RATSCHLÄGEN FÜR EINEN LITERATEN
in wien fall hin
nach berlin kannst ziehn
nach bogota alser toter
faulenz in florenz
in prag tag
in paris an gstiess
in rom
aaaaaasuch den stefansdom
in den abruzzen
aaaaaaaaaaaaaakauf stuzzen
lieb in leoben
fozen in bozen
hab an lebenswandel
aaaaaaaaaaaaim alpenlandl
und dicht
aaaaaaaaüberhaupt nicht
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Es gilt der Satz:
Lyrik ist unübersetzbar, und die Schwierigkeiten der Übertragung nehmen mit der Qualität der Gedichte zu. Es gilt aber auch der Satz: Keine Gattung fordert so sehr zur Übertragung heraus wie Lyrik, die Gedichtübersetzung ist das Übungsgelände für fast jeden Dichter, der dadurch die ihm eigene Sprache gewinnt, daß er aus der fremden überträgt, sich am fremden Gedicht erprobt, sich in die fremde Sprache einarbeitet, sich daran abarbeitet. Beide Sätze, gegeneinander gehalten, ergeben das Paradox, innerhalb dessen sich die literarische Übersetzung bewegt, und die Einsicht in den Prozeß der Übersetzung bedeutet auch Einsicht in das Funktionieren der modernen Lyrik, und nicht nur dies: Jede Übersetzung ist auch Interpretation. Wer Lyrik übersetzt, muß sich deklarieren, er kann sich nicht dem vagen Wohlgefallen an den Versen überlassen. Dies als Vorspruch zu einem Gedichtband, der soeben in der Edition Freibord erschienen ist. Elfriede Gerstl legt darin eine Handvoll Gedichte, nur zwanzig an der Zahl, vor; diese vervierfachen sich aber durch die beigegebene Übersetzung ins Englische, Französische und Italienische: Ein Novum in der Praxis der Gedichtveröffentlichung, ein technisch interessantes und lehrreiches Buch, das mit dem Experiment nicht kokettiert, sondern es riskiert, die Gedichte auf den Prüfstand der Übersetzung zu stellen und zugleich die Übersetzung am Original überprüfbar zu machen. Beth Bjorklund hat die Gedichte in das Englische übertragen. Die Arbeit dieser in den USA lehrenden Germanistin gilt seit Jahren der österreichischen Lyrik, und sie hat vor kurzem eine vielbeachtete Anthologie aus diesem Bereich vorgelegt. Die meisten Übertragungen ins Französische besorgte Yasmin Hoffmann, und für die italienischen Texte zeichnet Gerhard Kofler verantwortlich: dieser Südtiroler Autor hat gerade in dieser Hinsicht seine Kompetenz mehrfach unter Beweis gestellt.
Die Gedichte Elfriede Gerstls sind in positiver Hinsicht anspruchslos, das heißt sie verzichten auf die Phrase, auf die Arabeske, auf das lyrische Ornament, es sind komplexe, scharfe, kurze, einschneidende Gebilde, und so fordert die Übersetzung auch große Sorgfalt. Thematisch sind die Texte durch das Reisemotiv miteinander verbunden; das ist aber kein Wandern à la Eichendorff, sondern eine Folterfahrt mit der Bahn und dem Flugzeug. Und aus dem Fenster gleitet der Blick in eine zerstörte und auch zerstörende Natur: „natur – nein danke“, heißt ein Gedicht, das für mich die zentrale Stelle in diesem Band einnimmt:
von zeit zu zeit seh ich sie gern
die vergifteten bäume
die befallenen wiesen
diese verlauste landschaft
aus dem zugfenster meines abteils
[…]
nein danke sage ich zu meinen freunden
den berg- und talsteigern
ich habe hier drinnen
schon genug natur
Und diese Gebilde zerstören auch die Vollmundigkeit des modernen Tourismus, wie etwa das letzte Gedicht mit dem „Titel New York und retour“:
ratlos gewesen
angst gehabt
weit gefahren
gefahr gesucht
mut bekommen
beherzt heimgekehrt
erzählen können
hohe türme
dunkle schluchten
mut bekommen
gefahr gesucht
weit gefahren
angst gehabt
ratlos wie immer
Das ist der skalpellgenau bittere Schlußschnitt des Bandes. Freilich, so etwas scheint den Übersetzer kaum vor Schwierigkeiten zu stellen, aber gerade bei meist reimloser und an kein Versschema gebundener Lyrik spielt die exakt plazierte Silbe die entscheidende Rolle. Hier muß man ökonomisch sein, und so geben diese lapidaren Zeilen genug Gelegenheiten zu Ausrutschern. Doch die drei Übersetzer sind auf der Hut, auch und gerade dort, wo es Gerstl ihnen – sicher nicht aus bösem Willen – schwer macht. Was im Deutschen geht, geht in anderen Sprachen nicht. Wie rettet man etwa die sublim kalauernde Fügung „im speibewagen“ in eine andere Sprache? Die hübsche Minimaldifferenz von Speibe- zu Speisewagen und damit die versteckt unappetitliche Identität beider geht unrettbar verloren. Manchmal gelingen treffliche Kurzlösungen wie etwa bei dem Epigramm „vom abschiednehmen“, das da lautet:
gib a ruah
und häng di auf
stör nicht meinen lebenslauf
Dieser Handkantenschlag sitzt auch in der Übersetzung, und das wird mir jeder bestätigen, der das Buch erworben hat.
Wendelin Schmidt-Dengler, Ö1, 30.12.1988
Weiterer Beitrag zu diesem Buch:
Thomas Rothschild: „Naturunschön“. Elfriede Gerstls Reisegedichte
Wiener Zeitung, 7.10.1988
Unter dem Titel „die frau mutternatur“
Stuttgarter Zeitung, 22.10.1988
sowie in: Österreichische Literatur 1988. Ein Pressespiegel. Zusammengestellt von Ulrike Diethardt und Kristina Pfoser-Schewig. Wien (Dokumentationsstelle für Neuere Österreichische Literatur) 1989. (= Zirkular Sondernummer 18).
Wien Berlin retour: Im Schreiben unterwegs
Während ich als Teenager täglich mit der Bahn in die öde Kleinstadt Wels zur Schule fuhr, erschien mir Elfriede Gerstl im fernen Wien als idealtypische Schriftstellerinnenfigur. Damals ahnte ich nichts von dem komplizierten Weg, den Gerstl zurückgelegt hatte, bis sie zu einem Wahrzeichen der Wiener Sprachlandschaft geworden war. Zwar hatte sie die wichtigen literarischen Strömungen der Nachkriegszeit miterlebe, musste sich jedoch als Autorin einen Einzelpfad bahnen.
