IDEALISMUS WÄRMT
das könnt ihr mir glauben;
als er noch in mir brannte
glühten meine Backen
bei Nebel und Frost
und noch im weiten Umkreis
standen Pessimisten
Skeptizisten
und Agnostizisten,
die wärmten sich alle
an meiner Begeisterung
und rieben ihre Hände –
(manche sogar ihre Füße –)
und viele rieben ihr Herz.
Seit ich selbst erkaltet
und, zwar nicht unter die Räuber,
aber unter die Pessimisten,
die Skeptizisten,
Agnostizisten
gefallen bin,
suche ich frierend und freilich vergebens
die Begeisterung eines idealistischen Kachelofens,
die mir das Herz,
diesen kontraktionsfähigen quergestreiften Muskel,
wärmen könnte.
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Bei einem geselligen Abend
(nicht nur mit sich) hat die Autorin, die gewohnt ist, alle Leute zu testen, die Intelligenz ihrer Freunde an einer Liste selbstentdeckter Fremdwörter geprüft, zu denen die Bedeutung gefunden werden mußte. Eines der bestgelungenen Wörter hieß „Ludozymase“ und wurde von einem zufällig anwesenden Chemiker richtig als ein Wirkstoff gedeutet, dessen Vorhandensein oder Überschuß im Körper den homo ludens erzeugt.
Nun, Ludozymase hat sie, die Gerstl. Huizinga würde seine Freude an dem verspielten, intellektuellen, auf Eis gelegten, stechmückenhaften Persönchen haben, das sich noch dazu, eitel genug, aus hi-fi Neurosen (als Psychologin sitzt sie ja an der Quelle) ein höchst individuelles make-up bereitet hat.
Und ihre Freunde werden erfreut sein, daß von den caféabendlichen Giftigkeiten und Verfremdungsspielen auf hohem Niveau ein kleiner druckerschwarzer Niederschlag geblieben ist: ungereimte, spitalweiße Verse über Psychologen und anderen Kram des Alltags sowie Poldi-Huber-Aufsätze mit der Einladung, schrullig zu leben.
Andreas Okopenko, Wort in der Zeit, Heft 6, 1962
Ein Nichts an Quantität
Die sogenannte Kleinkunst hat kein „Anliegen“; sie versucht nicht, mit bewährten Methoden „das Großformatige“ zu errichten; ihr Nichts an Quantität, ihre punktförmige Existenz zwingt sie, innerhalb eines solchen Punktes ohne Ausdehnung die Initial-Zündung zu vollziehen: die Kettenreaktion geschieht dann – oder sie bleibt auch aus – beim Hörer oder Leser. Alle Kleinkunst ist edel und riskiert, immer traditionslos (wie die Kürzestgeschichten von J.P. Hebel) und sprachlich von höchster Perfektion. Das sind ihre Kriterien. Wer entspricht ihnen schon? Wer kann das? Durchaus kann es Elfriede Gerstl, wie ihr kleines Buch Gesellschaftsspiele mit mir beweist, in welches einzelne Stücke aufgenommen wurden, die schon da und dort erschienen waren, wie etwa die Geschichte vom Herrn Nego, der immer wieder das Datum seiner Briefe an die Braut ändert. Vor einigen Wochen aber konnte man unsere Autorin selbst hören, im Hawelka. Und da ergab sich die erstaunliche Beobachtung, daß auch in dieser punktförmigen Gestaltungswelt offenbar Wege der Entwicklung möglich sind, Stürme nicht im Wasserglas, sondern im Wassertropfen, an neue Küsten der Kleinwelt tragend; wo dann, wie eine reizende Muschel am Strande, ein Satz gefunden wird wie etwa dieser: Die mit Folianten zu Bett ging, ist einer kleinen Dissertation genesen. Ein solcher Satz macht schon einen Autor.
Heimito von Doderer, Die Presse, 4./5.5.1963
Weiterer Beitrag zu diesem Buch:
Rudolf Rathei: Die Probe
Neue Wege, Heft 177, 1962
„Schwebend ersetzt die Hand das Fußwerk“
– Elfriede Gerstls Leben und Schreiben in Bewegung. –
ich bin unterwegs, ich reise, ich habe viele Wohnungen
(„Voraussetzungen“)
Dass SchriftstellerInnen oft auf Reisen sind, überrascht nicht weiter. Neben dem traditionellen Reisen, das dem Vergnügen, der Erholung oder dem altehrwürdigen Ideal der Horizonterweiterung dient, kennen AutorInnen auch das ökonomisch bedingte „Tingeln“. Entweder verkauft sich die produzierte Literatur so gut, dass eine große Nachfrage in Nah und Fern an der Person der Autorin beziehungsweise des Autors besteht, oder diese sind von Lesungen in meist deutschsprachigen Ländern schlicht finanziell abhängig. Zweiteres galt lange Zeit in besonderem Maß für Elfriede Gerstl, der es erst relativ spät beschieden war, ihren schon lange existenten Geheimtipp-Status in öffentliches Ansehen und finanzielle Anerkennung umzumünzen. Es gelang ihr lange Zeit hindurch nur mit Mühe, das Auslangen zu finden, und als es 1999 schließlich doch „einträglich“ zu werden schien, wurde ihre Altersversorgung durch die literarische Verwertungsgesellschaft, wie Elfriede Jelinek in ihrer Rede für den Erich Fried Preis feststellte, vorübergehend ausgesetzt, da sie aufgrund der Preisgelder die Obergrenze für eine Anspruchsberechtigung überschritten hatte (Jelinek 2001). Also war Elfriede Gerstl auf Lesungen und das Reisen angewiesen, wovon die vielen Zug- und Flug-Tickets aus mehreren Jahrzehnten beredtes Zeugnis ablegen. Dass sie des Reisens in den letzten Jahren zusehends müde wurde, kann man in verschiedenen tagebuchartigen Aufzeichnungen, die sich im literarischen Vor- und Nachlass im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek befinden, nachlesen, wo sie die Strapazen, mangelnden Komfort und – was sie wirklich getroffen hat – manchmal immer noch fehlendes Interesse an ihrer Literatur beklagt.
