DAS GENIE
Das Genie spricht leider nicht
durch seinen Mund.
Das Genie hinterläßt ein paar Pfotenspuren
wie der Hase auf dem Schnee.
Sobald es zu laufen aufhört, wird,
nach der Art des Genies, jedes Getriebe
von Lähmung befallen.
Dann steht die Welt still in der Erwartung
daß ein paar Hasen über unwahrscheinliche
Schneeflächen laufen.
Unbeweglich und schnell in ihrem Kreislauf
kann sie die Spuren nicht lesen,
die seit langem zerstäubten,
nicht entzifferbaren.
Übertragen von Michael Marschall von Bieberstein
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Eugenio Montale
Tintenfischknochen, Abfälle des heimischen Meeres, betiteln den ersten, aufsehenerregenden Gedichtband Eugenio Montales, der wie Ungaretti und Quasimodo zu einer Leitfiger der italienischen Poesie des 20. Jahrhunderts wurde. Gegen das hymnische Pathos seiner Vorgänger Carducci und D’Annunzio setzte er seine kargen, konzentrierten Verse über Landschaft, Tiere und Pflanzen, die ihm ein Mikrokosmos sind, welcher die Schönheit und Endlichkeit des Lebens spiegelt. Das Dröhnen des Faschismus trieb Montale tief in die innere Emigration, aber aus den dunklen Zeilen leuchtet Solidarität mit den Opfern. Erst die Altersgedichte werden heiterer, öffnen sich den Dingen des Alltags, die den Klassiker zum Zeitgenossen machen.
Ankündigung in Andreas Gryphius: Poesiealbum 124, Verlag Neues Leben, 1978
Montale
ist vielleicht der einzige unter unseren modernen Dichtern, der seiner anfänglichen Strenge treu bleibt. Ja, er macht ein Lebensprinzip daraus und übersetzt uns die Negativität in eine geschichtliche Kraft, wobei er sie von innen her überwindet und sie völlig abbüßt, ohne sich ihr in unwahrhafter Anmaßung neu entflammender staatsbürgerlicher oder frommer Gefühle zu entfremden.
Elio Vittorini, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1978
Ein zeitgemäßer Skeptiker
Vielleicht ist Montale der einzige unter den heutigen Dichtern, der seiner anfänglichen Strenge treu bleibt. Er hat daraus sogar einen Lebensgrundsatz gemacht, und dadurch überträgt er das negative daran in stoische Kraft, indem er es von innen heraus besiegt, ohne sich von irgendwelchen scheinheiligen bürgerlichen oder frommen Gefühlen, die wieder aufglühen, davon abbringen zu lassen.
Diese Sätze aus Vittorinis Offenem Tagebuch kennzeichnen Montales Bedeutung für die moderne italienische Literatur sehr genau. Was die Generation von 1925, dem Erscheinungsjahr seines ersten Gedichtbandes, genau wie die junge Generation von heute an Montale fasziniert, ist seine geistige Strenge, die stoische Kraft seines Skeptizismus, sein konsequenter Verzicht auf jeden Rückzug in die Idylle des Gefühls – eine geistige Haltung also, die sich auf der Ebene der Sprache in einer schmucklosen, fast spröden Sachlichkeit ausdrückt, die den Verlockungen von Wortmagie und Klangzauber widersteht und in der genauen Beschränkung aufs Wesentliche eine eigenartig gläserne Schönheit gewinnt. Dasselbe gilt von Montales kritischem Werk: seine überlegene Intelligenz und seine moralische Integrität machten ihn schon früh zu einem Kritiker, der auf Moden und Gefälligkeiten verzichtete und mehr als fünfzig Jahre, bis in die Gegenwart, eine der mutigsten, unabhängigsten und sichersten Stimmen im geistigen Leben Italiens gewesen ist.
Von seiner Biographie sind nur die äußeren Daten bekannt. Montale hat sich weder über sein Leben noch über seine Lyrik je zusammenhängend geäußert. Das einzige Dokument, das in dieser Hinsicht existiert, ist ein ironisch-imaginäres Interview, das Montale 1946 anstelle eines Selbstporträts für eine Anthologie schrieb. Darin heißt es:
Auch ich beschäftigte mich in einer gewissen Epoche mit der Psychoanalyse; aber ohne deren Theorien zu kennen, war ich schon früher der Meinung und bin es heute noch, daß die Kunst die Lebensform desjenigen ist, der in Wirklichkeit nicht lebt: eine Kompensation oder ein Surrogat. Was übrigens keinen Rückzug in die turris eburnea rechtfertigt: ein Dichter soll nicht auf das Leben verzichten. Das Leben wird ihm entfliehen, ohne daß er etwas dazu tut.