Betrachtet man Fotos von Zusammenkünften und Aufführungen der inzwischen hochmythisierten Wiener Gruppe, fällt auf, dass Frauen meist nur als Ausführende männlicher Konzepte oder als Zuseherinnen im Publikum auftauchen. Freundinnen, Ehefrauen und weibliche Bekannte blieben im Hintergrund, waren „Staffage“, wie Gerstl sie bezeichnete.
Auch die Dichterin war im Publikum oder neben den männlichen Kollegen im Kaffeehaus gesessen, schweigend, aber als ausgezeichnete Zuhörerin und Lernende; eine Nicht-Teilnehmende mit Distanz und geschärftem Blick.
Damals, in der Gruppenformation, umgeben von versierten und unbedarften Bewunderern und Mitläufern, war es gescheiter, den Mund zu halten, zuzuhören und sich ihre Selbstdarstellungen anzuschauen wie eine Performance. Denn die vom Kulturbetrieb Ausgegrenzten waren nicht nur tatsächlich grandios, sondern auch Grandiositätsdarsteller.
(Gerstl 1995)
Ähnliche Situationen kannte ich aus meiner Wiener Studienzeit. Ich hatte es nicht geschafft, mich an den Wiener Kaffeehaustischen als eigene Stimme zu behaupten, und war nach Portugal aufgebrochen. Gerstl war 1963 bis 1972 in Berlin gelandet, wo sie mit den sich dort versammelnden Mitgliedern der ehemaligen Wiener Gruppe nun sogar ins Gespräch kam. Im Literarischen Colloquium Berlin, einer Art Schreibwerkstatt, wo Gerstl einige Monate verbrachte, traf sie auf eine – den traditionellen Erzählformen verpflichtete – Gruppe von deutschsprachigen Schriftstellern, die Gerstls Arbeit in einer öffentlichen Diskussion zurückwiesen. Einfacher war es in der anderen Stadt also nicht.
Die Autorin musste feststellen, dass das Nicht-Grandiose und die kleine Form im Kanon des Berliner Literaturbetriebs der 1960er-Jahre genauso wenig erlaubt waren wie im traditionellen Wien. Das Ausgeschlossensein blieb ihr, wie Gerstl im Text „Transportables Unglück“ beschreibt. In Berlin war sie die einzige verheiratete Frau mit Kind, konnte an den Trinkfreundschaften und Ritualen der männlichen Schriftsteller nicht teilnehmen, spürte kulturelle Differenzen zwischen Wiener Schmäh und Berliner Schnauze. Ersteres ist mir als schreibende Mutter vertraut. Die Beziehungen zwischen Wien und Berlin hatten sich jedoch zu meiner Zeit, nicht zuletzt durch die Vorhut der Wiener Exilanten in Berlin, ziemlich entschärft. Im Gegenteil: Heute gilt man als charmant, sobald klar wird, dass man aus Wien kommt.
Gerstl unterschied sich von den jüngeren Kollegen in ihren frühen Berliner Jahren vor allem aber durch eine Gewissheit, die ihr Schreiben bereits damals bestimmte. Noch vom Umgang mit der Wiener Avantgarde beeinflusst, hatte Gerstl in Berlin begonnen, ihren Montage-Roman Spielräume zu verfassen und auf Zugfahrten nach Wien und zurück weiterzuschreiben. Besonders zu Konrad Bayers der sechste sinn lassen sich Parallelen aufzeigen. Auffällig ist in Gerstls Roman – im Gegensatz zu Bayer – das Fehlen jeglicher Selbstästhetisierung und -verherrlichung, „diese männlichen Macht- und Allmachtsphantasien“, so Gerstl, sowie ein Witz, der es wagt, sich an philosophischen Göttern à la Ludwig Wittgenstein kalauernd zu vergreifen, wie:
Alles was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen.
Oder:
Worüber man nicht reden kann, ist vielleicht der einzige Besitz, der mir nicht abgeschwatzt werden kann.
Für solche Respektlosigkeiten bin ich der Autorin bis heute dankbar.
Gerstls Textarbeit unterscheidet sich außerdem wesentlich von Oswald Wieners verbesserung von mitteleuropa, roman, auf den sie in ihrem Text zuweilen anspielt, seine Thesen aber immer wieder beiseitelegend, wie Herbert J. Wimmer in seiner Diplomarbeit zur Autorin bemerkt:
Gerstls Utopie ist eben nicht die Auflösung von Staat, Gesellschaft und der ihn/sie konstituierenden Sprache, sondern die Arbeit an der Humanisierung von Staat und Gesellschaft, auch – aber nicht nur – mittels Sprachhandlungen für alle die Möglichkeiten zur Entwicklung eines besseren Lebens zu nutzen […]
(Wimmer 1998).
Im Gegensatz zu den Aktivitäten der Wiener Gruppe unterlässt Gerstl auch die Auflösung von Literatur in Aktion, sondern führt den Impuls zurück in Sprache beziehungsweise zieht das Unausgesprochene dem Sensationellen vor:
wozu ist das Happening gut? man kann es sich einfallen lassen und als Schnurre im Verein erzählen, der Edlere behälts freilich im Hirnkastl […]
(Gerstl 1977).
Der von Oswald Wiener im Rahmen der Wiener Gruppe postulierten Destruktion im Sinne einer De-Identifikation, das heißt eines Abbaus von „staatlich-sprachlicher Adjustierung des Bewusstseins“, setzt Elfriede Gerstl in ihren späteren Konzepten verstärkt das Prozessuale, das Verwandlungsspiel von Kleidern, Orten, Wohnungen, Identitäten entgegen, mithilfe dessen sie den einschränkenden Verhältnissen zu entkommen versucht.