Dennoch wissen wir seit Gerstls großem Gedicht „Kleiderflug“ (1995), aus verschiedenen Aufsätzen und Interviews, dass das „Unstete“, das einer SchriftstellerInnenexistenz wohl bis zu einem gewissen Grad eingeschrieben ist, bei ihr andere Ursachen hatte. Aus der fast totalen Isolation nach drei Jahren des Versteckt-Lebens 1945 befreit, fand sie sich in einer repressiven, auf Verdrängung und Wiederaufbau fixierten Nachkriegsgesellschaft wieder, die auf ein jüdisches Mädchen, das mit Mutter und Tante durch glückliche Zufälle der „Endlösung der Judenfrage“ entgangen war, nicht gewartet hatte. Die Sehnsucht nach der Ferne in diesen Jahren beschreibt sie in einem Notizblock von 1998 sehr eindringlich:
Viele meiner z.B. 50er Jahre Hals- oder Stecktücher zeigen Stadtansichten oftmals Venedig und dokumentieren ein schwer durch kurze Urlaube zu stillendes Fernweh, das ich ja kenne, an das ich mich gut erinnern kann. / Überall schien es mir besser, […] fröhlicher als im staubgrauen griesgrämigen Wien.
Als sie weder Zugang zum Literaturbetrieb finden konnte, noch die Hoffnung auf eine eigene Wohnung in Erfüllung ging, machte sie sich, mehr oder minder mittellos, per Autostopp nach Berlin auf, das vermeintlich „gelobte Land“ für junge, ambitionierte SchriftstellerInnen. Hubert Fichte beschrieb sie ihre damalige Situation 1979 in einem Interview ebenso eindringlich wie nüchtern:
Ich hätte zwei Möglichkeiten gehabt, mich umzubringen, oder wegzufahren. Ich habe die banalere Möglichkeit gewählt.
(Fichte 2006)
Getroffen hatte sie diese Entscheidung 1963, verheiratet mit dem Schriftsteller Gerald Bisinger, eine dreijährige Tochter, zu viert im gemeinsamen Haushalt mit der Mutter in einer kleinen Substandardwohnung lebend, die man 1938 von den Nationalsozialisten zugeteilt bekommen hatte als Zwischenstation auf dem Weg in ein Vernichtungslager. Gerstl war nicht das erste Mal per Autostopp unterwegs, aus Kleiderflug (Gerstl 1995) und Bio2 oder was sonst noch los war (Gerstl 2001) wissen wir, dass sie in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre bereits nach Venedig und Paris gefahren war. Die „Flucht“ nach Berlin stellt jedoch einen radikalen Einschnitt in ihrer Biografie dar, es beginnt eine Dekade des Getrieben-Seins, der Unbehaustheit, die maßgeblichen Einfluss auf ihr künftiges Schreiben haben sollte. In Kleiderflug schreibt sie zu den Berliner Jahren beklemmend von „wohnen im unterwegssein“ oder „substituierte[m] wohnen“ (Gerstl 1995). Noch kurz vor ihrer Abreise aus Wien hatte sie an das Bundesministerium für Unterricht ein Exposé für ein Romanprojekt – Die Entdeckung des Ludocym – sowie dessen erste fünf Seiten geschickt. Diese wenigen Blätter zeigen einen möglichen Weg in Gerstls schriftstellerischer Entwicklung, den die Autorin in den kommenden Jahren bewusst nicht eingeschlagen hat. Die Tatsache, dass sie an einem Romanprojekt arbeitete, lässt aufhorchen, hat sie doch den einige Jahre später entstandenen Spielräumen (1977), immer wieder gerne als ihr einziger „Roman“ ins Spiel gebracht, keine Gattungsbezeichnung gegeben und ist der Text doch weit entfernt von einer linearen beziehungsweise konsistenten Erzählstruktur, wie es scheinbar für Die Entdeckung des Ludocym angedacht war. Stattdessen blieb sie bei der kleinen Form, wie sie bereits in den 1950er-Jahren in ihrem Schreiben vorherrschend war.
Elfriede Gerstl war keine passionierte Reisende, das „Draußen“ vor dem Fenster des Zugabteils war ihr suspekt. Man gewinnt bei der Lektüre ihrer veröffentlichten und unveröffentlichten Texte den Eindruck, dass die vielen Zug- und selteneren Flugreisen für sie nur den einen Zweck erfüllten, ohne Zwischenfälle von einem Ort zum anderen zu gelangen, idealerweise von einer Großstadt in die andere. Daher nimmt dieses Thema in ihrem Œuvre – sieht man von dem Gedichtband Vor der Ankunft (1986) und vereinzelten, verstreuten Gedichten ab – einen relativ kleinen Platz ein. Womit keineswegs behauptet werden soll, dass sie sich dazu nicht überaus pointiert, teils sarkastisch, teils sehr persönlich (literarisch) geäußert hätte.
Ein weiterer Aspekt ihrer Biografie, der auf ihr Schreiben Auswirkungen hatte, ist neben der ausgiebigen Reisetätigkeit das Faktum, dass Gerstl, selbst wenn sie sich für längere Zeit an einem Ort aufhielt, nicht zur Ruhe kommen konnte, sie seit den frühen 1970er-Jahren vor allem auf grund ihres „zweiten Beruf[s]“, dem „Tandeln und Ver-Tandeln“, oft gehetzt war. Wie sie in einem Spiralheft von 1979 dazu ausführt, komme sie nur mehr abends dazu, zu lesen, „was man mir auch schon für tagsüber, wo ich herumhaste, nachsagt, ich sitz in Lokalen. / Wie immer ich mich abstrampel, immer wirds im Kreise meiner Kollegen, die sonst mit mir ja nicht tauschen möchten, heißen: die G. arbeitet nichts und sitzt im Kaffeehaus.“ Dieses Getrieben-Sein hat sie später in Zweizeilern, die sich in einem Notizheft von 2003 finden, stark verdichtet zum Ausdruck gebracht:
ich bin so mobil
wie ich will
kann man dort lesen, und
ich bin tüchtig
im flüchten
Herbert Wiesner gebraucht für diese unstete Existenzform sehr treffend nach dem Psychiater William G. Niederland den Begriff des „Survivor Syndrome“. Und Wendelin Schmidt-Dengler hatte bereits anlässlich des Erscheinens von Kleiderflug festgestellt:
Auch wenn sich die Autorin jedes Pathos schon durch die Form ihrer Texte verbittet, sollte diese Erfahrung [das Leben im Versteck] bei der Lektüre mitgedacht werden. Sie ist nicht zuletzt verantwortlich für die Bewegung, in der sich das Subjekt stets befindet, und dem daher Seßhaftigkeit zum Rätsel wird
(Schmidt-Dengler 2001).