Montale wurde am 12. Oktober 1896 in Genua geboren. Er studierte Gesang und debütierte in der Rolle des Valentino in Gounods Faust. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Infanterieoffizier teilnahm, wandte er sich ganz der Literatur zu. Wichtig war für ihn die Begegnung mit dem Turiner Liberalen Piero Gobetti, der seinen ersten Gedichtband publizierte und ihn als Mitarbeiter an seine antifaschistische Zeitung Baretti zog. 1926 übersiedelte er von Genua nach Florenz, wo er zwanzig Jahre lebte, zuerst als Verlagslektor, dann als Bibliotheksdirektor und von 1938 an – nachdem er diese Stellung verloren hatte, weil er nicht Mitglied der faschistischen Partei war – als freier Kritiker und Übersetzer aus dem Englischen, von Shakespeare und Marlowe bis zu Steinbeck und Angus Wilson. 1948 zog er nach Mailand, wo er Redakteur am Corriere della Sera wurde und bis 1967 als Literatur- und Musikkritiker, als Reiseberichterstatter (aus England, Frankreich, Griechenland, Israel, dem Libanon, Syrien, Amerika) und als Kommentator aktueller kultureller Probleme tätig war.
Montale hat in der zeitgenössischen italienischen Literatur ein neues Modell des Dichters als eines Menschen geschaffen, der sich in das normale bürgerliche Leben einordnet, einen Beruf ausübt und daneben Gedichte schreibt. In einem Interview sagte er einmal, er habe sich in die Anmeldeformulare der Hotels immer als „Journalist“ eingetragen, weil ihm die Bezeichnung „Schriftsteller“ zu vage und prätentiös sei. In dieser Zurückhaltung, die in scharfem Kontrast steht zum Bild des weihevollen Dichter-Propheten, das in den italienischen Schulen noch heute gepflegt wird, gleicht Montale dem großen Triestiner Romancier Italo Svevo, den er selber als Kritiker für Italien entdeckt hat. 1925, im selben Jahr wie sein erster Gedichtband Ossi di Seppia, erschien sein erster Essay über Svevo, der seinen Kaufmannsberuf ebenso ernsthaft betrieb wie das Schreiben. Und wenn Svevo heute noch nicht in seiner ganzen Bedeutung für die europäische Literatur erkannt ist und wenn die Verleihung des Nobelpreises an Montale manchenorts auf Erstaunen und sogar Unverständnis gestoßen ist, so ist das ein Indiz für die Oberflächlichkeit des kommerzialisierten Literaturbetriebes unserer Zeit, der Außenseiter, die sich den Gesetzen der Publizität entziehen, ganz einfach nicht zur Kenntnis nimmt.
Die fünf schmalen Gedichtbände, die Montales lyrisches Werk ausmachen, haben einen deutlichen zeitgeschichtlichen Bezug, der die Haltung und den Ton der einzelnen Sammlung prägt. 1925, als Ossi di Seppia erschien, stand Italien am Anfang der faschistischen Diktatur, und die meisten Schriftsteller begannen, sich in eine Art innere Emigration zurückzuziehen. Für Montale war diese innere Emigration nicht wie für viele seiner schreibenden Zeitgenossen eine Flucht in die Idylle oder den Ästhetizismus, sondern Rückzug auf eine Poetik der Weltverneinung, die zugleich eine Form des politischen Protestes war.
Seine negative Poetik hat Montale in einer berühmten Strophe dieses ersten Bandes formuliert:
Verlange nicht die Formel uns ab, die Welten öffne,
wenn schon zuweilen eine Silbe, dürr und krumm wie Zweige.
Was heut’ wir sagen können, ist nur das,
was wir nicht sind, was wir nicht wollen.
