Dylan Thomas: Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Dylan Thomas: Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben

Thomas/Roenspieß-Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben

DIE HAND DIE UNTERSCHRIEB

Die Hand die unterschrieb hat eine Stadt ruiniert;
Fünf herrschende Finger brachten dem Atem Not,
Haben die Toten des Erdballs verdoppelt, ein Land
aaaaahalbiert;
Diese fünf Könige gaben einem König den Tod.

Zu einer fallenden Schulter führt die mächtige Hand,
Ihre Fingergelenke sind krampfig von Gicht;
Ein Gänsekiel machte dem Mord ein End’,
Der hatte dem Gespräch ein End’ gemacht.

Die Hand die unterschrieb brütete Fieber,
Und Hunger wuchs, Heuschrecken kamen;
Groß ist die Hand die Herrschaft ausübt über
Menschen durch einen Krähenfuß von Namen.

Die fünf Könige zählen die Toten, doch ohne die Stirne
Zu streicheln oder die krustige Wunde zu schließen;
Eine Hand regiert Mitleid wie eine Hand die Sterne;
Hände können keine Tränen vergießen.

Übersetzt von Erich Fried

 

 

 

Nachwort

Dylan Marlais Thomas beschreibt den jungen Mann, der er zu Anfang der dreißiger Jahre gewesen ist, ironisierend so: „… ein großspuriger Jüngling, ein Bohemien aus der Provinz, um den Hals als bauschig gebundene Künstlerkrawatte den Seidenschal der Schwester…, den Pullover flaschengrün eingefärbt; ein schwadronierendes, abgebrüht tuendes, ehrgeiziges, anspruchsvolles Bürschchen; und zu allem übrigen noch kurzsichtig.“ Der so Charakterisierte war noch keine zwanzig Jahre alt, hatte 1931, siebzehnjährig, das Gymnasium im walisischen Swansea ohne Abschlußprüfung (ausgenommen im Fach Englisch) verlassen und arbeitete seitdem als Korrektor, später als Reporter bei der South Wales Daily Post und beim Herald of Wales, für die er Sportreportagen, Theaterkritiken, Lokalberichte verfaßte, und brachte viel Zeit damit zu, an Liebhabertheatern aufzutreten und sich als Rezitator zu betätigen. Gleichwohl befand er sich bereits mitten in einer Periode fruchtbarer Auseinandersetzung mit Problemen der Lyrik und hatte schon einige Gedichte geschrieben, die Kenner aufhorchen ließen, wie zum Beispiel das am 18. Mai 1933 in New English Weekly erschienene „Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben“. Zudem war er schon zu einem Selbstbewußtsein vorgestoßen, das sich kaum mit postpubertärer Arroganz erklären läßt, sehr wohl aber Einblick in Gedankengänge eines jungen Mannes zuläßt, der sich vor allem im Vers artikulieren wollte, und zwar so ausdrücklich nur sich selber, daß er jedweden Kompromiß ablehnt. „Der Dichter“, heißt es im September 1933 in einem Brief an die von fern geliebte Londoner Schriftstellerin Pamela Hansford Johnson, „ist sich selbst das Gesetz, und seine Größe oder Kleinheit steht und fällt damit. Er hat nur eine Begrenzung, und das ist die weitestgesteckte von allen: die Begrenzung durch die Form. Poesie findet ihre eigene Form; Form sollte nie aufgezwungen werden; die Struktur sollte aus den Worten aufsteigen, und sie möchte ich nicht ausdrücken lassen, was andere Leute gefühlt haben; ich möchte eine Hülle wegreißen und etwas zeigen, was die Leser nie gesehen haben.“
Nun ist eine solche Proklamation der Autonomie des Dichters, gewissermaßen seiner Verantwortungslosigkeit gegenüber jedweder anderer Instanz als sich selbst und dem Gedichteten, nicht das originelle Resultat der Überlegungen eines britischen Dichters aus Wales, der sich anschickt, vor die Öffentlichkeit zu treten. Der bereits erstaunlich belesene Dylan Thomas steht damit vielmehr in einer bis in die Phase der Nachaufklärung zurückreichenden Tradition. Besonders die Lyrik, die am sensibelsten und unmittelbarsten auf soziale Verwerfungen reagierende literarische Gattung, begab sich mehr und mehr auf die Bahn der Versagung vor einer in allen Lebensäußerungen rapid kommerzialisierenden und auf bürgerliche Tüchtigkeit orientierenden Welt und setzte, gleichsam als Geste des Widerstandes, ihr den Primat des Subjektiven, auch der Willkür entgegen. Schon seit den deutschen und französischen Romantikern, schon seit Shelley, ganz gewiß aber seit Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé wird Lyrik, nach einem Wort des deutschen Romantikers Novalis, „Schutzwehr gegen das gewöhnliche Leben“, und dem Dichter, dem „Magier“, soll erlaubt sein, „alle Bilder durcheinander zu werfen“, das „Chaos“ herzustellen, ohne Rücksicht darauf, ob das dichterische Produkt auf das Verständnis des Lesers stößt und so Genuß in einem herkömmlichen Sinn zu vermitteln vermag. Hatte noch Goethes Verspaar „Wer den Dichter will verstehen, / Muß in Dichters Lande gehen“ aus den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans“ einer freundlichen Einladung geglichen, sich mit den Gedanken und Gefühlen, den Intentionen des Autors vertraut zu machen, also jenes Einverständnis herzustellen, das die Lyrik seit ihren Anfängen auszeichnet und das sie auch, über das Ästhetische hinaus, im Sozialen wichtig gemacht hatte, so trat nun ein unwirtlicher Zug in die Poesie: Der Konsument, der nicht Eingeweihter war, wurde mit seinen Verständnisschwierigkeiten sich selber Überlassen. Wo denn auch lagen „Dichters Lande“, in die der Leser sich hätte begeben können, da der Dichter sich doch für geistig heimatlos geworden hielt in einer Profit- und Nützlichkeitsgesellschaft, in der seine Kunst allenfalls zur Erbauung in Stunden der Muße oder zur Panegyrik taugte? Wo lagen „Dichters Lande“, da ihm der Konsens mit der herrschenden öffentlichen Meinung mehr und mehr entglitt und da die Sprache, in der er sich hätte beheimatet fühlen können, durch die Unbedenklichkeit und Willkür, mit der man sie im Alltag in Kommerz, Politik, Juristerei, Religion, Philosophie, aber auch in der Dichtung selbst verschliß, verfälscht, leer geworden war? Neue Wege einzuschlagen, nie zuvor gegangene und später nie wieder so begehbare Wege, drängte es den Poeten, Welt neu zu schaffen aus dem Wort, das so noch nicht gesagt worden war, sich selber und die Tiefen des eigenen Denkens und Fühlens einzubringen ins Gedicht, nicht mehr Reflektant einer vorgegebenen Wirklichkeit zu sein, sondern Meister einer neuen, wenn es sein mußte „unwirklichen“, aber poetischen Realität, die eigenen Gesetzen gehorchte. Arthur Rimbaud schrieb im Mai 1871 an Paul Demeny:

Der Dichter macht sich zum Seher durch eine langdauernde, unerhörte und wohlüberlegte Entgrenzung aller Sinne. Alle Formen der Liebe und des Leidens, des Wahnsinns; er durchforsche sich selbst, er schöpfe alle Gifte seines Wesens aus und bewahre nur ihre Quintessenz für sich … Er kommt im Unbekannten an, und wenn er schließlich, gestörten Geistes, seine Vision nicht mehr begreift, so hat er sie doch gesehen!

Mehr als siebzig Jahre liegen zwischen der Äußerung Rimbauds und der des Dylan Thomas, Jahre, die durch Kriege und Krisen geprägt waren, aber auch durch die Festigung und Verbreitung der sozialistischen Ideen als Antwort auf das Arbeiterelend und die Entfremdung des Menschen in der kapitalistischen Wirtschafts- und Herrschaftsform sowie der Umsetzung dieser Ideen in die Praxis durch die Oktoberrevolution. Und doch sind die Proklamationen und Maximen die gleichen geblieben (und wirken auch weiterhin auf ernst zu nehmende Lyrik unserer Tage): Der Dichter trete als Verkünder von bisher nie so Gesehenem und so nie Gesagtem auf, er schaffe durch „Entgrenzung aller Sinne“ und „Begrenzung durch die Form“ poetische Visionen, die in sich ruhen (selbst um den Preis der Preisgabe allgemeiner Verständlichkeit) und aus sich und auf sich zurück wirken. Um es mit den apodiktischen Worten Dylan Thomas’ zu sagen:

Das Ziel des Gedichts ist das Zeichen, welches das Gedicht selbst setzt: Es ist das Geschoß und das Zentrum der Zielscheibe; das Messer, das Gewächs und der Patient. Ein Gedicht bewegt sich nur auf sein eigenes Ende hin, und das ist der letzte Vers. (Brief an den Kritiker, Lyriker und Romancier Henry Treece vom 16.5.1938.)

So mannigfaltig sich das, was man „moderne Lyrik“ zu nennen sich angewöhnt hat auch darbietet, so vielfach gegliedert die poetische Landschaft Europas und Latein- und Nordamerikas auch erscheint, wie stark auch nationale Traditionen, dichterische Temperamente, Weltanschauungen durchschlagen: Diese Lyrik bewegt sich bis heute auf der Bahn, die sie sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts gesucht hat. Das Gedicht, das den Postulaten der „Moderne“ folgt, hat eine andere Funktion bekommen, der Dichter tritt sozusagen nicht mehr in der Rolle des Trösters, des Erbauers, des Belehrers, des Unterhalters in einem mehr vordergründigen Sinn auf, sondern verstört, beunruhigt, regt zum selbständigen Nach-Denken und Nach-Empfinden an, da die überkommene selbstverständliche Übereinkunft zwischen Produzenten und Konsumenten aufgegeben ist. Das Gedicht wirkt aktivierend, nicht mehr bestätigend, es setzt sich der Ablehnung aus, indem es – wie die Musik seit Schönberg, die bildende Kunst seit den Fauves und den Kubisten, wie zu einem repräsentativen Teil der Roman seit dem Ulysses – die Wendung zum Unpopulären wagt.
In solchem Kontext vor allem sollte das lyrische Werk Dylan Thomas’ gelesen werden, nicht so sehr unter den gängig gewordenen biographischen Gesichtspunkten, die sich (und nicht ohne das Dazutun Thomas’) zwischen das Werk und den Dichter gedrängt haben. Denn das eher die Sensationslust bedienende Bild vom ruhelosen, haltlosen und unzuverlässigen Alkoholiker schon seit Jugendtagen, der den Mitmenschen und sich selber mehr und mehr eine Last wurde, vom Exzentriker, der keinen Skandal scheute, deckt seine Persönlichkeit genau so wenig völlig ab wie die romantische Vorstellung vom Originalgenie, einem anderen Shelley, der schon als halbes Kind seinen Gesichten nachgehangen und sie im Schöpfungsrausch und doch auch peinlich besorgt um das „richtige Wort“ zu Papier gebracht hat.
Es war eigentlich ein unspektakuläres Leben, das der am 27. Oktober 1914 in der walisischen Hafen- und Industriestadt Swansea Geborene geführt hat, hauptsächlich gezeichnet von den Mühen um den Lebensunterhalt und der gefühlten Notwendigkeit, sich in Vers und Prosa auszudrücken. Nicht einmal mit der Aufzählung diverser Beschäftigungen vom Streckenarbeiter bis zum Koch, mit denen die Vita so mancher prominenter Literaten geschmückt ist, läßt sich aufwarten. Er hat beim Literarischen verharrt, freilich beim Literarischen in seinen verschiedensten Ausprägungen, vom Dichten und Erzählen bis hin zum Verfassen von Kritiken, dem Schreiben und Vortragen von Funkmanuskripten und dem Entwerfen von Drehbüchern für Kurz- und Spielfilme. Eine Umfrage des Horizon im Jahre 1949 nach den materiellen Lebensumständen von Literaten beantwortete er so:

Ich bekomme etwa ein Viertel des Geldes, das ich möchte, indem ich schreibe, was ich nicht möchte, und gleichzeitig versuche, es gern zu tun, was mir oft gelingt. Warum soll man nicht ebensogut sein Leben ärmlich durch ein bißchen literarisches Talent fristen wie auf irgendeine andere bescheidene Weise, solange man nicht immer, wenn man Manuskripte für Funk und Film, Kritiken etc. schreibt, im Grunde das Gefühl hat, wegen dieser Arbeit werde die Welt um ein großartiges Gedicht oder eine großartige Erzählung ärmer?

Solche gelassene Sicht auf die Lebensumstände wird sich Dylan Thomas in früheren Jahren wohl kaum zu eigen gemacht haben können. Denn seine ersten Gedichte und Storys in der Zeitschrift New English Weekly wurden abgedruckt, ohne daß Honorar gezahlt worden wäre; sein erster Gedichtband, 18 Poems, konnte 1934 nur mit der Hilfe von Gönnern erscheinen; seine ersten Londoner Jahre (seit November 1934), die sich für ihn in der Rückschau vor allem als eine Zeit unbekümmerten, ungezügelten Dahinlebens darstellen, sind in Wirklichkeit von der Entbehrung gekennzeichnet, die ihn unter anderem dazu brachte, von T. S. Eliot ein Geldgeschenk anzunehmen und eine, Einladung von Mrs. Wyn Henderson, der Leiterin der Guggenheim-Galerie, in ihr Landhaus in Cornwall als ihr „Maskottchen und hochwillkommener Gast“ anzunehmen. Seit seiner Heirat mit Caitlin MacNamara im Juli 1937 und nach der Geburt des ersten Kindes wuchs die Not, da zum Mangel auch noch die fehlende Fähigkeit zu haushalten trat, so daß Stephen Spender, selber Lyriker und kritischer Förderer Thomas’, 1940 eine Geldsammlung veranstalten mußte, um die Pfändung des Hausrats abzuwenden. Erst das Erscheinen seiner autobiographischen Schrift Porträt des Künstlers als junger Dachs im Frühjahr 1940 – nachdem die Veröffentlichung von Twenty-Five Poems (1936) und The Map of Love (1939) zwar bei der Kritik Aufsehen erregt, aber keine materielle Sicherung gebracht hatte – und seine 1941 verstärkt unternommene Arbeit für den Funk und den Film machten die materielle Lage erträglicher, wenngleich die Klagen über Geldmangel nicht abrissen. Die inzwischen fünfköpfige Familie blieb nach wie vor auf die Freundlichkeit von Gönnern und Freunden angewiesen. So lud sie der Schriftsteller John Davenport von Juni 1940 bis Januar 1941 in sein Haus in Marshfield bei Chippendam, Wiltshire, ein, wo Dylan Thomas unter anderem gemeinsam mit Davenport den erst postum veröffentlichten, auf Verhältnisse in der englischen Literatenwelt anspielenden Roman Death of the King’s Canary (1976) verfaßte.
Nach alledem nimmt sich Dylan Thomas’ Lebenslauf wie eine zeitgenössische Illustration zum Thema „der arme Poet“ aus. Wenn auch in Erinnerungen an ihn darauf verwiesen wird, sowohl er als auch Caitlin seien mit einer· geradezu kindlichen Beziehungslosigkeit zum Geld behaftet gewesen und hätten zumal die reichlich fließenden Honorare aus seinen drei Vortrags-Tourneen durch die Vereinigten Staaten (Februar/Mai 1950, Januar/März 1952 und vom 19.10.1953 bis zu seinem Tod in New York am 9. November 1953) sinnlos verschwendet, so ändert das nichts an dem Umstand, daß die pekuniäre Misere den Dichter sein Leben lang verfolgt hat, und man ist geneigt, es als böse Ironie des Schicksals zu verbuchen, daß nach seinem Tod mit dem Ruhm auch die Tantiemen durch den weltweiten Erfolg seines auch als Theaterstück berühmt gewordenen Hörspiels Unter dem Milchwald (1945) immens wuchsen.
Es war, wie gesagt, eigentlich ein unspektakuläres Leben, das Dylan Thomas führte, den tristen Hang zum Alkohol, überhaupt zur Boheme eingerechnet, und es mag leicht scheinen, als habe er nur seine Natur ausgelebt, in der das Schreiben als unabdingbares Element seiner Existenz dominierte. Die Vorstellung vom Dichter drängt sich auf, der, wie er in einem Brief vom Januar 1933 an seinen Jugendfreund Trevor Hughes mehr provokant als ernsthaft schreibt, in seinem „kleinen elfenbeinernen Tempel“ und abgeschlossen „von den Winden und Peitschenhieben der Welt“ lebt, „wie Proust“; das Bild vom Sänger stellt sich ein, der „wie der Vogel singt, / Der in den Zweigen wohnet“. Doch Dylan Thomas „wohnte“ in Großbritannien, und er erlebte, als sich sein Denken und Dichten ausprägte, das durch die Weltwirtschaftskrise heraufgeführte Elend von Millionen (ein Fünftel bis ein Viertel aller britischen Werktätigen war in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre arbeitslos, und Wales mit seinen zahlreichen Gruben und seiner ausgedehnten Hüttenindustrie war von der wirtschaftlichen Depression noch härter getroffen als andere Landesteile), ihre Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, und in seinen frühen Gedichten, in denen die düstere Stimmung vorherrscht und sich mit drängenden Fragen nach dem Ursprung, dem Sinn und dem Ziel des Lebens mischt, hat sich viel von der Hoffnungslosigkeit, der Verzweiflung der Menschen rings niedergeschlagen. Er erlebte sie desorientiert und in ihrer Würde und ihrem Recht in Frage gestellt und reagierte auf diese Herausforderung in der ihm eigenen Weise, indem er, betroffen, das Leid der vielen zu seinem eigenen machte und in eindringlichen Sprachbildern (oft in Bildern von verwirrender Eindringlichkeit) eine Endzeitstimmung ausdrückte:

Wenn der Beutel leer ist
Und der Bauch auch leer ist,
Ist alles noch schwerer zu tragen.
Die Jahrhundertfalle ist wirklich zugeschnappt …

Er fühlte sich verloren in der Welt des Faulens, identifizierte sich mit der Kreatur, die sinnlos dahintreibt, und wehrte sich doch auch mit seinem Vers gegen diese Sinnlosigkeit. Den Tod, den „Herrscher über dies Reich des Fleisches“, will er nicht anerkennen und setzt gegen ihn das Bild des Dichters, der die Vereinzelung auf sich nimmt und durch sie zu neuer Sinngebung vorzustoßen trachtet. Sein Verständnis und Konzept von Dichtung war nicht darauf gerichtet (wie etwa das Wystan Hugh Audens und seiner Freunde von der Gruppe der „Pylon-Poets“), mit Versen den Mechanismus einer miserabel funktionierenden Ordnung bewußt zu machen und Vorstellungen von menschengerechteren Konditionen zu propagieren; doch äußerte er sich außerhalb der Lyrik, wie zum Beispiel zu der Umfrage der Zeitschrift New Verse im Jahre 1934, dann ließ er keinen Zweifel an seiner Sympathie für den gesellschaftlichen Fortschritt, wie verschwommen auch immer dessen Beförderung und Ziel sich ihm darstellte. „Ich bin für jede revolutionäre Gruppe“, formulierte er dort, „die hier das Recht aller Menschen eintritt, alle Produkte des Menschen vom Menschen und von den dem Menschen zur Verfügung stehenden Produktionsmitteln gerecht und unparteiisch unter sich aufzuteilen, denn nur durch eine solche wesenhaft revolutionäre Gruppe kann die Gemeinschaftskunst möglich werden.“ Diese Sympathie hat er auch später nie verleugnet, und er hat sie unter anderem während der Zeit des kalten Krieges durch seine Teilnahme am Friedenskongreß der Schriftsteller in Prag im März 1949, durch seine Unterschrift unter den Stockholmer Appell zur Ächtung von Atomwaffen und für die Freilassung des von einem amerikanischen Gericht unschuldig zum Tode verurteilten Ehepaars Ethel und Julius Rosenberg öffentlich und nachhaltig bekundet. Ihn als einen „unpolitischen Dichter“ qualifizieren zu wollen, der in einer Zeit, da Dichtung in Europa angesichts der Gefahr des deutschen und italienischen Faschismus sich zunehmend politisierte, im Anschauen seiner Gedichte verharrte und sich in seinen Versen expressis verbis jeder Stellungnahme enthielt, käme einer Verzeichnung gleich.
Und noch einer Verzeichnung im Zusammenhang mit Dylan Thomas’ Lyrik, die sich zwar nicht massiv zur Geltung bringt, sondern sich mehr in schmückenden Floskeln bemerkbar macht, sollte man begegnen: der Behauptung, er habe aus der reichen walisischen Kultur der Vergangenheit, den Mythen und Märchen geschöpft, und daß die Dunkelheit vieler seiner Metaphern, der eigenwillige Rhythmus seiner Verse, die verschachtelte Syntax etc. sich womöglich zu einem guten Teil aus dieser geistigen Herkunft erkläre. Nun wird niemand den prägenden Einfluß von Menschen und Landschaften der Kindheit gerade auf den Dichter bestreiten wollen, und sicherlich ist vieles in Thomas’ Gedichten walisisch in dem Sinn, daß Autobiographie in sie eingeflossen ist: Gestalten und Erlebnisse der frühen Jahre, früh gehörte Erzählungen, sicherlich auch Eindrücke, die das Meer, die Heimatstadt, die Ferienaufenthalte auf dem Land bei den Großeltern und bei Verwandten von mütterlicher Seite auf dem Hof Fern Hill, dem er eines seiner schönsten Gedichte gewidmet hat. Und auch der Umstand, daß sein Vater, David John Thomas, Lehrer für Englisch am Gymnasium von Swansea und ein literaturkundiger Mann war (und, im Gegensatz zu seinem Sohn, walisisch sprach), läßt auf frühe Beschäftigung mit der Kultur seiner engeren Heimat schließen. Doch damit stößt man auch schon an die Grenze dessen, was an walisischem Element in seine Verse eingeflossen sein mag. Er selbst ist in dem kleinen Aufsatz „Wales und die Künstler“ mit zwei Sorten walisischer Kunstbeflissener sarkastisch ins Gericht gegangen, mit denen, die nach London übersiedeln und sich allem Englischen anbiedern, und mit denen – „Riesen in der Finsternis hinter dem Dorfbrunnen“ −, die am heimischen Ofen hocken bleiben und „vergiftete Pfeile auf die Künstler anderer Länder abschießen, anstatt zu versuchen, das Niveau der Kunst ihres eigenen Landes zu heben, indem sie sich ordentlich hinter ihre eigenen Worte, Farben und Melodien hermachen“.
Wie intensiv Dylan Thomas sich hinter seine „eigenen Worte“ hergemacht hat, davon kann sich jeder ernsthaft bemühte Leser seiner Verse überzeugen. Man weiß durch Berichte von Weggefährten, daß er sich die Arbeit an seinen Gedichten sehr schwer machte, daß er wochen- und monatelang an seinen Versen feilte, daß er Dutzende Versionen ein und desselben Gedichts herstellte und auch schon Veröffentlichtes Überarbeitete. Er war durchaus keiner der Lyriker, die sich, wie einige Surrealisten, dem automatischen Schreiben anvertrauten, um auf diese Weise Ungehobenes aus dem Unterbewußtsein zutage zu fördern. Auf der Internationalen Surrealistischen Ausstellung im Sommer 1936 in London, an der sich unter anderen Henry Moore, André Breton, Salvadore Dalí, Paul Éluard mit Versammlungen, Lesungen, Aktionen (wir würden heute sagen: mit „happenings“) beteiligten und an der auch Thomas mit dem Vortrag eigener Gedichte teilnahm, wurde ihm der Gegensatz zwischen seiner und dieser Spielart avantgardistischer Kunstpraxis (bei allem Interesse, das er den surrealistischen Methoden entgegenbrachte) ganz deutlich: Sein Teil war nicht die rasche Wortreihung, angetrieben von klanglichen Assoziationen, gesteuert von unbewußten Querverbindungen, beherrscht auch vom Zufall. Er stellte sich stets einem thematischen Vorwurf oder einer Stimmung, einem Komplex von Empfindungen, die er – sorgfältig in einen Rhythmus fassend oder, wie in manchen seiner Gedichte, die Silbenzahl des Verses bestimmend und, wenn es ihm geboten schien, mit End- und Binnenreim und Assonanzen arbeitend – mit Metaphern belegte, die alle Konvention verschmähten und die nur der eigenen Sicht und Wertvorstellung entsprechen. Auf den Vorwurf Stephen Spenders, seine Gedichte seien wie ein aufgedrehter Wasserhahn, aus dem es unaufhörlich plätschere, antwortete Thomas in einem Brief an Henry Treece: „Meine Gedichte sind geformt; sie sind ganz und gar nicht wie ein angestellter Wasserhahn; sie sind ,wasserdichte Abteile‘. Viel von ihrer Dunkelheit geht zu Lasten rigoroser Komprimierung; das letzte, das man ihnen nachsagen kann, ist, daß sie fließen; sie sind eher gemeißelt.“ Diese Dunkelheit der Metaphern zu ergründen, sie mit Sinn und Leben zu erfüllen, bleibt zwar nicht der Willkür des Lesers überlassen, doch hat dieser seinen Teil an Vorstellungskraft und intellektueller Anstrengung beizutragen, muß er für sich den Akt des Dichtens nachvollziehen, um sich das Gedicht im Sinne des Wortes anzueignen.
Es gibt nur wenige Äußerungen von Thomas zu seiner Methode des Dichtens; sein Biograph Constantine FitzGibbon berichtet, er habe ihm einmal die Frage nach dem Wesen von Dichtung gestellt und sei mit der lapidaren Antwort beschieden worden: „Dichtung interessiert mich nicht, nur das Gedicht.“ Gleichwohl hat er besonders in einigen Briefen aus jungen Jahren, als er offensichtlich noch dabei war, sein Verständnis von Lyrik zu ergründen und zu befestigen, wertvolle Hinweise auf seine Methode gegeben, die vielleicht mehr aussagen als jeder noch so scharfsinnige Deutungsversuch. So heißt es in einem Brief an Pamela Hansford Johnson vom 25.2.1933: „Jahrhunderte eines problematischen Fortschritts haben uns blind gemacht für das literarische Wort; jedes klare und nackte Ding wird mit einer dicken Nebelsuppe von Assoziationen umkleidet; kein einziges Wort aus unserem ganzen poetischen Vokabular ist jungfräulich, bereit zur ersten Liebe, bereit, aus sich machen zu lassen, was wir wollen.“ Die Wörter also aus ihrem Assoziationsfeld zu lösen, sie von Vorbedeutungen zu reinigen und sie sich ganz zu eigen zu machen, diese erste und grundsätzliche Forderung der modernen Lyrik seit Baudelaire und Rimbaud ist auch für ihn der Ausgangspunkt allen Dichtens. Diese Rigorosität im Umgang mit der Sprache mußte natürlich oftmals zu Hermetik führen, zu jenen Dunkelheiten, die Thomas selbst einige Male beklagt hat, so in dem Brief an Pamela Hansford Johnson vom 9.5.1934:

Ich habe ein Gedicht geschrieben, das so dunkel ist, daß ich mich nicht traue, es sogar unter die Augen einer so freundlichen und mitfühlenden Welt wie der Deinen kommen zu lassen.

Doch er glaubte, sie um der Ehrlichkeit seines Dichtens willen nicht vermeiden zu können. Bei alledem beteuerte er mehrmals, seine Gedichte seien nicht vorsätzlich verdunkelt, sondern geschrieben, um verstanden zu werden. „Aber jeder Vers soll verstanden werden“, schrieb er am 9.12.1936, „der Leser soll jedes Gedicht verstehen, indem er es durchdenkt und durchfühlt und nicht indem er es durch seine Poren einsaugt oder was immer sonst er mit surrealistischem Geschreibe tut.“ Im übrigen ist belegt, daß er sich weigerte oder für außerstande erklärte, seine Metaphern zu erhellen, da es seine Aufgabe sei, Gedichte zu schreiben, nicht sie zu interpretieren. Er habe nichts anderes vor, als gute Poesie zu schreiben, und weigere sich, anzuerkennen, „daß alle gute Poesie notwendig einfach sein sollte.“ Und die wohl aufschlußreichste (und übrigens die letzte substantiell wichtige) Äußerung zu seiner Methode, Lyrik zu machen, findet sich in einem Brief vom 23.3.1938 an Henry Treece:

Ich mache ein Bild, lasse es ein anderes gebären, lasse dieses Bild dem ersten widersprechen, lasse aus dem dritten Bild, das aus den beiden geboren worden ist, ein viertes widersprechendes Bild entstehen und lasse sie alle, in den Grenzen der Form, die ich mir gezogen habe, miteinander streiten. Jedes Bild enthält den Keim zu seiner eigenen Zerstörung, jedenfalls ist die dialektische Methode, wie ich sie verstehe, ein dauerndes Errichten und Zerstören der Bilder, die aus dem innersten Keim entstehen, der in sich aufbauend und zerstörend ist.

Angesichts solcher Komplexität der Schaffensmaximen und -probleme, angesichts der Auffassung des Dichters von dem, was Lyrik sei, wie sie wirken könne und was sie bewirken solle, angesichts auch des jedem Vers innewohnenden Appells an den Leser, ihn durch Nachfühlen und Durchdenken in Besitz zu nehmen, ist es ein Wagnis, Dylan Thomas’ Gedichte in eine andere Sprache zu übertragen. Ja, sie sind im Grunde nicht übertragbar, weil jede Nachdichtung – wie schon das Lesen – die Gefahr der Deutung enthält und weil darüber hinaus die Eigenarten – die so in einer anderen Sprache nicht nachzubildende Metrik, der Satzbau, der sich vielfach in äußerst komplizierten Verschachtelungen, von Paranthesen unterbrochen und durch Chiasmen zusätzlich erschwert, über viele Zeilen hinzieht, die Metaphern in ihrer Widersprüchlichkeit – dermaßen dominieren, daß sich Zusammenhang und Zusammenklang in der fremden Sprache manchmal überhaupt nicht oder nur recht gewaltsam herstellen lassen. Dennoch haben wir – Verlag, Herausgeber und Nachdichter – uns entschlossen, Dylan Thomas in einer chronologisch geordneten Auswahl vorzustellen, die auch eine gewisse Entwicklung von der mehr individualistischen und von der Diskussion von Gedanken getragenen Position des frühen Dichters zu dem gelasseneren Erzählen in poetischen Bildern in den vierziger und den beginnenden fünfziger Jahren erkennen läßt. Wir haben uns vor allem deshalb dazu entschlossen, um einen Dichter in Versen zu Wort kommen zu lassen, der von dem Anliegen besessen ist, dem Menschen auf die Spur zu kommen, dem Menschen, der der immer wieder beschworenen Trias von Geburt, Liebe und Tod unterworfen ist und sich dennoch nicht damit begnügt, als Teil der Natur unter den ihm bestimmten und ihn bestimmenden Gesetzmäßigkeiten zu leben, sondern den Drang in sich spürt, sein Wesen sinnlich zu erfahren und es zu durchdenken.

Karl Heinz Berger, Nachwort, Mai/Juni 1983

 

Die Bereitschaft des walisischen Dichters

Dylan Marlais Thomas (1914–1953), sich dem Leben uneingeschränkt zu stellen und elementaren Bedürfnissen und Gefühlen nicht auszuweichen, drückt sich in seinem Schaffen mit überwältigender Verve aus. „Der Dichter ist sich selbst das Gesetz, und seine Größe oder Kleinheit steht und fällt damit. Er hat nur eine Begrenzung, und das ist die weitestgesteckte von allen: die Begrenzung durch die Form.“ Mit dieser programmatischen Äußerung, die ihn in die Tradition der Romantik und der modernen Lyrik seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts stellt, fordert Thomas die Autonomie des Dichters, was jedoch nicht heißt: eingeschränkte Verantwortung gegenüber der Realität. Diese hat in kunstvoll verschlüsselten Zeilen Eingang in sein Werk gefunden, das um die große Dreiheit Geburt, Liebe und Tod kreist. Ständig um Licht und Klarheit ringend, versuchte Thomas, die geahnte Apokalypse, aber auch die Erfahrungen der dreißiger und vierziger Jahre von Not, Kriegsgefahr und Krieg dichtend zu bändigen. Die immer wiederkehrende, bohrende Frage nach Dauer und Vergänglichkeit ist als ein trotziges Bekenntnis zum Leben, zum innigen Verstricktsein mit allem Irdischen zu werten. Ungewöhnlich wie seine Sprache ist die Kompositionstechnik mit ihren Metaphern und teleskopierten Bildern, mit Alliteration, Assonanzen und Dissonanzen sowie der Symbolik, die manches aus den Tiefen des Unbewußten oder Halbbewußten schöpft.

Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1984

 