Vieles, was mit dem Themenkomplex des Reisens, des Fort-Bewegens in Zusammenhang steht, Gedichte, Reflexionen, Tagebuchnotizen, blieb unveröffentlicht, hat die offizielle Zuschreibung zu Elfriede Gerstls Werk nie erfahren. Doch je tiefer man in das bekannte wie das bisher unbekannte Werk eintaucht, desto deutlicher wird der Zusammenhang zwischen Reisen und Schreiben, zwischen einer Existenz in Bewegung und einem Werk, das sich so vielfältig präsentiert wie die unterschiedlichen Landschaften, die man beim gelegentlichen Blick aus dem Zugfenster wahrnimmt.
Schreiben in den Zwischenräumen. Unterwegs von W nach B
Das wichtigste und wohl liebste Fortbewegungsmittel außerhalb der Stadt war für Elfriede Gerstl der Zug. Dafür gab es nicht nur ökonomische Gründe, wie sie in dem Gedicht „von den mitteln“ (Gerstl 1999) anklingen lässt, vielmehr wurden ihr vor allem die zwölfstündigen Zugfahrten zwischen Wien und Berlin – von 1963 bis 1972 häufig im Zwei- bis Vierwochenrhythmus – zu einer Zeit des Atemholens, der Reflexion und des Schreibens. Freimütig bekennt sich Gerstl am 24. Juni 1979 ein:
Schreibe seit langem nur noch in der Bahn, jetzt aber seit ich (aus)andauernd Besuch habe, d.h. die Wohnung und mein Hirn ständig verstopft ist, komm ich überhaupt nicht mehr zu mir.
Tatsächlich finden sich in ihren Notizheften und -blöcken seit den 1950er-Jahren – den ältesten erhaltenen – über die Jahrzehnte zahllose Aufzeichnungen, denen häufig Datum und Entstehungsort beigefügt sind. Deshalb sind wir heute in der glücklichen Lage, nicht wenige ihrer Gedichte, Essays, Hörstücke et cetera als auf Reisen entstanden zu identifizieren. Wenn auch der endgültige Feinschliff anderswo, an weniger bewegten Orten und meist auf Typoskripten und später Computerausdrucken vorgenommen wurde, die erste Idee, Skizze, manchmal sogar schon die Reinschrift, verdankte sich nicht selten einer Zugsfahrt. Wie wir zudem aus einem unveröffentlichten Text Gerstls wissen, den Herbert J. Wimmer in seinem grundlegenden Buch In Schwebe halten zitiert, hat die Autorin große Teile von Spielräume während der Fahrten auf der Strecke Berlin – Wien geschrieben (Wimmer 1998).
Ein zentraler Text in Gerstl Schaffen, das Gedicht „Kleiderflug“, ist, wie sich in einem Notizheft von 1992/93 nachvollziehen lässt, zwischen Dezember 1992 und Februar 1993 in seinen Grundzügen auf mehreren Zugsfahrten entstanden, genauer zwischen Wien und München. Eigentlich für die Wiener Festwochen 1993 als Installation entwickelt, finden sich in den Aufzeichnungen schon starke Entsprechungen zu der 1995 veröffentlichten Form. Erste Gedanken formulierte die Autorin auf der Fahrt von Wien nach München am 18. Dezember 1992. Einer Auflistung von anstehenden Terminen folgt – unter einem Trennstrich – wie ein Motto:
meine Kleider sind meine
(wechselnden) Wohnungen
kaum hab ich mich gewohnt – bewohne ich sie will sie mir der Zeitwind wegwehen.
Bereits unterstrichen und selbstbewusst zeigt sich der Titel „Kleiderflug“, ein Alternativentwurf, „Jahrzehnte – DEFILÉ der 6 Jahrzehnte“, scheint, an den Rand gedrängt, nie weiter in Betracht gezogen worden zu sein. Als wäre die Angst vor der allzu großzügigen Freigabe autobiografischer Einblicke damit zu bannen gewesen, schreibt sie in einen durch eigens gezogene Linien abgetrennten Kasten:
ich kann im Hintergrund bleiben meine Kleider stellen mich aus repräsentieren die Verg.
Auf der Rückfahrt am folgenden Tag beschäftigt sich Gerstl jedoch mit einem anderen Thema; statt weiter in ihre Biografie zu tauchen, stellt sie Überlegungen zur materiellen Armut vieler SchriftstellerInnen und den daraus resultierenden psychischen Beschädigungen an. Den nächsten Eintrag macht sie, wieder in der Bahn von Wien nach München, erst am 3. Februar 1993, und dieser trägt bereits den Titel „Kleiderflug oder lost clothes“. Sind die nun folgenden Erinnerungen anfangs noch als Fließtext ohne Zeilenumbrüche verfasst, wendet sie ab der zweiten Seite immer wieder jene strenge formale Aufteilung in Zeilen mit jeweils sechs Wörtern an, die dem Gedicht zu seiner atemlosen Erzählung verhilft. Die weiteren Seiten des Notizbuches enthalten eine Mischung aus Überlegungen zur Installation für die Wiener Festwochen 1993 und Textpassagen, die sich zwei Jahre später in Kleiderflug wiederfinden, und zeigen die intensive Auseinandersetzung der Autorin mit ihrer Biografie. Die Seiten sind hektisch beschrieben, Gerstls an sich schon schwer lesbare Handschrift wirkt noch eine Spur unruhiger, die Autorin notiert auch vertikal in das Heft, was sie sonst selten tut. Die Aufzeichnungen während dieser Zugfahrten von Wien nach München lesen sich wie das Journal einer Reise in die eigene Vergangenheit.
