern, das gibts in meiner Lebenserfahrung. Aber das gibts nicht in meiner Literatur. Ich hab’ die Namen der einzelnen Fräuleins in liebendem Gedenken hier oder da in meine Werke eingestreut, gebraucht, vielleicht auch mißbraucht. Aber bisher hat meine Kunst nicht ausgereicht, diese beste Erfahrung mit Frauen, die ich im Leben hatte, zu vermitteln. Dann gabs auf der Arbeiter-und-Bauernfakultät, ja in der Kommunistenszene wunderbare, starke Frauen. Aber sie waren genötigt, Männerpolitik zu machen, auch wenn das damals noch nicht durchschaubar war. Kommunistische Frauen sind ebensowenig autonom wie Nonnen.

Gansberg: Diese „Fräulein-Gesellschaft“ hättest du gern geschildert, vielleicht gibt das noch eine Geschichte?

Reinig: Es ist auch eine Sache der eigenen Veränderungen. Seit diesem Unfall brüllen mich alle Männer auf der Straße an: „Kopf hoch!“ Zehnjährige Bengels brüllen mich an, Gastarbeiter, bei denen ich staune, daß sie die Vokabel „Kopf hoch!“ überhaupt kennen. Mich hat noch nie eine Frau mit „Kopf hoch“ angebrüllt. Nie! Frauen bleiben stehen und fragen: Kann ich Ihnen helfen? Manchmal tun sie es aus Neugier, sie wollen meine Geschichte hören. Wenn ich lange genug nachdenke, kommen die positiven Geschichten über die Frauen. Aber obenauf liegt der Schutt dessen, was Frauen einander antun. 

Gansberg: Durch die Frauenbewegung hast du neue Frauen kennengelernt – und wahrscheinlich neue Formen von Solidarität?

Reinig: Die ich noch gar nicht gewürdigt habe, denn sie ist politisch, und von der Politik zur Literatur führt kein gerader Weg. Die letzten zehn Jahre meines Lebens, eben die feministischen Jahre, gibt es in meiner Literatur noch gar nicht. Auch in meinen feministischen Büchern habe ich eher die vorfeministischen Erfahrungen verbraten. Das wars ja, was ich endlich konnte. Aber den Feminismus selbst als gesellschaftliches Phänomen – ich kann ihn leben, aber ich kann ihn noch gar nicht darstellen. 

Gansberg: Ich möchte noch einige Fragen zu deinem Buch Der Wolf und die Witwen stellen. Du hast dich mit einigen Wissenschaften sehr genau beschäftigt. Mit der biologischen Anthropologie, der Genetik. Wie kommst du zu deinen Thesen, daß es Neandertaler gibt, von denen die Männer abstammen, und Cromagon-Menschen, von denen die Frauen abstammen, und die einen sind die Wirtstiere und die anderen die Parasiten?