Bereits das ständige Pendeln zwischen Wien und Berlin, das Untergebrachtsein in Miet- und Gästezimmern, in denen sich die Schreibende nicht wirklich ausbreiten konnte, diese biografische Prägung des Vorläufiglebens wirkte sich auf die Schreibsituation und damit auf die Schreibweise der Autorin aus. Herbert J. Wimmer hat Elfriede Gerstls Werk als ein „in Schwebe halten, das Erreichen von Zuständen des Schwebens“ bezeichnet. Ein Schweben sowohl zwischen den Städten Wien und Berlin, samt den zugehörigen Freundes- und Literaturkreisen, als auch ein Schweben zwischen Emanzipation und Anpassung, zwischen Männergesellschaft und damals noch nicht aktiver Frauenbewegung, zwischen Wahrnehmungsweisen, Wohnmöglichkeiten.
Sogar die Titel von Gerstls Büchern wie wiener mischung, Vor der Ankunft, Unter einem Hut oder Kleiderflug weisen darauf hin.
Besonders das lange Gedicht „Kleiderflug“ verschränkt „Texte – Textilien – Wohnen“ – so auch der Untertitel – in treffenden Metaphern. Das Leben wird anhand wechselnder Kleidermoden erinnert, das Sammeln alter Kleider, das der Autorin zur Leidenschaft geworden war, wird dem Sammeln von Erfahrungen, Wahrnehmungen, Texten anverwandt. Geschichte wird nicht über historische Ereignisse oder Persönlichkeiten vorgestellt, sondern vermittelt über die Oberfläche der Damenmoden. Ohne Larmoyanz und Selbststilisierung handelt Gerstl auch das Versteckenmüssen vor den Nazis ab. Die Verfolgung und daraus folgende Verengung der Wohnumstände zeigt die Autorin schlicht anhand der Einschränkung von Kleidermengen:
1942 packte mutter den kleinen fluchtkoffer
schwarze tuchmäntel aus den 30ern zurücklassend
wir werden nicht mehr soviel brauchen
sagt sie für mich merkwürdig rätselhaft
(Gerstl 1995).
Kleider verorten in Zeit und Raum, Kleider stiften Identität, welche schließlich wieder abgebaut wird, je nachdem, was das Modemagazin vorschreibt. Elfriede Gerstl wurde Archivarin der verschiedenen Weiblichkeitskonzepte, vermittelt über Schuhe, Kleider, Accessoires. Die Technik von Kombination, Anspielung, Zerlegung und Montage galt ihr dabei für die Inszenierung des Selbst genauso wie für die Konstruktion eines Textes, scheint es:
sich ein bekleidungsmenü komponieren oder mixen
aus erinnertem und gegenwärtigem – schranken verwischend
smokingjacke zu jeans – spiel mit bedeutungen
despektierlich durch zitieren aus heterogenen systemen
(Gerstl 1995).
In Kleiderflug reflektiert Gerstl wechselnde Konzepte der Mode, kommentiert den Zynismus der Modeindustrie, die den Ärmsten noch ihr Letztes wegnimmt, indem sie ihre aus der Not geborenen Kleidungskombinationen vermarktet: Individualität ist „oben noch ausbeutbar“, schreibt Gerstl. Und hat damit recht bis heute.
Das Unterwegssein wurde ihr Markenzeichen. Ich traf sie auf Lesungen, in Kaffeehäusern, Restaurants. Sie habe verlernt, zuhause zu bleiben, sagte Elfriede Gerstl, und so gehörte sie zu Wien, wie Wien zu ihr gehörte, eine sich wandelnde Größe, mithilfe derer ich mich vergewissern konnte, auf dem richtigen Weg zu sein, solange ich mich bewegte. Nur war meine Wiener Zeit dann bald vorbei und ich sah sie nur mehr zu Gesprächen, als ich eine musikalische Performance über Avantgarde für das Austrian Cultural Institute in New York vorbereitete, wo ich damals lebte. Bis heute bin ich ständig unterwegs, habe immer an mindestens zwei Orten gleichzeitig zu tun, nehme aber nicht mehr die Bahn, sondern kreuze die Himmel mit dem Flugzeug: Schau oba, Elfriede!
Sabine Scholl, aus Christa Gürtler und Martin Wedl (Hrsg.): Elfriede Gerstl „wer ist denn schon zu hause bei sich“, Paul Zsolnay Verlag, 2012
„gast im kopfhaus“
– Die Wiener Poetin Elfriede Gerstl sammelt mehr als Wörter. –
Die 1932 geborene Wienerin Elfriede Gerstl wird im November gleich doppelt geehrt: Mit dem Georg-Trakl-Preis für Lyrik und dem Erich-Fried-Preis nimmt die österreichische Hochkultur erstmals ein prononciert modernes Lebenswerk zur Kenntnis, das über vier Jahrzehnte im literarischen Underground zwischen Wien und Berlin, zwischen Wiener Gruppe und Wittgenstein entstanden ist. Ein Wiener Umgang mit der „grande petite dame“ der österreichischen Avantgarde.
Judengasse, Hoher Markt, Tuchlauben: Hier schmeckt die Wiener Luft nach Donaukanal und atmet nach Nordosten, hier franst die feine Innenstadt ins alte Textilviertel und zur Leopoldstadt hin aus. Quer durch die mondäne Geschäftigkeit der Grossstadt im Jetzt und im Hier zieht sich noch immer sichtbar eine denkwürdige Achse, die vom „Hitlerbalkon“ der Neuen Burg am Heldenplatz den Kohlmarkt entlang und am Demel vorbei über die Tuchlauben führt, den Hohen Markt überquert, die Marc-Aurel-Strasse zum Morzinplatz hin abfällt: Von hier aus ist es nur ein Sprung vom ehemaligen Standort des zum Gestapo-Hauptquartier umgewidmeten Hotel Métropole über den Kanal zur Leopoldstadt, dem traditionellen – von den Wienern salopp „Mazzes-Insel“ genannten – jüdischen Quartier.
Kurz bevor „die Tuchlauben“ so richtig schick mit Designerboutiquen und Messing-Glas-Edelcafés prunkt, wartet ein Kaffeehaus, das die Schübe der Modernisierungen in aller Ruhe überdauert. Ein Damenregime von Mutter und Töchtern wacht mit der Grazie selbstbewusster Herbheit über Kunstlederkanapees, Resopaltische, Fifties-Spiegel und Imbissvitrine. „Hastdunichtgesehn“ und wie ein Hauch fast steht sie schon hinter mir, die poetessa, la Gerstl, oder, wie Wiener wissen, „die Elfriede“: fragil und ein wenig fahrig, Trippelschritte im Trench, die Pullmankappe schwarz (comme il faut) – „einen kleinen Mokka, bitte, und ein Wasser“. Seidenschal sowieso. „Wir haben die Zeitung extra für Sie aufgehoben, Frau Gerstl“, nähert sich die Chefin mit Kaffee und Blatt, auf dessen Titelseite eine Photo der Verleihung des Georg-Trakl-Preises für Lyrik in Salzburg Anfang November zeigt: „Das ist zu komisch, sehen Sie“, lacht die Dichterin und knistert das Blatt herüber. Und siehe: zarte Dame, krausgelockt, Lippenfarbe klassisch rot. Als schwarze Balkenrahmen links und rechts je eine wuchtig-eckige Politikerschulter: keine Köpfe, nur Verleihung.