Damit sind wir schon mitten im Zug(abteil) als besonderem Ort der Inspiration für Elfriede Gerstl. Dass es sich dabei offenbar um einen der wenigen, wenn nicht sogar den einzigen Rückzugsort handelte, an dem die Autorin zur Ruhe kommen, an dem sie sich der Introspektion und Kreativität hingeben konnte, hat sie nicht nur in Interviews bestätigt, sondern auch in ihren privaten Aufzeichnungen dargelegt, etwa in einem auf 1997/98 beziehungsweise 2008 zu datierenden Notizblock. Ausgangspunkt für die dort angestellten Überlegungen, die sie mit „Reise-Literatur“ übertitelte, war der Entstehungszusammenhang von „Vor der Ankunft“.
Vor der Ankunft denkt man an die eben Verlassenen und an das zu Erwartende – die Bahn ist ein Ort des Ausruhens und Planens von Zukünftigem, im Moment wenigstens kann einem nichts abverlangt werden, wenn ich nirgend so eigentlich bin bin ich am ehestens bei mir.
Einen noch profunderen Einblick gibt ein unveröffentlichtes, ebenfalls im Zug entstandenes Gedicht, das – stellenweise kaum entzifferbar – zwischen 1988 und 2001 entstanden sein muss:
VOM ZUGWERK
das Wegschmeißen entbehrlicher Zettel
(sozialballast
der die Taschen verstopft)
die Knödel des Unerledigten
im Speisewagen sichten
bei sich sein
und doch nicht
allein
[…] in einer Wohnung
die nach […] schreit
jeder kleine Abschied
hat ein alzer
[…] von großen […]
der angestaubte Zeitungsstoß
neben meinem Bett
war […] mir hier recht
ich bin nicht Herrin meiner Ruhe
oder Unruhe
wenn die Briefe ungelesen
zwischen Klamotten gefallen sind
die eben erst ertandelten
Klamotten auf einen
Zeitschriftenberg geschleudert
bleibt […] ein unruhegeist
kein […]
ins Treppenhaus
wo ich mich frage
wohin es jetzt wieder geht
erst im Zug haben die Treppensteiger
eine erzwungene Pause
schwebend ersetzt die Hand
das Fußwerk
W-M
20.1.88
Im Gegensatz zu den Fortbewegungsmitteln Auto und Flugzeug, zu denen Gerstl ein ambivalentes bis gespanntes Verhältnis hatte, scheint sie der Zug als Arbeits- und „Lebensraum“ auf Zeit selten enttäuscht zu haben. Die relative Bewegungsfreiheit in den Abteilen, das Auf- und Abgehen auf dem Gang, gelegentliche Ortswechsel zum Speisewagen, all das kam Gerstls Vorstellung vom „kreativen Freiraum“ sehr nahe, wie sie in einem Interview für das Magazin @cetera bestätigt hat:
Da verdankt sich ein Beginn einer Zeile oft durch die Bewegung des Fahrens ode; auch durch das Gehen. Da bekommt man manchmal den Beginn, die erste Zeile geschenkt. Die erste Zeile tritt auf wie eine Person, wie ein Gast und dann muss man arbeiten.
(Gerstl 2002)
In den letzten Jahren ihres Lebens konnte sich Gerstl möglicherweise mehr auf die Rolle der Beobachterin zurückziehen, die selbst nicht unbedingt produktiv sein musste. Auf der Rückseite eines Kassabons aus dem Jahr 2007, der sich in einem Notizheft von 1964 gefunden hat, schreibt sie, das winzige Stück Papier in seiner Gänze ausnützend, in unregelmäßigen Lettern auf die Rückseite: „müssig in der bahn – alles arbeitet – die vermessung des müssiggangs“.
„In der Landschaft lauern die Gefahren der Natur“
Vom Blick aus dem Fenster
Sind die Positionen zu Wesen und Funktion des „Innen“ ihres bevorzugten Fortbewegungsmittels relativ konstant geblieben, so muss man Elfriede Gerstls Verhältnis zum „Draußen“ als zumindest zwiespältig bezeichnen. Zwar wird ihr bekenntnishaftes Gedicht „natur – nein danke“ gerne als Beispiel für ihre Naturphobie angeführt, doch zeigt sich bei genauerer Lektüre ihrer Texte und Tagebuchnotizen, dass sich die Autorin so eindeutig nicht festlegen wollte und die bewusst gesuchte Distanz zum „Draußen“ durchaus eine bestimmte Funktion erfüllen sollte. Es kann kein Zufall sein, dass Gerstl in diesen insgesamt wenigen Hinweisen häufig den Blick aus dem Fenster, meist aus dem Zugabteil, wählt und sich der Außenwelt nicht selbst aussetzt, wissen wir doch aus ihrer Biografie von dem Versteck in einer verdunkelten Wohnung und dem angstbesetzten Blick durch die Löcher des Verdunkelungsrollos:
Sich diesen Löchern zu nähern, war aber nicht ratsam, weil man von gegenüber beobachtet werden konnte, erst abends konnte ich schon mal einen Blick riskieren in die beleuchteten Kleinwohnungen wo Leute am Tisch saßen oder im Sommer im Unterhemd herumgingen.
Ein etwa gleichaltriges Mädchen hatte meine ganze Bewunderung. […] Ich hatte keine Hoffnung sie jemals kennenzulernen.