Reinig: Eines meiner ältesten Hobbys ist die Völkerkunde. Ich erinnere mich, daß ich als Verlagslehrling die Karteikarten meines Betriebes zweckentfremdete, um mir eine Völkerkundekartei anzulegen. Dann wollte ich aber auch literarisch gebildet werden, ich war doch die, die immer die Weihnachts- und Geburtstagsgedichte für die Betriebsfeiern anfertigte. Literatur, das ist Goethe. Ich lieh mir Goethes Gedichte aus der Betriebsbibliothek aus. Und war ratlos. Ich konnte zwar die Vokabeln verstehen, aber nicht ihren Sinn. Ich machs dir an einem Beispiel vor: „Füllest wieder Busch und Tal still mit Nebelglanz.“ So, da ist eine Information, die beginnt mit einem Quasiimperativ „Füllest!“ Naja, ich glaub’, ich weiß, was gemeint ist. Dann: „Wieder“, da ist also ein mehrmaliges Geschehen, aber das erste wird mir nicht mitgeteilt, sondern die Wiederholung, dann „Busch und Tal“. Was ist das für ein Schnitt? Entweder Busch und Baum oder Berg und Tal. Dann: „Still!“ Eine akustische Aussage. „Mit Nebelglanz“, eine optische Aussage. Und dann das Wort: „Nebelglanz!“ Ich war einfach verzweifelt. Ich drehte das Buch um und las das Nachwort. Goethe ist dann und dann, da und da geboren. Das wußte ich. Dann seine Lebensgeschichte und dann die hochbrisante Bemerkung: Goethe war nicht nur ein Dichter, er war auch Naturwissenschaftler und hat den Intermaxillarknochen beim Menschen entdeckt. Und an dieser Stelle erwachte ich und dachte (und ich war nicht älter als sechzehn, als ich das dachte): „Wenn das so ist, wenn beim Menschen der Zwischenkieferknochen so fest verwachsen ist, daß du ihn gar nicht mehr erkennen kannst, daß erst ein Goethe kommen muß und ihn finden! Dann ist doch der Mensch das älteste aller Säugetiere, und der Affe stammt vom Menschen ab.“ Das dachte ich, und wenn du auf der Spur bist, dann versammeln sich die Informationen. In Kürze hatte ich heraus, daß dies an der Sorbonne gelehrt wird, jedenfalls gehörte ich der Sekte der Anthropologen an, die daran glaubten, daß der Mensch eins der ältesten Säuger ist und an der Wurzel der Primatenentwicklung steht. Heute interessiert mich der Aspekt nicht mehr. Mir ists egal, ob der Mensch vom Affen oder der Affe vom Menschen abstammt. Dann war ich von selbst und ohne Beeinflussung auf die Idee gekommen, daß der Mensch eine Meeressäugetierphase absolviert hat. Das gibts auch als feministische Theorie. Elaine Morgan: „Der Mythos vom schwachen Geschlecht.“ Und ich habe die Eigenheit, wenn ein anderer oder eine andere sich für eine Theorie stark macht, daß ich denke: Dafür brauche ich nicht mehr zu kämpfen. Ursprünglich hab’ ich mich auch für den Neandertaler stark gemacht. Ich sagte: Das kanns doch nicht geben, daß eine Menschform über die ganze Erde verbreitet ist und alle Eigenschaften hat, die wir überhaupt als menschlich bezeichnen – und stirbt einfach aus! Nein, der Neandertaler kann gar nicht ausgestorben sein. Gegen die Aussterbetheorie vermutete ich, daß der Neandertaler in eine moderne Menschform eingekreuzt ist. Das war sowieso mein Ausgangspunkt. Heute steht das in jedem Lexikon. Ich kanns also vergessen, ich brauche das nicht durchzukämpfen. Aber das Rätsel: Wohin ist der Neandertaler verschwunden? Einmal fragten mich die Eremiten, wohin ich gern reisen wollte? Vielleicht nach Bacharach oder in den Taunus? Ich sagte: Ich will ins Neandertal. Sie staunten und sagten: Aber Knochen sind da nicht mehr. Ich sagte: Ja, die sind in München. Aber ich will einmal mit meinen Füßen auf der Erde gestanden haben, genau da, wo der Neandertaler wiederauferstanden ist. Später fragte ich mich, warum eigentlich die Eremiten so geduldig meine Geschichten abgedruckt haben. Sie hätten sich doch wehren müssen? Dann fiel mir ein, sie mußten ja mit mir die Pilgerfahrt ins Neandertal machen. Jetzt kommt der Knall. Ich schlage ein Buch über prähistorische Schädelformen auf, die Funde von Predmost in der ČSSR. Ich habe sie dutzendmal gesehen. Ich gucke einfach gewohnheitsmäßig drüberweg und lese die üblichen Unterschriften: Männlicher Schädel, weiblicher Schädel – und denke: Da ist er! Das, was als Unterschrift mit männlichem Schädel bezeichnet ist, das ist genau die Entwicklung aus dem Neandertaler, und der sogenannte „weibliche Schädel“ ist der Original-Cromagon ohne neandertaloiden Einschlag. Heureka! Er ist gefunden. – Nun, als Berufsanthropologin hätte ich damit nichts anfangen können. Mein Professor hätte seine neandertaloide Schädelform geschüttelt und mich davongejagt. Aber durch die Frauenbewegung und mit dem Recht des Dichters, der Dichterin, konnte ich damit heraus. Ich habe einige Zeit erwogen, biologische Anthropologie zu studieren, das war um 1952, da hätte ich das anmelden können. Aber es gab da eine Sache, mit der ich nichts zu tun hatte, einen Streit um die Embryonalententwicklung der Menschenaffen. Damals habe ich gespottete „Frauen sind billig, Affen sind teuer, daher kennen wir die Embryonalentwicklung des Menschen, aber nicht des Affen.“ Heute ist mir der Spott vergangen. Ich kann überhaupt nicht mehr begreifen, mit welcher Leichtfertigkeit ich darüber hinwegging, woher die Mediziner, die Biologen ihre Kenntnisse holen. Aber der Streit darum hatte mich belehrt: Die objektive Wissenschaft gibt es nicht. Es gibt nur das Professorengereiße, und da dachte ich: Für diesen Betrug mache ich nicht mein großes Physikum. Ach, leckt mich doch alle! Was mach’ ich nun mit meinem so schwer errungenen Abitur? Ich werde Kunsthistorikerin und guck’ mir bunte Bildchen an. So wurde ich berufsmäßige Kunsthistorikerin und dachte: Warum sitz’ ich hier und kann den Rembrandt nicht vom Rubens unterscheiden, warum geh’ ich nicht nach Leipzig, da sitzt die Eva Lips, bei der möchte ich Völkerkunde studieren. Ich hätte noch von der Kunstgeschichte auf die Völkerkunde umsteigen können, aber dann hätte ich meinen Absprung von der DDR in die Bundesrepublik nicht geschafft, und meine literarische Karriere wäre im Eimer gewesen. So fiel für mich die Entscheidung, und so wurde aus meiner Theorie eine satirische Geschichte.

