Die für mich plausibelste Gotteserklärung ist Zimzum – Gott zieht sich zusammen, Gott zieht sich zurück, Gott macht sich zu nichts, damit wir, die nicht Gott sind, alle Möglichkeiten haben, also die Freiheit wie das Leid. – Habe in diesen Tagen Sherwood Anderson, Botho Strauß, Vladimir Nabokov, Andrea Zanzotto wiedergelesen – Autoren, die mich seit jeher und weiterhin zu eigenem Schreiben befreien; komme nun zu William Carlos Williams, ›Paterson‹, und habe plötzlich die Idee … sehe plötzlich die Möglichkeit, den geplanten Lyrikband ›Niemals keine Nachtmusik‹ als ein Gedicht anzulegen … durchzogen, versetzt mit Prosa und Trivia diverser Art – Tagebuchnotaten, Mails, Zeitungsmeldungen, Werkentwürfen, Exzerpten aus früheren Büchern usf. Poetische Sprache und Alltagsrede, hohe Themen und Tratschfragmente kämen somit unmittelbar nebeneinander zu stehen, ohne sich in einem harmonisierenden Dreckeffekt zu verbinden; vielmehr würden gehaltliche und formale Differenzen unversöhnt herausgestellt: Kollision statt Synthese. Denn auch beim Lesen setzen Kollisionen Energie frei, Synthesen binden und verschlingen sie. Meine äußerst produktive und befreiende Lektüreerfahrung mit ›Paterson‹ ist umso bemerkenswerter, als ich in diesem angeblich »größten amerikanischen Gedicht überhaupt« bei näherem Hinsehen keineswegs ein Meisterwerk erkennen kann. Eigentlich ist es ein wüstes Schrottgedicht, nichtssagend und anmaßend zugleich, aber wohl gerade dadurch so ungemein anregend: Mit einer poetischen Dreistigkeit ohnegleichen wird hier jeder Anschein von Können oder gar Genialität zunichte gemacht durch eine fahrige Schreibgeste, die ihre Energie eher aus einem grafomanischen Furor bezieht als aus künstlerischer Ambition. Als Großgedicht steht ›Paterson‹ andern Dichtungen dieses Formats (Majakowskij, Auden, Eliot, Eluard, Zwetajewa usf.) fast schon polemisch entgegen, und eben darin liegt bis heute seine Bedeutung und Wirkungsmacht. – ›Alias‹ ist da, und dass sich beim ersten Aufschlagen des Buchs gleich schon der erste Druckfehler offenbart, gehört zur Normalität dieses Akts. Womöglich ist ja der Roman als solcher nichts anderes als ein über zwei-, dreihundert Seiten sich erstreckender Druckfehler? Doch auch Druckfehler vermögen hin und wieder Sinn zu produzieren! – Endlich mal wieder, heute Nacht, ein Traum, der für mich ohne Verfolgung und Verlust abging; der einzige Verlust ist der Traum selbst – ich habe ihn vergessen. – Der langfädige feuchte Herbst dauert fort in den Büschen und Hecken; die abgeernteten Weinberge in der näheren Umgebung sehen aus wie hingekrakelt – fremdartige, unentzifferbare Buchstabenreihen, die sich an den Südhängen zu schwarzen Strophen fügen. – Ich bin Gast auf einer großen Party in abgelegener Gegend, veranstaltet von Hans Jürgen Heinrichs in einem baufälligen schlossähnlichen Hotel »Du sollst an dem Abend unser Cocteau sein«, sagt Heinrichs halb herrisch halb ironisch. Ich trage zum ersten Mal den weißen Anzug, den mir Krys aus dem Nachlass von Heiner Hesse in München besorgt hat. Bin gern einverstanden mit der Rolle, die ja nur meine Präsenz als Wiedergänger vorsieht und mit keiner weiteren Verpflichtung oder Verantwortung verbunden ist. Zur Party treffen ausschließlich ältere Leute ein, lauter Bekannte, Patienten und Mitarbeiter des Gastgebers – ich komme mir vor wie auf einem Seniorentreffen. Mehrere graue Singlefrauen sitzen tuschelnd in kleinen Gruppen beisammen, sie blicken oder zeigen angestrengt an mir vorbei, halten mich offenbar für einen Kellner oder gar den Maître de service, obwohl mein Anzug nun schon ziemlich abgetragen und fast durchsichtig geworden ist. – Was ansteckender ist und