(Gerstl 1981)
In den ersten Jahren ihres Unterwegs-Seins ist Gerstls Blick aus dem (Zug-)Fenster auf das „Draußen“ noch ein anderer, ein aufnehmender, der sie zu heiteren, sprachverspielten Beobachtungen verleitet, wie beispielsweise am 23. Juli 1958 während einer Bahnfahrt:
Tennisplatzfarbene Wäscheleinen zwischen durchlöcherten Totempfählen; dichtbewaldete Berge, die lange nicht mehr beim Friseur waren u. die man kraulen möchte; ein geducktes Haus juckt sich die Seite an einem grauen zahnlosen Baum.
Die Außenwelt wird mit bewusst ironisch-schrägem Blick beäugt – wir lesen in diesen Aufzeichnungen, die auf mehreren Zugfahrten innerhalb weniger Tage entstanden sind, beispielsweise von gepflanzten „junge[n] Eifeltürme[n] – zw. ihnen Wäscheleinen gespannt, auf denen frierende Notenköpfe sitzen u. auf den Wind warten, der sie trocken u. in den Schlaf singt“ –, doch scheint die Betrachterin durchaus (noch) Gefallen an den vorbeiziehenden Eindrücken zu finden und sich nicht von ihnen bedroht zu fühlen. Es ist das schützende Fenster dazwischen. Dass die Natur in den Anfängen ihres literarischen Schaffens jedoch auch ihre Schrecken barg und man ihr nicht trauen durfte, wenn sie einem körperlich oder seelisch zu nahe kam, lässt sich ebenso amüsant wie beunruhigend an einem zuerst 1959 in Wort in der Zeit erschienenen Gedicht mit dem Titel „Durch eine Frühlingsnacht gehen“ ablesen. Die schaurig-romantische Stimmung, die der Titel und die ersten beiden Zeilen evozieren, wird bereits in der dritten Zeile in ihr Gegenteil verkehrt:
Wolken und wandernder Mond
Sturm klappert um Hexenhäuser
in jedem Vorgarten als Wachhund
eine Giftschlange
auf jedem Dach als Wächter
eine Giftwolke
um jeden Zaun
schattige Falleisen:
schwarze Baumbesen reitet der Sturm,
pfeift seinen Gefährten
und schreit mit den Kehlen
verlassener Kinder.
Die letzte Strophe des Gedichts schließlich scheint die Vermutung zu untermauern, dass ein ungeschütztes Draußen-Sein schon lange für Gerstl eine körperlich-seelische Bedrohung darstellte:
Kann denn das Rote dort drüben
die Strassenbahn sein
mit den Bänken aus Holz
und den schützenden Wänden?
(Gerstl 1982)
Bedenkt man zudem, dass Gerstl aufgrund ihrer Traumatisierung im Versteck in den ersten Monaten nach der Befreiung nicht alleine auf die Straße gehen konnte (Fichte 2006), legt sich über den scheinbar heimeligen Zufluchtsort der Straßenbahn eine bedrückende autobiografische Konnotation.
Das Unbehagen, ja die Furcht vor einer unkontrollierbaren Natur, die nicht urban gezähmt ist in „Beserlparks“ oder „Schanigärten“, ist Gerstls späteren Texten, soweit sie sich denn überhaupt dazu äußert, ironisch überzeichnet, aber unmissverständlich eingeschrieben. Das bereits erwähnte Gedicht „natur – nein danke“ kann hier als programmatisch gelten, wenn die Autorin mit einem wohligen Schauer von „vergifteten bäume[n] / […] befallenen wiesen / diese[r] verlauste[n] landschaft“ schreibt, die sie ängstlich hinter dem sicheren „zugfenster meines abteils“ betrachtet (Gerstl 1986). Bei genauerer Lektüre anderer Gedichte aus demselben zeitlichen Umfeld fällt übrigens auf, dass sich hinter diesem scheinbaren Ekel die Verbitterung über eine schrankenlose Umweltzerstörung verbirgt. Es sind dies tatsächlich die wenigen Zeugnisse von „Öko-Lyrik“, die sich im Werk Elfriede Gerstls finden lassen. Die 1980er-Jahre waren die Dekade des „sauren Regens“, der Sorge um „Bruder Baum“ und des Heraufdämmerns eines ökologischen Bewusstseins, das sich zumindest hierzulande bei den EndverbraucherInnen in leidenschaftlichem Mülltrennen manifestiert hat. So spricht Gerstl denn auch von „bissigen bakterien“, „killerviren“, einem „riesige[n] feindliche[n] heer“, weigert sich infolgedessen, „ins verseuchte grün“ hinauszutreten. Ähnlich getönt ist das Gedicht „sommer in entenhausen“, das vermutlich unter dem Eindruck des Reaktorunglücks in Tschernobyl 1986 entstanden ist.
Sehr nüchtern und ohne Ironie hat sich Elfriede Gerstl zu ihrem Verhältnis zur Natur, also der Welt außerhalb der Stadt, unter anderem 2002 geäußert:
Ich habe in der Tat meine Probleme, weil ich die Natur als nichts Harmonisches, sondern als etwas Brutales empfinde. […] Ich finde, dass die Natur keineswegs etwas Ruhiges ist, wo man seine Hängematte reinhängen kann, sondern dass es da brutal zugeht.
(Gerstl 2002)
Entsprechend waren die Möglichkeiten einer Annäherung sehr beschränkt. In einem Notizblock von 1996/98 finden sich dazu im Dezember 1996 aufschlussreiche Gedanken, die Gerstls Sichtweise auf die Natur und die ihr einzig mögliche Form des Miteinander-Auskommens beschreiben:
in der Landschaft lauern die Gefahren der Natur, wenn ich mich in sie begebe, verfügt sie über mich, […] – durchs Fenster (bes. durchs Zugsfenster) habe ich sie als Anblick unter Kontrolle – ich bin in einem Landschaftsfilm der vor mir soz. abgefahren wird. So verliere ich mich nicht in d. L. u. bin in ihr nicht verloren.
Dieses Bild der Landschaft, die als Film an ihr vorüberzieht beziehungsweise -gezogen wird, taucht öfter in den Gedichten mit Bezug zum „Draußen“ auf und ist von der Cineastin wohl nicht zufällig gewählt. Analog zur Rückwandprojektion in älteren Filmen, wo die separat abgefilmte, meist vorbeiziehende Landschaft abgeflacht, prospektartig erscheint, erzeugt sich die Autorin mit ihrem Bild des vorbeiziehenden Films ebendiesen Eindruck von Zweidimensionalität und verhindert damit, in der Perspektive der Landschaft verlorenzugehen.