Warum aber alle Preisgelder und Ehren auf einmal, warum konnte man mir das nicht in kleinen Bissen über die Jahre geben? Kleine Portiönchen hätten mir mehr geholfen.
Konzentriertes Œuvre
Die kleinen Portionen sind Spezialität der Dichterin, die nach bald vier Jahrzehnten poetischer Arbeit auf ein schmales, aber konzentriertes Œuvre kommt: Vieles, was in den sechziger und siebziger Jahren in Klein- und Autorenverlagen erschienen ist, ist längst verschollen, vergriffen, verschwunden. Der in Heimrad Bäckers Edition neue texte erschienene experimentelle Roman Spielräume ist glücklich in den Hafen des Droschl-Verlags eingelaufen, die unvergessene wiener mischung harrt zu erhoffender Neuausgabe. Lange vermisste und neue Texte sind eben bei Deuticke erschienen: Alle Tage Gedichte – kleine, feine Gebilde aus Denk- und Sprachfundstücken über Welt- und Ich-Verfassung:
die welt ist alles
was denn was denn
die welt ist alles
was der abfall was der einfall.
„Zahlen bitte.“ Charmant mit Schal und Schirm. „Gehen wir doch noch ein Sprünglein hinüber.“ Hinüber in die Kleeblattgasse: katzenkopfgepflasterter Durchschlupf am Rande der noblen City, stiller Winkel zwischen dräuenden Barockhäusern. Urgestein, wo noch viele Maler, Schreiber und Lebenskünstler nisten.
Rundherum, rundherum und noch einmal rundherum kämpft sich die zarte Person beharrlich über drei Stockwerke treppan. Jetzt. Jeden Tag. Stets. Als notorisch – wie sie es nennt – „um die Wege“ Gehende bewältigt sie diese Beschwerlichkeit täglich und nächtlich ohne Klagen und Zagen: keine Lesung, bei welcher sie nicht noch „vorbeischaut“, keine Vernissage, wo sie nicht noch „kurz Freunde trifft“, kein neues Lokal im Rayon, das nicht sofort in Augenschein genommen wird: „Es ist ja sooo viel los“, seufzt die passionierte Stadtbenützerin, die ihr zuletzt erschienenes Kinderbuch nicht zufällig die fliegende frieda betitelt hat. Also „springt“ sie auch nachts noch „auf ein Achterl“ hinunter und „saust“ sonst auf Tandelwegen durch die Stadt. Denn: Die Poetin sammelt mehr als Wörter. Kaum hält die Wimper, was das Auge sieht in ihren eineinhalb Zimmern, die „eingerichtet“ zu nennen vermessen wäre: Depot und Lebensraum, Lesereich und Basislager, Wunderwelt und Sammelsurium, staunenswerter Stauraum sprechender Objekte.
Elfriede Gerstl sammelt, was der Sachen sind und waren, sie sammelt Moden und Masken, Materialien und Marotten, Modernes und Morbides.
Ich habe ja kein Geld gehabt, mir etwas Neues zu kaufen. Beim Tandler konnte ich mir plötzlich Seidenblusen um 10 oder 20 Schilling kaufen – soviel, wie damals ein kleiner Kaffee gekostet hat, das war so 1972, 1973.
Elfriede lacht. Viel Zeit bleibt nicht mehr fürs Plaudern über Leben und Lesen, über Dichten, Darben oder – frei nach Ernst von Feuchtersleben – über die „Diätetik der Seele“: Gleich wird sie sich wieder „in ein Taxi werfen“, um das Stübchen nahe dem Naschmarkt zu heizen, wo sie jeden Samstagmittag inmitten ihrer Modewaren „ordiniert“.
So kennen viele „die Elfriede“ als kundige Sachwalterin einstmals modischer Plissés, knisternder Seiden und schräger Galanterien. Wer weiss heute noch, wie Knöpfelgamaschen anzulegen, Kleppermäntel zu pflegen und Hutfedern zu drapieren wären? Exercices de style. Dass sich mehr und mehr schrille Kunst-Stoffe aus den siebziger Jahren hierher verlieren und von modisch Mutigen unter grossem Hallo anverleibt werden, ist ebenso neu wie der Dichterin Anleihen beim Jugendjargon: Alltagssprache und ihr Wandel ist ein Lieblingsthema der zweifachen Grossmutter, die an den Mythen des Alltags ihrer Kids lebhaften Anteil nimmt.
Das Interesse an Subkulturen als Lebensentwürfe und Regelsysteme ist das nämliche geblieben: Der als Wiener Gruppe legendäre Kreis um Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener funktionierte in den späten fünfziger Jahren nicht wesentlich anders als die Übertrumpfungsspiele künstlerischer Avantgarden in den Sechzigern oder die „Wohngemeinschaften“ im Berlin der Siebziger:
Es ist ja nicht so, dass es in einer Alternativkultur nicht auch strenge Regeln gibt. Genauso wie in der Studentenbewegung oder in den programmatisch strukturierten WG, in denen man nicht mal seine Bücher oder seine Kleidung behalten durfte: Wenn man darauf bestanden hat, sie zu behalten, galt man gleich als besitz- oder analfixiert.
Systemtheoretikerin, praktisch
Aus der Einsicht, dass gerade auch die Bohème die Befolgung rigider „Verhaltensregeln“ und „Redegewohnheiten“ von ihren Adepten einfordert, wurde die Schriftstellerin zur praktischen Systemtheoretikerin, die die von Niklas Luhmann beschriebenen komplexen Regelkreise in den Cafés und Beiseln, Galerien und Bars alltäglich und allabendlich erneut studiert. Als Ausweg aus der Aporie, die Spielregeln solcher Zirkel zu beherrschen, ohne sich ihnen auszuliefern, hat Elfriede Gerstl den Kunstgriff der offensiven Defensive gewählt: Fühlte sie sich früher neben den Lauten, den Grossen, den Männern stets als „ein geduldeter Gast: unberühmt, arm, als Frau“, so streift sie heute betont unstet durch diverse „Szenen“ und „Dörfer“ der Stadt: Oft kaum den Mantel, allenfalls den sprichwörtlichen Hut abnehmend, hat sie das Gast-Sein, Besucher-Sein zur Lebenskunst erhoben:
entweder gast im gasthaus
oder gast im kopfhaus.