Das Paradox der Unschuld

– Erinnerungen an Dylan Thomas. –

Als Dylan Thomas 1953 in „jene gute Nacht“ ging, von der sein Gedicht „Do not go gentle into that good night“ spricht, waren die Leichenfledderer des Literaturbetriebs längst am Werk. Es waren vor allem die Ausschweifungen im späteren Leben des walisischen Dichters, auf die sich seine Biographen stürzten. Den tragischen Hintergrund sahen sie nicht.
Dylan Thomas war ein Kind von Swansea. Die walisische Haftenstadt prägte und zerstörte ihn, da er auf fast anormale Weise seiner ersten Umgebung verhaftet blieb. Von seinen Reisen und Bewegungen außerhalb Swanseas konnte er so gut wie nichts in seine Dichtung aufnehmen. Seine ihm eigene Intensität resultierte aus seiner Unfähigkeit und fehlenden Bereitschaft zu lernen, neue Erfahrungen zu sammeln und sie zu verarbeiten. Eben weil er sein Blickfeld nicht erweitern konnte, war alles, was ihn von der ursprünglichen Quelle seiner Dichtung hinwegführte, eine Bedrohung für ihn selbst und für sein Werk.
Außer zu seiner Familie und zu den Freunden und Bekannten seiner Jugend konnte er nur zu wenigen Menschen eine Beziehung aufbauen. Akademiker und Ästheten waren ihm verhaßt, und in Gegenwart von Verehrern und Schriftstellerkollegen spielte er den Clown.
Bevor er als Dichter zu Ruhm gelangt war, bevor seine exzentrischen Sauftouren Gegenstand der Tagespresse geworden waren, kam Dylan Thomas zu einer Lesung nach Oxford. Ich war damals, es war 1941 oder 1942, einer der Veranstalter. Nach der Lesung blieb Dylan nicht, um Fragen zu beantworten, sondern um Geschichten von einer solch makabren und düsteren Obszönität zu erfinden, daß er den Zorn einiger jüngerer Studenten auf sich zog. Sie drohten damit, ihn in den Mercury, den Teich des Christ Church College, zu werfen. Mit dieser Absicht sprengten sie später die Party, die ich für Dylan in meinen College-Räumen gab. Es kam zu Handgreiflichkeiten, College-Eigentum wurde leicht beschädigt, und ich handelte mir einen strengen Verweis ein.
Der an sich unbedeutende Zwischenfall, von Dylan absichtlich provoziert, enthüllt eine Seite seines Wesens, die auch bei unseren späteren Begegnungen in den Kneipen von Soho zum Vorschein kam. Dort hatte er die Angewohnheit, ohne jeden ersichtlichen Grund den größten und stärksten kanadischen Soldaten zu beleidigen, den er finden konnte. Er wollte körperlich bestraft werden, als ihm das Bier nicht zur Bewußtlosigkeit verhelfen konnte. Ich erinnere mich, wie er sich an einem dieser Abende mindestens eine Stunde lang mit einem Freund in Shakespeareschen Blankversen unterhielt. Gelegentlich traf ich ihn auch tagsüber. Einmal nahm er mich mit in ein Kino, wo er Korkfilterzigaretten falsch herum rauchte und nicht sich selbst, sondern die Zigaretten dafür verfluchte. Ein anderes Mal führte er mich in einen Trink-Club, der auch zu den Schließzeiten der Pubs geöffnet hatte. Dort fluchte er wieder, nachdem es ihm mißlungen war, einen Kater sexuell zu erregen. Für seinen Fehlschlag machte er die Degeneration der Katzen verantwortlich.
Wenn auch Dylan alles Akademische ablehnte und sich selbst als unliterarisch und unintellektuell bezeichnete, so bezog sich dies nur auf das Werk anderer, mit dem er nicht behelligt werden wollte – es sei denn, er brauchte es für seine parodistischen Auftritte. Wie die Menschen, die er nach seinen prägenden Jahren traf, hielt er das meiste auf Distanz, außer er konnte es für seine eigenen Ziele verwenden. Doch wenn er wollte, war er ein ausgezeichneter Kritiker. Ich erinnere mich, wie ich ihm ein Gedicht zeigte, das ich als 17jähriger unter seinem Einfluß geschrieben hatte. Er erkannte sofort, daß ich auf dem Holzweg war, und sagte es mir. Ich habe das Gedicht nie veröffentlicht und nie wieder eines in dieser Art geschrieben. Nichts, was über seine frühen Gedichte gesagt wurde, kommt der Wahrheit näher als sein eigenes Urteil. In einem Brief an Pamela Hansford-Johnson äußerte er sich wie folgt:

Meine Verse, all meine Verse haben nur ein Zehntel der Intensität. Dies sind nicht die Worte, die ausdrücken, was ich ausdrücken möchte. Dies sind die einzigen Worte, die ich finden kann, die in etwa die Hälfte ausdrücken. Und das ist nichts. Ich bin ein verrückter Benutzer von Worten, kein Dichter. Das ist wirklich die Wahrheit, kein Selbstmitleid.

Das ist in der Tat die Wahrheit über Gedichte, in die professionelle Interpreten die verwickeltsten Anspielungen auf metaphysische und theologische Quellen hineingelesen haben – Quellen, die Dylan Thomas völlig unbekannt waren. Ob seine verrückte Art zu schreiben gut oder nicht gut war, ist eine andere Frage. Daß er damit unzufrieden war und sie in seinem späteren Werk überwinden wollte, stimmt jedoch. In dem gleichen Brief findet sich eine gültige Aussage über das sogenannte „experimentelle“ Schreiben, über die all jene nachdenken sollten, die das Wort als Synonym für „seltsam“ oder „innovativ“ verwenden.

Ich bin kein Experimentalist und werde nie einer sein. Ich schreibe so, wie ich kann, und mein abartiges, verkrampftes, verschlossenes Zeug ist nicht das Ergebnis von Theoretisieren, sondern stammt von meiner völligen Unfähigkeit, meine unnötigen Gewundenheiten auf andere Weise auszudrücken.