mehr zur Seuche tendiert – die Klinik? Die Kritik? Egal. Vom Kino lassen wir uns jedenfalls nicht abhalten. Auch nicht durch die Gegenfrage! – Ein wenig viel Betrieb in diesen Tagen – Nomination zum Schweizer Buchpreis, Auftritte in Basel, Zürich, Bern; schwierige Gespräche mit Krys, Traum vom abermaligen Tod des Vaters usf.; zentimeterweise voran mit Potocki, neues Konzept für ›Niemals keine Nachtmusik‹; publizistische Kärrnerarbeit. – Wer ein Kind will, der muss ficken – diese Erkenntnis wurde unlängst bei einer Talkshow aufmunternd verkündet; aber Babybäuche gibt’s doch genug in der Runde, Menschen eher zu viel als zu wenig. Wie wär’s denn, wenn Kinder nur durch intensives (aufrichtiges, seriöses, gläubiges) Beten zu kriegen wären? Das würde die Überbevölkerungsproblematik gewaltlos und nachhaltig mildern. – Bin mit Ewart und Krys in einem Heim mit dem seltsamen Namen ›Die Heimat‹, das Gebäude, im frühen DDR-Stil aus Sperrholzplatten zusammengezimmert, ist halb Behörde, halb Jugendherberge, vollgestellt mit Pulten und Regalen, anstelle der Fenster sind Schalteröffnungen mit Gegensprechanlagen in die Außenwände eingelassen, durch das kugelsichere Panzerglas sieht man hinter Dutzenden von derartigen Schaltern in immer gleicher Perspektive die immer gleiche Landschaft – giftgrün gefärbte, auf Bleistiften fixierte Schwämme stellen die Bäume dar, an Fäden schwebende Wattebäusche sind als Wolken oder als Kanonenqualm gedacht usf. Ich habe meine Post, einen großen Stapel von frankierten Briefen unterschiedlichen Formats, auf dem hohen Sims bereitgelegt, weiß aber nicht, ob ich sie da liegen lassen kann, ob sie auch wirklich korrekt frankiert sind und ob sie tatsächlich noch heute abgehen. Einen etwas kleineren Stapel legt Krys dazu, sie ist weniger skeptisch als ich, viel weniger skeptisch als Ewart, der zwar nichts zu versenden hat, aber auch kaum noch etwas zu verlieren. Das Größte, zischt er mir fast feindselig zu, kommt erst noch: »Das Ende.« Dabei zeigt er auf Krys, die mit verschränkten Armen und gekreuzten Beinen rücklings vor dem Schalter 314 steht. Dass es so schlimm um ihn bestellt ist, erstaunt und irritiert mich. Ich greife ihm von hinten unter die Arme, bugsiere ihn an all den Schaltern vorbei zum Notausgang der ›Heimat‹. Worüber noch reden? Und wie ihn ansprechen, da ich doch, obwohl nun sein ganzes restliches Gewicht auf meiner Brust lastet, nicht einmal mehr weiß, ob wir einander duzen. Ewarts Vornamen habe ich vergessen, also sage ich probeweise Sie zu ihm und nenne ihn Robert. Wir treten, gegenseitig untergehängt, vors Haus, hinaus in die Nacht, an deren Finsternis merkwürdig funkelnde, gleichsam ausbrennende Sterne befestigt sind, die einen schwachen Schimmer auf die ›Heimat‹ werfen und auch auf Krys, die noch immer mit abgewandtem Gesicht am Schalterfenster steht. Erst nach ein paar Schritten bemerke ich, dass wir von einer unabsehbar weiten Trümmerlandschaft umgeben sind – alles sieht aus wie grade eben zerschossen und eingestürzt, schwarze, matt glänzende Schollen türmen sich, abgefackelte Bäume, verbogene Hochspannungsleitungen, angesengte Watteballen, verbeulte Getreidesilos fügen sich zu einer erhabenen schattenhaften Kulisse. Weder Häuser noch Migranten sind zu sehn, auch keine Wildtiere, keine Grabsteine, keine Fahrzeuge, keine Revolutionswächter, keine Abschussrampen, nicht einmal ein Dirigentenpult. Doch was da alles im nächtlichen Dunkel nicht zu sehn ist, kann ich zumindest in Umrissen mit den Augen Ewarts erkennen, nämlich eine Welt, die »wüst und leer« ist, so wüst und so leer, als hätte es sie in Wirklichkeit nie gegeben.
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