Was die „Autorin des Dennoch“ (Andreas Okopenko) heute als kluge Selbststilisierung kultiviert, wurzelt traumatisch im nationalsozialistisch eifernden Wien der dreissiger Jahre. Erst in jüngerer Zeit – „seit diesem schrecklichen Bedenkjahr 1988“ – erteilt die Autorin hie und da Auskunft über die erlittenen Enteignungen, über das monatelange Leben im Versteck, über die Demütigungen der sogenannten Wiedergutmachung nach dem Krieg:
Über manche Erlebnisse hab’ ich 20 oder 30 Jahre nicht sprechen wollen. Ich hab’ nicht einmal den Wunsch gehabt, es aufzuschreiben, ich wollte über meine Kindheit und über das Versteckt-Leben überhaupt nicht berichten.
Entschlossen setzt sie ihr Glas auf die Tischplatte zwischen besorgniserregende Bücherhalden, närrische Nippes und die Hermes Baby: Modelust und (so der Titel eines Buches) Kleiderflug kompensieren den einstmals verstohlenen Blick auf die Gleichaltrigen draussen. Lokalstreifzüge und Tandeltouren holen heute jene Wege nach, die die Versteck-Haft dem Kind einst verwehrte. Sammelnd rekonstruiert Gerstl Enteignetes, dichtend wägt sie die Wörter, um die man sie beinah gebracht:
Ich hab auch schon oft den Rat gehört: Das doch bitte aufschreiben, weil da wäre mal eine Anne Frank, die nicht zu Tode gekommen ist, die das alles noch erzählen kann.
Unruhe, Blick auf die rote Kinderplasticarmbanduhr.
Ich möchte mich nicht so ausschliesslich mit diesen Erinnerungen beschäftigen. Ich möchte wirklich auch ganz gern etwas anderes erleben und erzählen dürfen.
Sagt’s, steht auf, pickt mit spitzen Fingern eine Favoritin aus der Broschen-Kollektion, wählt einen Seidenschal, ist abflugbereit: Sprung ins Kaffeehaus, Taxi zum Moden-Kontor, später Lesung zum Geburtstag einer Autorenkollegin: „Alle Tage“, in der Tat – und noch längst nicht aller Tage Abend.
Christiane Zintzen, Neue Zürcher Zeitung, 23.11.1999
das GERSTL-korn auf der zunge: miniatur aus dem mundwinkel als medaillon um den hals zu tragen
mein beitrag über elfriede gerstl ist kein text, sondern ein medaillon, wenn wir unter medaillon einen anhänger am hals verstehen wollen, in den ein erinnerungsstück: bild ( winzig ), glücksbringer: ( minimal ), quisquilie: ( richtung ginkalitzchen ) eingelassen ist.
erstes zugeständnis: das portrait bedient sich der buchstaben. es sind SUCHstaben darunter, lettern, welche mitunter über jahre hin, wie in diesem fall, einen bestimmten sinn allererst suchen.
zweites zugeständnis: das portrait hat ein digitales vorbild: die face-book-idee, den ganzen menschen elektronisch vom gesicht her aufzurollen. und die geht wieder auf lavater und dessen physiognomik zurück.
liebe elfriede, ich habe zur zeit kein foto von DIR zur hand. meine augen rufen DICH also aus dem gedächtnis wach. DU bist ein visuelles zitat für mich. wach. total wach. hellwach.
hier spielt die musik.
wo hier? sie spielt in berlin. das ende der siebziger jahre ist die zeit der höchsten berlin-wien-dichte überhaupt.
wienerINNEN hier, berlinerINNEN dort.
eine „zeitschrift für die wenigsten“, als klebeband. gefährlich subversiv die schwarze botinnen-connection. die hält zusammen. zeit für auflehnung per dekonstruktion. merke: „wir haben die absieht, von unserer neigung zur konsequenz den rücksichtslosesten gebrauch zu machen.“
DU bist zu besuch bei uns, vermutlich dienstlich, lesung im l.c.b. oder so, sitzt in unserer küche, joseph haydnstraße nähe tiergarten. und zwar beim frühstück. vor oder nach DIR sind auch die anderen beiden elfrieden da: elfriede czurda nachmittags zum tee oder einmal zur weihnacht in meinem arbeitszimmer und elfriede jelinek, deren eingetretene teure pariser overkneestiefel im gleichen atemzug auf mich übergehen.
ich bin ja bekanntlich die „vierte elfriede“ im bunde und unterzeichne dieses medaillon im manifest-charakter auch als ELFRIEDE steinwachs.
DU sitzt also da: und machst ein medaillongesicht. jeder zug in DEINEM gesicht wie elfenbein auf edelmetall. keine ahnung, ob diese verbindung bei medaillons oder nicht vielmehr bei gemmen üblich ist. deshalb hier ein fragezeichen.
ich und DU
müllers kuh
raus bin ich und
raus bist DU.
es gibt leute, die f ü r ihr leben gern und andere, die g e g e n ihr leben, eben ungern frühstücken.
ich gehöre zur ersteren sorte.
von DIR werden wir gleich hören.
das frühstück, erste mahlzeit des tages.
was wäre eine welt m i t o h n e ?
DU scheinst da anderer meinung zu sein.
nehmen wir nur einmal DEINE bewegungen.
sie sind beim essen & trinken so minimal wie die menge an getränken und speisen, welche DU zu DIR nimmst. da sind sie, da kommen sie geflogen: ein achterl tee, ein häppchen brot, ein stückchen käse, aber die meisten aufstriche sind DIR ( achtung magen ) zu plump, zu dick oder zu fett. und DU nimmst sie zu DIR wie eine, welcher welt beiliebeleibe nicht das bieten kann, was sie benötigt.
bis das feste oder flüssige, welches ich DIR anbiete, den vorraum des mundes passiert, das gesperrt gedruckt, währt ebenfalls recht lange.
fall von ablehnender annahme.
verweigerungseinfuhr.
klares plusminus minusplus.
mein mann til und ich ( beide oral ) haben so etwas noch nie gesehen.