Schauplatz des ganzen Gedichtbandes ist die Meerlandschaft von Montales ligurischer Heimat, die aber nur selten sinnlich faßbar wird, sondern sich im Ansturm der Elemente – des Meers, des Windes und der glühenden Mittagssonne – auflöst und gestaltlos wird. Im Zentrum der poetischen Reflexion steht das „Male di vivere“ – das Leid des Lebens –, das Bewußtsein der Leere hinter den Erscheinungen, das nur von seltenen Augenblicken der Hingabe und der Hoffnung unterbrochen wird. Es sind meist magische Objekte, welche die Evasion in die existentielle und metaphysische Lebensfreiheit ermöglichen: eine Statue, eine Wolke, ein Falke im Azur – oder (wie bei van Gogh) eine Sonnenblume, der eines der schönsten Gedichte dieser Sammlung gilt. In der Übersetzung von Herbert Frenzel lautet es:
Bring mir die Sonnenblume, daß auf meine Flur
ich sie verpflanze, die der Salzhauch sengt.
Hier sei den ganzen Tag im spiegelnden Azur
ihr furchtsam gelblich Antlitz aufgehängt.
Ins Helle geht der Drang von dunklen Dingen,
die Körper strömen aus in Farbentönen:
und diese in Musik. Verklingen
ist also letztes Abenteuer alles Schönen.
Bring du die Blume mir, die dahin soll,
wo blonde Transparenzen sich erheben,
wo zur Essenz verdampfen Welt und Leben;
bring mir die Blume, die vom Lichte toll.
In formaler Hinsicht ist man auf den ersten Blick überrascht von relativen Traditionalismus dieser Lyrik – Montales Vorbilder waren vor allem die Symbolisten von Poe über Baudelaire bis zum frühen Valéry. Sie bewahrt fast alle überlieferten metrischen Strukturen: die klassischen Verstypen des „endecasillabo“ und des Septenars, den Reim, die Strophe und darüber hinaus auch die Formen des Sonetts, der Canzone und des Madrigals. Die Willkür und Zufälligkeit, die Montale sich innerhalb dieser klassischen Schemata gestattet, kommt bei näherer Betrachtung allerdings einer Aushöhlung dieser Tradition von innen her gleich: normale Reime werden mit Assonanzen und Binnenreimen kombiniert, Paroxytona mit Proparoxytona gereimt (Amico-canicola, limpida – corimbi), die verschiedenen Verstypen werden durch extravagante Akzente parodistisch verformt, ein Sonett wird im Schriftbild nicht getrennt, und ein Madrigal endet mit einem Fünf- anstatt mit einem Viersilbler.
Diese verfremdende Negierung traditioneller Formen, die auf beliebig verwendbare Versatzstücke reduziert werden, findet in der Bilderwelt von Montales Gedichten eine genaue Entsprechung: Während das kritische Bewußtsein des Dichters die mit den Sinnen faßbare Außenwelt immer wieder in Trugbilder auflöst, durchsetzt er seine Gedichte mit Elementen der Dingwelt: mit blühenden Mauern, scharfen Klippen, salzzerfressenen Kieseln, Flaschenscherben, Dorngestrüpp, Schleppkähnen und Schnellzügen, mit harten, trockenen und spröden Dingen, die klare Konturen haben und der Zersetzung der Welt Widerstand entgegensetzen. In ihrer genauen Benennung ist der verzweifelte Versuch, wenigstens ein Bruchstück der Wirklichkeit zu fassen, ebenso deutlich wie die ironische Tendenz, die gähnende Leere der umgebenden Welt durch die Kontrastwirkung noch eindrücklicher zu machen. Diese Ambivalenz kommt besonders deutlich zum Ausdruck im Objekt, das der Sammlung den Titel gibt: im Osso di Seppia, in den weißen Knochen des Tintenfischs, die das Meer ans Ufer wirft, in diesem Relikt des Lebens, das der weiteren Zersetzung durch die Kräfte der Natur einen hartnäckigen Widerstand entgegensetzt und in seiner abgeschliffenen Reinheit zu einem Symbol von Montales Lyrik geworden ist.