Eine besondere, unmittelbar mit der Betrachtung der Außenwelt zusammenhängende Stellung unter Gerstls Transportmitteln hat das Flugzeug. Das raschere Erreichen des Zielortes, besser der Zielstadt, wäre der Autorin bestimmt keine Erwähnung wert gewesen. Zudem bleibt für kreative Anflüge bei den kurzen Intervallen zwischen Start und Landung, die noch durch diverse Durchsagen und das Austeilen von Essen unterbrochen werden, nur wenig Zeit, und Gerstl dürfte selten länger als ein oder zwei Stunden geflogen sein. Es scheint, als ob der auktoriale, „gottgleiche“ Blick auf die Welt, auf das „Draußen“, für sie eine besonders beruhigende Wirkung hatte, die sie in dieser Form sonst kaum erleben konnte. Aus dem Interview mit Hubert Fichte wissen wir, dass Elfriede Gerstl Ende 1963, mit einer Einladung ans Literarische Colloquium Berlin im Gepäck, zum ersten Mal in ein Flugzeug gestiegen ist. In einem Spiralheft von 1963/64 hat sie am 15. Dezember 1963 am Flughafen Frankfurt ihre Eindrücke festgehalten. Die Worte, mit denen sie den Flug beschreibt, sprechen nicht nur von großer Euphorie, sondern können mit dem Wissen um ihre Phobie vor dem „Festland“ durchaus als Zeugnis einer seelischen Befreiung gelesen werden:
Man muß nur durch die Nebeldecke stoßen – darüber ist ein zweiter, ein blauer Himmel die Sonne scheint auf schneeweiße, wolkige Bergformationen und man fühlt sich befreit und glücklich. Wenn der Druck im Kopf dann immer viel weiter zunimmt, sind die schlagobersmilden […] Gebirgsketten weit unten geblieben. In einem kreisförmigen Regenbogen vibriert ein dunkelgraues Schattenflugzeug.
Die Worte sind hastig auf das Papier gebracht, mehrere Streichungen und Einfügungen zeugen von dem Bemühen, das eben Erlebte rasch in eine Ordnung zu bringen und festzuhalten.
Mehr als drei Jahrzehnte später, im November 1998, verbrachte Elfriede Gerstl einige Tage mit ihrer Enkelin Anita („Niti“) im Ausland, gereist wurde mit dem Flugzeug. Am Bestimmungsort fand die Autorin scheinbar keine Gelegenheit zum Schreiben, doch während der bei den Flüge nützte sie die kurze Zeit, ihre Gedanken in wenigen Zeilen in einem Notizblock festzuhalten. Beim Rückflug schreibt sie:
auch beim Rückflug, erst einmal das Einfahren in hellgraue Wattebäusche – höher dann Sonne über den Wolkenbergen. Niti ist vielleicht angfressen weil ich lieber allein sitze und beim Fenster rausschau, aber so oft habe dieses Vergnügen ja nicht. Oho diese Schneeweiße. Der Luxus sie im warmen und (scheinbar) geschützten Maschinen-Bauch zu überfliegen.
Da ist es wieder, dieses Bedürfnis nach Schutz vor dem „Draußen“. Der Blick aus dem Fenster beruhigt, da die Welt unter ihr nicht einmal mehr als Prospekt wahrnehmbar ist, sondern sich hinter einer Wolkendecke auflöst. In dieser Hinsicht mag Fliegen die ideale Art der Fort-Bewegung für Elfriede Gerstl gewesen sein. Die Gefahren einer verseuchten, brutalen, unkontrollierbaren Natur scheinen – zumindest für kurze Zeit – endgültig gebannt, die Reisende kann im Bauch der Maschine beruhigt abwarten, bis das Flugzeug aufsetzt, ehe sie sich in die sichere Stadt begibt, die ihre Natur längst gebändigt hat.
„(fast) überall (fast) gleich“. Orte der Sehnsucht?
In dem bereits zitierten Interview in @cetera antwortete Elfriede Gerstl auf die Frage, ob es sie denn an einen bestimmten Ort ziehen würde:
Das ist eine gute Frage, da möchte ich jetzt selber draufkommen. Nach Berlin fahre ich, wenn ich gerade Lust darauf habe. Ich habe viele alte Bekannte dort. Ich kann nicht sagen, ich sehne mich an einen Ort, wo ich schwer hinkommen kann. Einen ,Sehnsuchtsort‘ habe ich im Moment nicht.
(Gerstl 2002)
Hatte Elfriede Gerstl schließlich doch noch ihren Frieden mit Wien geschlossen? Dass „das Land“ für sie kein Ort war, an dem man Erfahrungen sammeln, an dem man sich erfahren konnte, ist deutlich geworden. Noch 2006 heißt es in was immer noch wünschenswert ist / und was nicht:
nie hat es mich in indische gebirge gezogen
armut und unwissenheit zu studieren
ich muss auch keine wasserfälle
beim tosen belauern
und touristen beim betrachten betrachten
Wie verhielt es sich also mit „der Stadt“, ihrem natürlichen Lebensraum, den sie nur unter besonderen Schurzvorkehrungen und „hinter Glas“ verlassen wollte? Liest man weiter, erhält man eine ebenso eindeutige wie vielschichtige Antwort:
städte besuche ich wie cafés
ohne vorangegangene sehnsucht
verschiedene menschen halten mich
auf touren und auf trab
ihre zustimmung ist mein gipfelglück
ihr verständnis für meine kopfwanderungen
mein reiseziel
(Gerstl 2006).