DU verläßt also bei tisch DEIN gesicht vor unseren augen & wirst bild. bilder brauchen ja bekanntlich weder brot noch wasser. aber aber aber – während der ganzen frühstückszeit, die dauert – hast DU DEINEN beutel ausgepackt, ganz gleich wie beschaffen, kann er bloß aus plastik oder aus stoff, knallvoll sein oder halbleer. und teilst daraus aus. der beutel ist DIR völlig natürlich, angewachsen, wie die muttertasche in australien dem bekannten tier mit K.
kein weit hergeholter vergleich.
nie nie nie weder in berlin noch in wien habe ich DICH je ohne ihn umhergehen, besser wandeln sehen. DEINE schritte, klein & präzise wie buchstaben, machen den erdboden zu papier.
natürlich dichtet DEIN atemzug beim luftholen und DEIN spann beim wandelgang.
es gibt wenige menschen, die beim bloßen sosein eine derartige wirkung von an-, ders- und beisich-selbersein bei mir erzeugt haben.
und den wunsch, dazu zu gehören in DEINE spielräume von 1977! oder in DEINE alle tage gedichte, die den gleichen alltag grau ablichten, der mir als ALLtag und tag des ALLs kosmisches feuer ist. alles eine frage der perspektive.
hier der anfang eines gedichts aus alle tage gedichte: es heißt
vom essen gehen
oder
was werde ich heute wieder alles stehen lassen
der kleine braune stinkt nach geschirrfetzen
das wasserglas nach spülmittel
die brotscheibe ist feuchtkalt froschig – schlecht aufgetaut
in der suppe schwimmen braune kartoffelbrocken,
aaaaaadie nach spiritus schmecken
die zucchini sind bitter
hat noch kein gast bemerkt, sagt der ober pikiert
schmex, ich schmecks und soll mich entschuldigen
der wein sticht mich in die nase
die zunge sagt scharf und bitter
der liptauer riecht nach achselschweiss
der topfen enthält harte bröckerln
der schinken mieft wie ungewaschene unterhose
die semmeln sind gummig pappig oder strohtrocken
der tee ist blasses abwaschwasser
die buttercreme der torte ist leise seifig
das packelpüree schmeckt wie pappendeckel
die zwiebel darauf bitter
mit hungrigem magen und hellwachem rüssel
aaaaaaaaaaaaadurchmustere ich die angebote
die gestänke laden mich ein und aus
das gedicht, ich nenne es auch vertraulich GERSTL-KORN auf der zunge, beruhigt mich. es ist wieder das minusplus und plusminus der medaillonminiatur und bestätigt meine beobachtungen.
vielleicht hat der eine oder die andere meiner leserINNEN noch das wort facebook im ohr. und mit der frage, die ich selber nur hälftig verstehe, möchte ich schließen: sind wir vier elfrieden vielleicht nur vitalisierte exemplare digitaler vorlagen aus der vorzeit?
+ damals, siebziger jahre des vorigen jahrhunderts, wollten wir gemeinsam gegen die männliche vorherrschaft auf fast allen gebieten überhaupt & besonders gegen die grass-walser-positionen auf dem literaturmarkt angehen. jetzt sind wir vier elfrieden es, die dort erfolg- wie folgenreich plätze einnehmen und erhalten unsererseits widerspruch von der jungen generation, die unverblümt nur eines tut: erzählen, und das syntagmatisch ohne satz- und wortverdrehungen wie mit verlaub zu sagen: anno dazumal.
ein bißchen gift mußte ich doch noch spritzen.
++ ich bedanke mich bei katharina serles, wien,
für ihre große hilfe in sachen gedicht.
Ginka Steinwachs, aus Christa Gürtler und Martin Wedl (Hrsg.): Elfriede Gerstl „wer ist denn schon zu hause bei sich“, Paul Zsolnay Verlag, 2012
„Manche kommen aus dem Staunen nicht heraus, manche nie hinein“
I
Alles, was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen.
Das ist wahrscheinlich der am meisten zitierte Satz der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Gerstl. Ein Satz, der es in sich hat, sagt er doch, dass die großen Worte, die so gerne in feierlichen Reden, in Predigten, aber auch in privaten Erklärungen gemacht werden, völlig unnötig sind. Alles lässt sich auch beiläufig sagen – unangestrengt, knapp und subtil, mit Ironie und wie unabsichtlich – beiläufig eben.
Elfriede Gerstls knappe Gedichte, Dialoge, Traumsequenzen und „Denkkrümel“, wie sie selbst manche ihrer Texte nannte, sind für mich eine Schule der Wort-Askese und der Befreiung vom Phrasen-Ballast, der einen gnadenlos hinunterzieht in die konventionelle, abgegriffene, verbrauchte Sprache.