Experimentieren ist ein bewußter und methodischer Vorgang; die Sprache im Frühwerk von Dylan Thomas ist keines von beiden. Eine andere seiner kritischen Einsichten, die auf Selbsterkenntnis beruhen, war seine Unterscheidung zwischen Dichtern, die „aus Worten heraus“ arbeiten, und denen, die „zu Worten hin“ arbeiten.
Für jeden, der Dylan kannte und schätzte, sind Berichte über seine letzten zehn Jahre, in denen er zum gefeierten enfant terrible der englischen Literaturszene aufstieg, schmerzhaft. Sie legen Zeugnis ab von einem sich lange hinziehenden Todeskampf der Selbstentfremdung, dessen äußere Symptome Alkohol und Schulden waren. In einem Brief aus dem Jahre 1953 an einen Verleger, in dem er sich dafür entschuldigte, eine der vielen versprochenen, aber nie geschriebenen Arbeiten nicht liefern zu können, kommt noch einmal die alte Selbsterkenntnis und Aufrichtigkeit zum Vorschein:

In Amerika las ich Gedichte, und je mehr Worte ich benutzte, desto ängstlicher wurde ich, sie nochmals in meinem eigenen Werk zu benutzen. Das endlose Dröhnen von Gedichten machte die Worte nicht sauer oder schal für mich, sondern machte mir mein obsessives Interesse an ihnen bewußter, ebenso wie meinen Horror davor, nie wieder unschuldig genug sein zu können, sie zu berühren und zu benutzen. Ich kam ängstlich und verwirrt nach Hause. Da stand meine Hütte auf den Klippen, voll mit Tinte und Papier, mit Dingen zum Anstarren, Raum zum Atmen, Fühlen und Denken. Doch ich konnte kein Wort schreiben.

„Unschuldig“ ist hier das Schlüsselwort. Das letzte Jahrzehnt seines kurzen Lebens war ein vergeblicher Kampf, eine Integrität zu bewahren, die gerade von dem „Erfolg“ bedroht wurde, der ihm und seiner Familie Sicherheit zu versprechen schien. Es war ein Teufelskreis: Weil ihn jeder „Erfolg“ weiter weg von seinen Wurzeln trug, schrie seine beleidigte Integrität – die von Anfang an einen selbstzerstörerischen Impuls hatte – nach Selbstbestrafung, und all das Geld, das er verdiente, mußte auf unerklärliche Weise verschwinden, damit das strafende Durcheinander zu Ende gebracht werden konnte. In der Zwischenzeit „dröhnte“ er Gedichte und erregte Menschen, zu denen er keine Beziehung finden konnte. Auch seine „Unschuld“ war von Anfang an eigentümlich: derb, sinnlich und puritanisch, polymorph-pervers, egozentrisch, mit Düsterheit und Verhängnis beladen. Es war die Unschuld eines brillant begabten Jugendlichen mit einem ausgeprägten Hang zur „Straffälligkeit“. So oder so, diese Unschuld war alles, was er als Dichter besaß, obwohl andere Witz und seine wortschöpferische Virtuosität von ihm verlangten – und auch bekamen.
Als er starb, schrieb Edith Sitwell in einem Brief über ihn: „Er war ein höchst liebenswertes Geschöpf, wie ein süßes und liebevolles Kind.“ Nicht jedermann hielt ihn für liebenswert, süß und liebevoll, aber das Kind in ihm trat bei all seinen Aktivitäten, persönlichen Beziehungen und Katastrophen zutage. Der Dichter Vernon Watkins, der Charaktere besser beurteilen konnte und enger mit Thomas befreundet war, kam im Nachruf für Dylan Thomas dessen Eigenheit näher: „Unschuld ist immer ein Paradox, und im Rückblick stellt Dylan Thomas das größte Paradox unserer Zeit dar.“
Seine beruflichen Auftritte in London und Amerika werden vermutlich als Stadien eines katastrophalen Niedergangs von Interesse sein, und seine Beliebtheit als Schauspieler und Alleinunterhalter wird trotz der Schallplattenaufnahmen mit ihm allmählich verblassen. Was bleiben wird, ist seine Dichtung in Versen und Prosa – zumindest ein Teil davon. Dies gilt auch für einige der späteren Gedichte, die der persönlichen Katastrophe eine tragische Freude abrangen.
Als er starb, rief mich der Herausgeber einer angesehenen Literaturzeitschrift an, um zu fragen, ob ich ihm eine Einladung zur Beerdigung verschaffen könne. Über dieses Ereignis, dem ich fernblieb, schreibt ein Biograph:

Während weiter getrunken wurde, waren die literarischen Räuber schon an der Arbeit. Mindestens zwei signierte Exemplare seiner Bücher wurden bis zum Ende des Tages gestohlen.

Der Dylan Thomas, an den ich mich erinnere, war vielleicht gewissenlos, wenn es um Geld oder um irgendein Hemd ging, aber die Aasgeier, die sich an seinem Ruin mästeten, verdiente er gewiß nicht. Tröstlich ist allein die Tatsache, daß das „Paradox der Unschuld“ über ihren Horizont ging.

Michael Hamburger, in: Testimonies, S. 166-171. Eine gekürzte deutsche Fassung erschien in: Neue Zürcher Zeitung, 2./3.3.1991

 

Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973

 

Neuntage: Wedding Anniversary (Lyrics by Dylan Thomas)

 

Jan Wagner: Der Rausch und die Herrlichkeit. Zunächst über Dylan Thomas. Erster Bamberger Poetikvortrag im Rahmen der Bamberger Poetikprofessur

 

 

Eine lange Nacht des Dylan Thomas

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Sylvia Staude: Bis er dahinflog
Frankfurter Rundschau, 2.2.2019

Herbert Steib: Die Welt feiert Dylan Thomas
alldonereading

Bernadette Conrad: Dorfdichter von Welt
Die Zeit, 30.10.2014

Carl Wilhelm Macke: LitMag-Weltlyrik: Dylan Thomas
culturmag.de, 12.2.2014

 

 

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Nachruf auf Dylan Thomas: Die Tat

 

Dylan Thomas From Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 1/7.

 


Dylan Thomas – From Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 2/7.

 

Dylan Thomas – From Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 3/7.

 

Dylan Thomas – From Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 4/7.

 

Dylan ThomasFrom Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 5/7.

 

Dylan Thomas – From Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 6/7.

 

Dylan ThomasFrom Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 7/7.

 

Peter Wawerzinek liest aus seinem Widmungsbuch Ich Dylan Ich.

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