Um Städte mit dem gleichen Selbstverständnis wie Cafés besuchen zu können, bedarf es großer Vertrautheit mit ihrer Topografie, ihren Eigenheiten und, für Gerstl das Entscheidende, mit ihren Menschen. Kaffeehäuser waren für die Autorin ein vertrautes Habitat, hier hielt sie sich häufig auf. Wie also brachte sie Städten – und vor allem welchen? – dasselbe Vertrauen, dieselbe Bereitschaft zum Sich-Niederlassen entgegen? Ihre beiden „Lebensstädte“ Wien und Berlin haben sie, wie wir aus vielen Selbstzeugnissen wissen, alles andere als zuvorkommend behandelt. In Wien lebte sie drei Jahre lang versteckt, um der Vernichtung zu entgehen, in den 1950er-Jahren konnte sie nicht Fuß fassen in einem männlich dominierten Literaturbetrieb. Berlin später wollte ihr als „Ausländerin“ ebenfalls nicht zur Heimat werden. Widmet man sich den Tagebuchnotizen der Jahre 1954 bis 1979, beschreibt man also einen Bogen vom Beginn der schriftstellerischen Laufbahn über die Zeit in Berlin bis zur endgültigen Sesshaftigkeit mit der Anschaffung einer Wohnung im ersten Bezirk Wiens, wird man unversehens mit den Nöten einer Frau konfrontiert, die – biografisch begründet – häufig vereinsamt war, kaum Anschluss an die relevanten Gruppen finden konnte und an der Unmöglichkeit litt, am jeweiligen Ort ihres Verweilens so etwas wie Zufriedenheit, nein, wie Sicherheit zu empfinden.
Literarisch hat sich Elfriede Gerstl nur selten dazu geäußert, sieht man von dem Gedicht „Kleiderflug“ und einigen ihrer Essays ab, in denen sie auf das bedrückende Klima Wiens im Nachkriegsösterreich und in den Jahren der Restauration hinweist. Ihre Gedichte, die Wien oder (seltener) Berlin zum Inhalt haben, lesen sich heiter, ironisch, können einen lyrischen Tonfall haben, sind aber keineswegs von ihren traumatisierenden Erfahrungen in der großen und der kleinen Weltstadt gefärbt. Dabei müssen die Jahre in Berlin tiefe Spuren in ihr hinterlassen haben: häufig wechselnde Wohnsitze, kaum Anerkennung für ihr Schreiben und ihre Auffassung von Literatur, fallweise tatsächlich aus „hertie- oder karstadt[säcken]“ lebend, wie es in „Carolines unordentliche wohnsitze“ 1982 heißt (Gerstl 1982). Dieser beklemmende Text, der nur wenig verschlüsselt von Gerstls „Obdachlosigkeit“ in Wien und später in Berlin erzählt, findet seine reale Entsprechung in einem Notizblock von 1967/68, wo sie am 15. November 1967, um ironische Distanz bemüht, einträgt:
[…] da war kein bleibens mehr für unser-Gerstl-eins, da stand wie weiland Goethestraßens etwa nur noch der Weg in die Flucht offen das tagsübrige durch Cafés u. Kaufhäuser lungern brauchte nicht gelernt zu werden, das haben wir schon mal gehabt, das baden am Bahnhof, das essen im Kaufhaus, das kauen an Stehpulten, der Belohnungskaffee im Belohnungscafé, die Schmutzwäsche im Plastikbeutel in der schwerwerdenden BEA-Tasche das tägliche Strümpfekaufen weil man keine waschen kann (könnte man im Bahnhofsbad aber wo trocknen) das angezogen schlafen in kalten Gästezimmern der wenigen […] Bekannten.
Die Bilanz einige Tage später, nachdem sie eine provisorische Bleibe gefunden hatte, fiel nach vier Jahren Berlin ernüchternd aus, denn „hier also bin ich jetzt völlig allein, gehe wie ein Tourist oder Gastarbeiter allein in die Cafés der Einsamen“. Das Gefühl der Fremdheit, das sie in den Berliner Jahren nicht ablegen konnte, wurde ihr durch die Reaktionen ihrer Umwelt bestätigt, schildert sie Hubert Fichte doch, dass man sie immer wieder für eine „Ausländerin“ gehalten und sie mehrmals sogar in radebrechendem Deutsch angesprochen hatte: „Du Frau dort zahlen.“ (Fichte 2006) So blieb der Autorin oft nur die Sehnsucht nach der jeweils anderen Stadt, wie sie sich, ebenfalls 1967, eingestand:
Einige Zeit habe ich mir angenehm vertrieben, indem ich mir etwa in B. die angenehmen Begegnungen in Wien vorgestellt habe u. umgekehrt, sodaß ich immer eine angenehme Zeit […] der Fluchtstrecke mir vorzustellen vermochte; diesen Schwindel mir und Gesprächspartnern gegenüber habe ich aufgegeben für mich ist es (wie für fast jeden) (fast) überall (fast) gleich.
Erst als sie sich zugunsten von Wien entschieden hatte und nur noch „zum Vergnügen“ nach Berlin fuhr, entspannte sich Gerstls Verhältnis zu dieser Stadt und sie konnte sogar so etwas wie Vorfreude empfinden, wenn sie an die Besuche bei ihren FreundInnen dachte.
Als sie in Wien gegen Ende der 1970er-Jahre die häufig wechselnden Wohnsitze nicht mehr ertrug und sich mit der Wohnung in der Kleeblattgasse die Möglichkeit zur Sesshaftigkeit eröffnete, war Elfriede Gerstl keineswegs euphorisch, sondern tief verunsichert, denn sie musste sich die Frage stellen, „[w]arum klammer ich mich denn an eine Stadt, die mich (noch immer) so zurückweist.“ Und schließlich, beinahe resignierend, stellte sie fest:
Jetzt mache ich etwas was mir ganz ungewohnt ist: ich klammer mich an die Wohnung in der Kleeblattg. (anstatt wie sonst immer auf die Walz zu gehen und wieder und wieder zu übersiedeln) Sitz ich denn fest, wenn ich sie kaufe, dh. die Ablöse […] bezahle. Ich pick halt am 1. Bez.