Aber Elfriede Gerstl hat das Beiläufige auch selbst verkörpert. Wenn ich sie in der Wiener Innenstadt gesehen habe – es war immer in einer Seitengasse, denn sie passte nicht in Hauptstraßen, Hauptstraßen waren zu pompös für sie –, staunte ich jedes Mal über ihre Grazie, über die scheinbare Leichtigkeit, mit der sie sich bewegte, und die Eleganz ihrer meist beim Trödler gefundenen Kleidung und Accessoires. Ich kannte Elfriede Gerstl nicht gut genug, um sie anzusprechen, aber es war eine stille Freude, sie zu sehen, eine Einübung in Aufmerksamkeit und der Beginn eines besseren Tages. Sie hatte etwas Leichtes an sich, eine Absichtslosigkeit, und zugleich eine wie selbstverständliche Konzentration. Oft kam sie mir vor, als würde sie auf etwas warten – vielleicht auf das, was eines ihrer Gedichte unter dem Titel „überraschungsgast“ beschreibt:
das gedicht kommt
aaaaaaaaaawie ein katze
rufen kannst es nicht
folgsam folge seiner gangart
aaaaaaaaaa(wer weiss wann es dich
aaaaaaaaaaaaaaaawieder besucht)
ob du’s hirnzauberei nennst
aaaaaaaaaaoder spiritueller moment
ein anlass zum staunen
II
manche kommen aus dem staunen nicht heraus
manche nie hinein
– ein Satz aus Elfriede Gerstls Gedichtband mein papierener garten, den ich mir sofort gemerkt habe. Und der mir einfällt, wenn ich selbst aus dem Staunen herauskomme und alles nehme, wie es halt ist. Dann geht mit dem Staunen auch die Freude verloren und die Lust, Menschen und Dinge anders zu sehen. Aber wenn ich Elfriede Gerstl lese, kehrt diese Lust sehr schnell wieder. Ihre Poesie findet sich nicht ab mit dem, was ist; der sogenannten Realität setzt sie ihre Dichtung entgegen – zum Beispiel das vierzeilige Gedicht „dichten wollen“:
dichten wollen
aber die verhältnisse
sind in prosa
nichts schwebendes
Darum haben ihre Gedichte eben dieses Schwebende, Leichtfüßige, das die Verhältnisse aufbricht. Im Wien der 1950er Jahre gehörte sie zur Avantgarde und wollte die Sprache aufbrechen. Wien war damals allerdings ein schwieriges Pflaster für Sprachwitz und literarische Experimente; so lebte Elfriede Gerstl einige Jahre in Berlin. Dazu kommt, dass sie sich in keine Gruppe einreihen und nicht nach einer bestimmten Methode schreiben wollte. Und dass natürlich auch die Avantgarde damals männerdominiert war. Und so ist Elfriede Gerstl übersehen worden – Jahrzehnte lang. So hat sie am Existenzminimum gelebt, und die Trödler suchte sie nicht nur aus Interesse auf, sondern auch aus Notwendigkeit. Das Schreiben hat sie nicht aufgegeben – das war ihre Lebensform. Davon spricht das Gedicht „von der kraft der sätze“:
manchmal ist ein satz eine stählerne konstruktion
ein anderer ist eine umarmung
dieser ein haus aus kleidern
jener verdünnt und verdickt sich
aaaaaund pulsiert in dir
der da verwandelt die bäume
aaaaazu armen aus krallenhänden
und einer lässt mich als weisse wolke
aaaaain blauseidene himmel fliegen
III
statt einem gebet
ein gedicht hersagen
für manche ein rettungsseil
in trauer und not
– so endet ein Gedicht von Elfriede Gerstl. Mit den Gebeten hatte sie es nicht so. Denn Religion war ihr suspekt. „Jeder Gläubige reizt meinen Widerspruch“, schrieb sie einmal. Wobei sie mit den Gläubigen sicher nicht nur religiöse Menschen gemeint hat, sondern alle, die in fixen Denkgebäuden und Weltanschauungen leben. „Antworten, wieso Antworten, dass ich nicht lache“, heißt es in ihrem einzigen Roman Spielräume. Elfriede Gerstl wollte Spielräume eröffnen und misstraute allen Doktrinen – auch denen der Avantgarde. Dieses Gegen-den-Strich-Denken, -Schauen, -Formulieren – das fasziniert mich immer wieder an den Texten von Elfriede Gerstl. Und eben die unaufgeregte Beiläufigkeit, mit der sie das macht.
Und ich frage mich, ob man denn nicht auch beiläufig religiös sein kann – ohne fixe Antworten, ohne Überzeugungen, die man pathetisch vor sich herträgt, aber mit jenem Staunen, das sich in Gedichten ausdrückt, doch manchmal auch in Gebeten. Vielleicht möchte ich ja beiläufig katholisch sein – ohne zu einer Kirche zu gehören wie zu einer Partei, ohne Ja und Amen sagen, aber aus einem dankbaren oder subversiven Sich-Wundern heraus. Kann man denn nicht katholisch sein und dennoch „ungläubig staunen“, wie es so schön heißt?
Den Himmel offenhalten – das wäre doch ein gemeinsamer Impetus von Gedicht und Gebet, von Religion und Literatur; wenn die Religion nur nicht zu viel weiß von diesem Himmel und ihn nicht zu genau definiert. „mein himmel ist hier und jetzt“ beginnt ein Gedicht von Elfriede Gerstl. Und einige Zeilen später schreibt sie:
mein himmel ist auch eine utopie
von einer gerechteren welt
in der einsicht und nachsicht
aaaaaaaaaaaaaaatägliche realität sein sollte
himmel ist das festgeknüpfte netz
ähnlich denkender und fühlender
und das glück
aaaaaaaaaaihm anzugehören
wenn es noch einen anderen himmel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaageben sollte
lasse ich mich überraschen
IV
heimat im stammbeisl
heimat im landhäusl
heimat in einem mann
heimat in einer frau
heimat ist schutz und last
jeder fund
aaaaavon verlust bedroht
heimat kann man nicht buchen
aaaaaaaaaaaaaaaanur suchen
So lautet das Gedicht „heimat“ aus Elfriede Gerstls Band lebenszeichen. Kein Zweifel: Über weite Strecken macht sich Elfriede Gerstl über das Wort „Heimat“ lustig, und die Verse unterstützen dabei, wie so oft bei ihr, die Ironie. Was ich an dieser Ironie so mag: dass sie nie simpel und einseitig ist. Elfriede Gerstl idealisiert auch die Heimatlosigkeit nicht – „heimat ist schutz und last“ heißt es kurz und bündig; und damit ist auch klar, was es kostet, Heimat abzulehnen: Man begibt sich eines Schutzes.
zu einer gruppe gehören
ist halt stärkend und angstbindend
ich pflege lieber meine selbstgestrickten
ideen und ängste
– so heißen vier Zeilen in Gerstls Gedicht „patriotismus und tradition“, und auch hier blitzt kein billiger Heroismus auf, der sich nur der eigenen Ideen rühmt – zur Ablehnung einer Gruppenzugehörigkeit gehören auch die eigenen Ängste. So ist mir Elfriede Gerstl besonders nahe – als hellsichtige Einzelgängerin.