Gansberg: Noch eine Frage zur Utopie: „Das Land ohne Männer.“ Zitat in Müßiggang: „Schlafende Riesin / sie träumt / ein Land / ohne Männer“. Ist das nur ein literarischer Befreiungsentwurf, oder steht dahinter auch die Hoffnung, daß solche politischen Zustände, solche gesellschaftlichen Zustände einmal eintreten könnten?

Reinig: Als ich das schrieb, meinte ich es wörtlich. Ich dachte: Vor hundert Jahren gabs Pfandleihen, davor hing ein Schild „Israel & Co.“. Und heute gibts einen Staat Israel. Vor hundert Jahren gabs eine Kneipe, die hieß „Zum fröhlichen Nigger“, und heute gibt es einen Staat Nigeria. Vor hundert Jahren gabs ein Bordell, das hieß „Femina“, warum, zur Teufelin, soll es uns dann nicht gelingen, einen Staat namens Femina, ein Frauenland zu schaffen? Ich habe jedes Scheitern eines Frauenprojekts, jede Abgabe von Frauenraum als einen körperlichen Schmerz empfunden, als eine gescheiterte Hoffnung. Heute habe ich gelernt, damit umzugehen. Heute bin ich nicht mehr Aggressorin, sondern Verteidigerin. Ich sehe so vieles zugrunde gehen, was menschliche Hoffnung in den letzten hundert Jahren geschaffen hat. Ich sehe ein solches Zusammenbrechen von progressiven Projekten, daß es vielleicht auch gut ist, den Problemfall eines Frauenstaates, der sich womöglich mit Schußwaffen gegen Männermacht verteidigen muß, nicht zu haben.

Gansberg: Wie siehst du die gegenwärtige Situation, siehst du eine Hoffnung für die Zukunft? Wir haben, verglichen mit 1975, Rückschläge in nahezu allen Bereichen. Wie beurteilst du die Lage der Frauenbewegung?