Es gibt in den Ossi di Seppia allerdings auch große und dramatische Gedichte, in denen der Autor aus seinem stoischen und passiven Unbeteiligtsein heraustritt, um die unerträglichen Schranken der absurden conditio humana niederzureißen. Eines dieser Gedichte gilt „Arsenio“, einem alter ego Montales, der versucht, aus dem Kerker der Zeit, in dem er reglos auf den Tod wartet, auszubrechen. Die Szenerie ist ein gewittriger Abend in einer Hafenstadt. Die letzte Strophe, in der sich der Fluchtversuch als Illusion enthüllt, lautet in der Übersetzung von Herbert Frenzel:
Also verirrt zwischen Rohrstuhl und triefenden
Matten, schwankendes Reis, das seine schleimigen,
nie gejäteten Wurzeln mit sich schleppt,
schauert es dich vor Leben und strebst du
nach einer Leere, die widertönt von erstickten
Klagen, verschlingen erneut dich die Fänge
der alten Woge, in der du rollst; und wieder
läßt alles, was dich erfaßt, ob Straße,
Torbogen, Mauer und Spiegel, dich erstarren in einer
eisigen Vielheit der Toten,
und wenn eine Geste dich streift, ein Wort
neben dich fällt, so ist das vielleicht, Arsenio,
in zerrinnender Stunde der Wink eines
zerstörten Lebens, das für dich erstand, und der Wind
trägt es herbei mit der Asche der Sterne.
Das Sich-im-Kreise-Drehen Arsenios ist eines der Grundmuster der Determiniertheit, die in Montales zweitem Gedichtband Le occasioni (Die Gelegenheiten), der 1939 herauskam, dominiert. Hier gibt es keinen Raum mehr für programmatische Erklärungen, für diskursives Sprechen oder für Augenblicke der Hoffnung: hier drückt sich ein konsequenter und fatalistischer Pessimismus in Bildern aus, die immer neue Chiffren der Verzweiflung sind. Die Begeisterung, mit der dieses Buch von der jungen Generation jener Epoche aufgenommen wurde, galt nicht nur der künstlerischen Vollkommenheit von Montales Gedichten, sondern ebensosehr der Ablehnung des faschistischen Regimes, die in ihnen zum Ausdruck kam. Vittorini schrieb in dem erwähnten Aufsatz dazu:
… dieses Büchlein wiegt schwerer als so viele Taten, die euch die Zeitungen seit einem Jahr erzählt haben, seit zwei Jahren, seit vielen Jahren bis zum heutigen Tag…
In den Occasioni verläßt Montale den zeitlosen Mittelmeerraum der Ossi di Seppia und schreibt Gelegenheitsgedichte im goethischen Sinn: sie spielen in Städten in Italien, Frankreich und Österreich und erzählen von Begegnungen, Abschieden und Reisen. Neu ist auch die Dimension der Zeit in diesen Gedichten, die Spannung zwischen dem gegenwärtigen Moment und der Vergangenheit, der immer wieder vergebliche Versuch, Erinnerungen zu beschwören. Der Ablauf der Zeit ist für Montale irreversibel; es gibt für ihn kein Ausweichen in die Erinnerung, aus der höchstens ein flüchtiges Bild aufleuchten kann, das aber rasch wieder verschwindet und die Ohnmacht des Gedächtnisses um so schmerzlicher bewußt macht. Das gilt vor allem für die zentrale Gruppe der „Mottetti“, einer Reihe von kleinen Gedichten mit zwei und gelegentlich mehr Strophen, die gern mit einer sentenzartigen Schlußformel enden. Sie sind meistens Versuche, die verlorene Geliebte Cliza wiederzufinden, wenn auch nur in der Erinnerung an Gemeinsames. Eines dieser „Mottetti“ lautet: (Übersetzung Frenzel)
Du sollst dies Antlitz, Schere, nicht beschneiden,
das so allein noch blieb, wo sich Erinnerung leert,
und nicht zu Nebel soll mir dies Gesicht,
dies große, lauschende, auf ewig werden.
Frost sinkt herab… hart trifft der Schnitt die Spitze.
Und die verwundete Akazie schüttelt
aus ihren Zweigen das Gehäus der Grille
in des Novembers ersten Regenschlamm.