Elfriede Gerstl hatte als Kind und als Jugendliebe wenig Gelegenheit, eine Heimat, ein Zuhause zu finden. Sie musste sich mit ihrer Mutter vor den Nazis verstecken. Und ein Versteck ist Schutz, aber kein Zuhause. Aus dieser Erfahrung hatte sie auch einen kritischen Blick auf die Illusionen, die man sich schnell über sein Zu-Hause-Sein macht. Besonders nahe ist mir ein Gedicht, in dem Elfriede Gerstl die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks „bei sich sein“ nutzt – das bedeutet sowohl bei sich selbst sein als auch bei klarem Verstand sein. Das Gedicht besteht aus lauter Fragen:
wer ist denn schon bei sich
wer ist denn schon zu hause
wer ist denn schon zu hause bei sich
wer ist denn schon zu hause
wenn er bei sich ist
wer ist denn schon bei sich
wenn er zu hause ist
wer ist denn schon bei sich
wenn er zuhause bei sich ist
wer denn
V
gebrochen durch Statistiken
und in Fragebögen erfasst
ruhst du sanft
im Fernsehwinkel
bis dir die Rente winkt
Dieses Gedicht von Elfriede Gerstl findet sich im ersten Band der Werkausgabe, die seit 2017 vollständig vorliegt. Als Elfriede Gerstl es verfasste, hatte das Fernsehzeitalter gerade erst begonnen. Im Laufe der Jahre wunderte sich Elfriede Gerstl immer wieder über das, was allen selbstverständlich scheint, und ihre Gedichte hielten Schritt mit neuen Moden und Erfindungen. Ein Gedicht aus dem Jahr 2007 heißt „neue plagen“, und ihre Aufzählung beginnt so:
der parfümier-terror
das klo riecht wie pfirsich
und lässt mich niesen
Einige Zeilen später führt sie an:
die zwangsbeschallung in
cafés und restaurants
Und ebenso zu den neuen Plagen zählt sie:
das handygebrüll
an öffentlichen orten
Von den Gedichten, in denen sich Elfriede Gerstl irritiert wundert über das, was sie täglich zu sehen und zu hören kriegt, hat es mir eines besonders angetan – es trägt den ironischen Titel „schöner sterben“:
einfach altmodisch sterben
aaaaaaaaaaundokumentiert – videofern
wie eine taube – wie ein maulwurf
längst schlüpfen die medien
aaaaaaaaaain die intimsten momente
man verschwindet nicht mehr
aaaaaaaaaaaaaaohne DOKU
die sache muss nur beworben werden
Immer wieder erweist sich Elfriede Gerstl als präzise Diagnostikerin. Was ich an ihren Diagnosen besonders mag, sind die kurz aufblitzenden Konstellationen, die keine lange Argumentation oder Theorie brauchen. Und keine Situation ist zu unbedeutend, dass sie nicht Eingang finden könnte in ein Gedicht. Lapidar und beiläufig kommentiert sie den Alltag. Und am besten ist sie immer, wenn sie über das scheinbar so Selbstverständliche staunt.
VI
nichts kaufen
nichts bestellen
nicht meine vollgestopfte wohnung
weiter verstopfen
So beginnt Elfriede Gerstls Gedicht „vor einem geburtstag“. Und es endet mit der Frage:
ist es zu viel verlangt
sich aufmerksames zuhören
zu wünschen
ein wenig freundlichkeit
und verlässliche freundschaft
Wäre Elfriede Gerstl noch am Leben, würde sie wahrscheinlich dieselben Wünsche äußern. Vor allem den nach Freundschaft. Ein Gedicht vom 20. Februar 2009, zwei Monate vor ihrem Tod, stellt im Titel die Frage: „woher soll jemand der denkt wie ich trost holen“. Das Gedicht beginnt mit sarkastischen Reimen über Religionen, Philosophie und Therapie und konstatiert dann:
so wenig emotionale haltegriffe
am ehesten
in den wenigen verlässlichen freundschaften
die keineswegs jedem vergönnt
In manchen ihrer späten Gedichte ist Elfriede Gerstl sehr persönlich geworden. Aber sie wäre nicht die Gerstl gewesen, wenn sie nicht auch das ironisiert hätte. Etwa in dem Zweizeiler:
was ich nicht alles von mir verrate
was ich alles von mir nicht verrate
Sehr spät erst konnte sie ihre traumatischen Kindheitserlebnisse ansprechen. Sie war mit ihrer Mutter vor den Nazis untergetaucht und hatte im Kohlenkeller zu lesen begonnen, wenn die Sonne einmal durch den kleinen Lichtspalt drang und die Nazis nicht mit Bajonetten nach ihr stocherten. Aber auch darüber hat sie nicht mit dem Pathos der Überlebenden gesprochen, sondern eben beiläufig – etwa in folgendem kurzen Dialektgedicht aus dem Jahr 2004:
April 1945
a bissal gfiacht
a bissal gfreit
hauptsach ausn kölla
aussegräud
Beiläufigkeit und Staunen – diese beiden Pole von Elfriede Gerstls Poesie kommen auch zum Tragen, wenn sie von sich selbst spricht. Elfriede Gerstl hat gezeigt, dass man allem mit Staunen begegnen kann – dem Schrecklichen wie dem Schönen.
Cornelius Hell, aus Cornelius Hell: Ohne Lesen wäre das Leben ein Irrtum. Streifzüge durch die Literatur von Meister Eckhart bis Elfriede Gerstl, Sonderzahl, 2019
Barbara Wiener im Gespräch mit Elfriede Gerstl – Freie Autorin, lebt in Wien
Elfriede Gerstl aufgefrischt von Peter Clar, Anna-Lena Obermoser und Herbert J. Wimmer am 8.3.2022 in der Alten Schmiede Wien
Laudatio gehalten am 28.11.1999 anläßlich der Verleihung des Erich-Fried-Preises an Elfriede Gerstl.
Laudatio zum Georg Trakl-Preis 1999 an Elfriede Gerstl.
Zum 10. Todestag der Autorin:
Daniel Hadler: Erinnern an die „Untertreibungskünstlerin“
Kleine Zeitung, 9.4.2019
Sabine Scholl: Existieren unter prekären Bedingungen: Im Gedenken an Elfriede Gerstl
Der Standart, 30.5.2022
Zum 90. Geburtstag der Autorin:
Sabine Scholl: Flüchtig, vorläufig, schwer zu fassen
Die Furche, 24.5.2022
Fakten und Vermutungen zur Autorin + Instagram + Facebook + KLG + IMDb + Archiv + ÖM + IZA + Kalliope
Porträtgalerie: akg-images + gettyimages + IMAGO + Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf Elfriede Gerstl: Die Presse ✝︎ Die Welt ✝︎ Kronenzeitung ✝︎ oe24 ✝︎ Trauerrede
Agnes Heginger performt einen Text von Elfriede Gerstl während OUT OF THE BLUE im Klangturm St. Pölten am 1.10.2011.








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