Reinig: Wenn es mich nicht gäbe, sähe ich sie einseitig positiv. Aus dem, was ich geträumt habe, ist nichts geworden. Aber ist das ein Nachteil? Das Leben hat immer recht, auch wenn es über mich hinweggeht. Die Entwicklung der Frauenbewegung ist über mich hinweggegangen. Aber ist das ein Grund zum Tränenvergießen? Es ist vielleicht nicht einmal die Enttäuschung wert, die ich darüber empfunden habe. Ich wollte die große globalfeministische Revolution. Sie fand nicht statt. Aber ich sehe vieles auf dem Gebiet des Frauenkampfes, das mir gefällt. Alle revolutionären Bestrebungen sind ins Stocken geraten. Wir sind in einer allgemein reaktionären Phase. Aber das ist kein Grund zum Traurigsein.

Gansberg: Hat das Konsequenzen für deine Produktion?

Reinig: Ja, ich könnte das, was ich literarisch so vor mich hertreibe, geradezu als biedermeierlich bezeichnen. Ich war bereit, für den Feminismus den Kopf hinzuhalten. Niemand hat diesen Kopf gewollt, nun, dann habe ich einen Grund bekommen, es mir behaglich zu machen. Wer weiß, was mir noch abverlangt wird. Da sitze ich in meinem Schaukelstuhl. Ich fühlte mich so groß, jetzt bin ich kleinkariert. Der lange Weg durch die Institutionen, über den ich hohngelacht habe, nun müssen auch die Frauen diesen langen Weg gehen und mit sehr kleinen Schritten.

Gansberg: Ja, wir gehen weiter durch die Institutionen.

Reinig: Was sind die großen Hoffnungen wert? Wichtig ist, daß es im kleinsten weitergeht.

Aus: Erkennnen, was die Rettung ist. Christa Reinig im Gespräch mit Marie-Luise Gansberg und Mechthild Beerlage, Verlag Frauenoffensive, 1986

 

 

EIN BESUCH UNGEFÄHR 1957

Die Milastraße
ist eine Querstraße der Schönhauser Allee. Die Schön-
hauser Allee befindet sich im Berliner Bezirk Prenzlauer
Berg. Eines
Tags so gegen abends

gehen Johannes Bobrowski und sein nicht minder
dickes Brüderchen in eine Kneipe, machen sich dort
verständlich, zwei bis drei Flaschen Wodka zu erwer-
ben. Na, da gabs

keinen Einwand. Hinauf nun

in den Hinterhof Milastraße 7: geklingelt, geklopft bei
Christa. Erst kommt eine Katze viermal größer als vier
ausgewachsene Katzen zusammen, dann sagt Christa:

herein! und

schon sitzen wir drinnen. Über was wir gelacht haben,
weiß ich nicht mehr. Einmal vielleicht ziemlich motiv-
los über das Wort Jannowitzbrücke, vielleicht war das
ein Gruß an Herrn Brehm, der vom Nashorn berich-
tet, es reiße manchmal motivlos fünf Meter Erdbodens
auf. Christa

trank uns Kerle unter den Teppich. Vom Märkischen
Museum hat sie erzählt, bis wir gehen

schweben

mußten zum S-Bahnhof Schönhauser Allee. Wo wolln’se
denn hin? fragt der Mann an der Sperre. Wir sagten:
Wir möchten weit weg! Gemeint war der S-Bahnhof
Berlin-Friedrichshagen, von dort aus

flog Johannes nach Hause,

ich sitze, liege, sitze im Abteil, küsse das Märkische Mu-
seum, plötzlich rüttelt ein Uniformierter in Griebnitz-
see

an meinen Schultern herum, sagt: Wo komm’se denn
her? Sind ja quer durch Berlin jejondelt! Ham’se nich
bemerkt, dasse schwer besäuselt sind? Also, wo komm’
se her? Ich komme, sage ich ihm, ich komme, lieber

Grenzpolizist, ich komme

von Christa. Das ist eine Frau, die Gedichte schreibt
und Geschichten. Verstehe, sagt der Griebnitzseepo-
lizist, die Gute

hat wohl nichts andres zu tun!