Spät erst scheinen die in der Vergangenheit zugefügten Wunden vernarbt und kann Wien, vielleicht weniger durch seine Menschen, als durch die Topografie des ersten Bezirks, ein Rückzugsraum für die Autorin werden, wenn sie, aus der Enge der Wohnung fliehend, die Straßen und Gassen ihres eigentlichen Wohnzimmers aufsucht:
wenn körpersignale angst machen
oder ein verbockter kopfträger
mich ärgert
gleich aus dem haus &
durch die strassen der innenstadt
wandern
[…] der heiligenkreuzerhof dämpft
die immer noch flatternden nerven
gleich kann ich wieder
über mich lachen
(Gerstl 2006).
Damit erfüllte sich das, was das „Draußen“ jenseits des Fensters des Zugabteils weder versprechen noch einlösen konnte: Elfriede Gerstl befreite sich für Augenblicke aus der Beklemmung ihrer biografischen Beschädigungen und konnte sich in der Stadt auflösen, wie sie sich in „halbschlafgedicht 2“ (Gerstl 2006) als Schnee verstreut:
heute fühl ich mich eins mit dem schnee
ich fliege als flocken
kein versteck ist vor mir sicher
wie ein junger hund
aaaaaaoder ein kleinkind
stecke ich meine nase
aaaaaain die verborgensten winkel der stadt
alles verweisse ich mit meinem weiss-sein
mit dem wind tanze ich
aaaaaawir wirbeln über die dächer
im vertrauen – er ist mein liebhaber
wir umarmen uns im flug
wenn er mich verlässt
lege ich mich als weiche haube
aaaaaaauf die dinge
aaaaaaaaazur ruhe
Eine besondere und fast ausschließlich positive Beziehung hatte Elfriede Gerstl zu Rom – zumindest erhält man diesen Eindruck bei der Lektüre ihrer Notizbücher. Bei ihrem ersten Besuch 1968 anlässlich eines einmonatigen Romstipendiums war sie, wohl unter dem Eindruck der höchst problematischen Lebenssituation in Berlin und Wien, stark verunsichert, fühlte sich von aufdringlichen Männern belästigt und fragte sich nach wenigen Tagen bereits, „[u]nd das soll ich noch 3 Wochen aushalten, das Alleinsein, u. die daraus wachsende Unbehaglichkeit, die keine Arbeitsstimmung erzeugt […]“. Zwanzig Jahre später, als sie Herbert J. Wimmer in Rom besucht, ist von einer Verunsicherung nichts mehr zu lesen, vielmehr scheint Gerstl hier möglich zu sein, was sie in „halbschlafgedicht 2“ erträumt: ein Sich-Auflösen, ein unsichtbares Dazugehören.
Plötzlich nicht mehr Außenseiter sondern die (körperliche) Norm sein. Alle Geschäfte offerieren kleine Schuhe in Mengen, stellen 35er u. 36er in die Schaufenster auch Kleidungsstücke in Gerstl-Größe. Deutsche Riesinnen suchen verzweifelt nach Angemessenem wie ich es mein Leben lang tun mußte. Mit vielen kaffeetrinkenden Damen in den Bars auf gleicher Höhe.
Werde auch von Hausfrauen im Supermercato angeredet, die über die Käsepreise klagen wollen. Fühle mich sehr unauffällig.
Wie sehr ihr Rom ans Herz gewachsen sein muss, ist in Notizen, datiert mit Ende September 1996, zu lesen. Aus ihren Aufzeichnungen spricht große Wärme und Sympathie sowie eine vibrierende Vorfreude darauf, sich die Stadt anzueignen, ihr das Intimste herauszulocken:
in Rom in der Sonne schwitzen ich glaube es kaum, nah dem Campo del fiori, einmal begangene Straßen abwandern entlangschlendern immer auf der Hut vor den blitzschnell heransausenden Rollern, Mopeds Radeln, Vespas – wie bitte sagt man Brosche auf It. aber natürlich kaufe ich nichts sondern befühle mit Blicken und Fingern ihre Schönheit.
Eine Stadt frei von angstbesetzten Erinnerungen, die der Autorin seit jeher schwer auf den Schultern lasteten, wenn sie Anschluss finden wollte an Menschen und Orte. Diese Gelöstheit zeigt sich übrigens auch auf den Fotos, die Herbert J. Wimmer während einiger gemeinsamer Aufenthalte geschossen hat. Wäre es nicht schön, sich vorzustellen, dass Rom jener Sehnsuchtsort war, der Elfriede Gerstl 2002 nicht erinnerlich sein wollte?
Martin Wedl, aus Christa Gürtler und Martin Wedl (Hrsg.): Elfriede Gerstl „wer ist denn schon zu hause bei sich“, Paul Zsolnay Verlag, 2012
Brigitte-Schwens Harrant: „mein himmel ist nicht voller geigen“
Barbara Wiener im Gespräch mit Elfriede Gerstl – Freie Autorin, lebt in Wien
Elfriede Gerstl aufgefrischt von Peter Clar, Anna-Lena Obermoser und Herbert J. Wimmer am 8.3.2022 in der Alten Schmiede Wien
Laudatio gehalten am 28.11.1999 anläßlich der Verleihung des Erich-Fried-Preises an Elfriede Gerstl.
Laudatio zum Georg Trakl-Preis 1999 an Elfriede Gerstl.
Zum 10. Todestag der Autorin:
Daniel Hadler: Erinnern an die „Untertreibungskünstlerin“
Kleine Zeitung, 9.4.2019
Zum 90. Geburtstag der Autorin:
Sabine Scholl: Flüchtig, vorläufig, schwer zu fassen
Die Furche, 24.5.2022
Sabine Scholl: Existieren unter prekären Bedingungen: Im Gedenken an Elfriede Gerstl
Der Standart, 30.5.2022
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Nachrufe auf Elfriede Gerstl: Die Presse ✝︎ Die Welt ✝︎ Kronenzeitung ✝︎ oe24 ✝︎ Trauerrede
Agnes Heginger performt einen Text von Elfriede Gerstl während OUT OF THE BLUE im Klangturm St. Pölten am 1.10.2011.








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