Günter Bruno Fuchs

 

SELTSAME MAHNUNG
Für Christa, die das versteht –
nach 25 Jahren Gemeinsamkeit

Falls noch jemand zweifelt, wo sich der Türmer der weithin sichtbaren Festung befindet, so folge er nur den Rufen, die in der Nacht, wenn der letzte Kerkerknecht in Schlaf gesunken ist, aus jener Richtung dringen, in die hierzulande alle Straßen führen. Diese Nacht wird sein wie immer: Paarung, die Totgeburt einer Frau, die Betäubung der Feste, denn manche werden vergessen wollen – aber der Türmer! Seine Stimme klingt aus der Zisterne des Burghofs herauf: sie tönt wie ein Nebelhorn. Als er sich noch Lynkeus nannte, wußte er noch von Brand und Rauchfahnen, wenn die Greise in ihrer Behausung von zusammenstürzenden Mauern erschlagen wurden. Von Mond zu Mond seine Wiese – jetzt würfeln die Knechte um seinen Kopf, aber wie schnell auch der Turm zur Zisterne wird: es bleibt die scheinbar vergebliche Auflehnung eines Schreis aus der Tiefe, der Geruch nach verbrannten Einsiedlern, das Emporsteigen des Propheten, es bleibt: Jochanaan.

Martin Gregor-Dellin

 

CHRISTA REINIG

Das ich nicht esse

was man dir nicht gibt
wo es den anderen gibt
wenn es das eine gibt
was sich das andere gibt
das es nimmer gibt
wenn es zu essen gibt
und gibt und gibt und gibt
selbst wenn es es nicht immer gibt

das habe ich an dir geliebt

Peter Wawerzinek

 

Dieter Hülsmanns: Eine zugereiste Dichterin
DU, Heft 11, November 1968

Lothar Köhn: Zeit der Weiblichkeit?
Lothar Jordan, Axel Marquard, Winfried Woesler (Hrsg.): Lyrik – Erlebnis und Kritik, 1988

Anne Hahn: Mein kleiner Buchladen: „Vergessene Bücher“ – Die Frau im Brunnen
piqd.de, 22.11.2017

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Elisabeth Endres: Papier ist ungeduldig
Süddeutsche Zeitung, 6.8.1996

Irene Ferchl: Dreimal raten
Stuttgarter Zeitung, 6.8.1996

Wulf Segebrecht: Für die Stromer und wüsten Matrosen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.1996

Wolfgang Platzeck: Entmannung
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 7.8.1996

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Wolfgang Platzeck: Gegen das positive Denken
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 4.8.2001

Helmut Böttiger: Sachlich in die Zukunft
Der Tagesspiegel, Berlin, 6.8.2001

Peter Mohr: Der Mut zu Ausbrüchen, Aufbrüchen und Abbrüchen
General-Anzeiger, Bonn, 6.8.2001

Zum 80. Geburtstag der Autorin:

Ulla Hahn: „Wenn mir beim Schreiben die Luft wegbleibt…“
die horen, Heft 224, 4. Quartal 2006

Peter Mohr: Papier ist ungeduldig
titelmagazin.com, 6.8.2006

Ijoma Mangold: Wucht und Weisheit
Süddeutsche Zeitung, 5./6.8.2006

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + InstagramKLGDDFArchivInternet Archive + IZAKalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde OhlbaumBrigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Christa Reinig: Badische Zeitung Der Spiegel ✝ Der TagesspiegelFAZFRliteraturkritikpoetenladen

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Ort der Nester: roter Stern im Osten. – Erntesorte. – Erst der Toast auf Orest!

Michel Leiris ・Felix Philipp Ingold

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