Noch weiter geht Montales Auseinandersetzung mit den rätselhaften Mechanismen der Erinnerung in seinem Gedichtband La Buvera e altro (Der Sturmwind und anderes), der 1956 erschien. In dem Gedicht „L’Anguilla“ (Der Aal), in dem dieser Fisch als Schlüsselsymbol für die im Urschlamm des Gedächtnisses versunkenen Erinnerungsbilder erscheint, heißt es:
… die grüne Seele, die dort
Leben sucht, wo nur
Glut und Trostlosigkeit herrschen,
der Funke, der sagt:
alles beginnt, wenn alles scheint
zu verkohlen wie ein begrabener Strunk…
sehen und des privaten Verhängnisses zu Gebilden, die trotz ihrer metaphorischen Verschlüsselung einen dramatischen Bezug zur aktuellen Wirklichkeit haben, der in den „Occasioni“ für immer abgeschnitten schien. In dem Gedicht „Piccolo testamento“ (Kleines Testament) nahm der Dichter seinen Dialog mit Clizia wieder auf und formulierte als Vermächtnis für die Geliebte sein lyrisches Credo. Darin heißt es:
Diese poetische Definition der Erinnerung, die als Funke erst aufblitzen kann, wenn der Rohstoff des Lebens erloschen und vergessen ist, steht in der Nähe des berühmten Proust-Wortes: „Weil die wirklichen Paradiese die verlorenen Paradiese sind.“ Und doch haben die Erinnerungen, die in Montales Lyrik auftauchen, mit den weitverzweigten und lebendigen Beschwörungen der Vergangenheit von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit kaum etwas gemeinsam, weil sie nur rasch aufblitzende Funken, zerbrechliche poetische Wunder sind, die die Düsternis seines Weltbildes für Momente erhellen.
In diesem dritten Gedichtband setzt sich Montale zum erstenmal mit dem politischen Geschehen der Zeit direkt auseinander, der „Sturmwind“ des Titels ist eine Metapher für die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges. Ein großes Gedicht heißt „Primavera hitleriana“ (Hitler-Frühling) und bezieht sich auf das historische Treffen von Hitler und Mussolini in Florenz im Mai 1938, das vom beängstigenden Schneetreiben zu früh ausgeschlüpfter weißer Schmetterlinge verhüllt wird. Auch in den Gedichten der Gruppe „Dopo“ (Nachher), die nach dem 8. September 1943, dem Waffenstillstand zwischen Italien und Amerika, entstanden sind, verschmelzen die Themen des existentiellen, des historischen und des privaten Verhältnisses zu Gebilden, die trotz ihrer metaphorischen Verschlüsselung einen dramatischen Bezug zur aktuellen Wirklichkeit haben, der in den Occasioni für immer abgeschnitten schien. In dem Gedicht „Piccolo testamento“ (Kleines Testament) nahm der Dichter seinen Dialog mit der Clizia wieder auf und formulierte als Vermächtnis für die Geliebte sein lyrisches Credo. Darin heißt es:
Fahler Lichtschein, der nachts
mir zuckt im Gehäuse des Denkens,
perlmutterne Spur der Schnecke
oder Schimmer zertretenen Glases,
ist nicht der Schein der Kirchen noch der Fabrik,
von dem sich nährt
der Kleriker Rot und Schwarz.
Nur diese Iris kann ich
dir lassen zum Zeugnis
eines Glaubens, der erkämpft ward,
einer Hoffnung, die langsamer brannte
als das harte Holzscheit im Herd.
Der skizzierte Zusammenhang zwischen Montales Werk und seiner Zeit zeigt, wie fragwürdig es ist, bei einem so zeitbewußten Autor von „Hermetik“ zu sprechen, wie das in der italienischen wie in der deutschen Kritik heute noch üblich ist. Montale selber hat sein Werk immer als Befragung seiner Zeit verstanden und nie als esoterische „poésie pure“ oder als verschlüsselte Gefühlssymbolik. In dem Aufsatz „Stil und Überlieferung“, den er 1925 veröffentlichte, schrieb er:
Wer vom traditionellen Stil nur die äußeren Formen bewahrt – und etwas anderes ist in dieser Hinsicht nicht möglich, es sei denn neue historische Bedingungen würden auch einen neuen Glauben hervorbringen –, der scheint uns der Tradition weniger treu, als wer in seinem Werk den komplexen und schwierigen Charakter der Zeit widerspiegelt.
Daß die Erfahrung der Zeit komplex und schwierig war und ihre Umsetzung in die Sprache des Gedichts nicht immer auf den ersten Blick verständlich sein konnte, berechtigt nicht zum Ausweichen in die unverbindliche Feststellung bewußter Dunkelheit, zu der die Montale-Kritik, mit wenigen Ausnahmen bis heute meist allzu rasch bereit war.
1960 erschien Montales erster und einziger Prosaband Farfalla di Dinard (Schmetterling von Dinard), dessen einzelne Skizzen ungefähr im gleichen Zeitraum wie die Gedichte von La bufera e altro entstanden sind. (Die Artikel des Kulturkritikers und Reiseberichterstatters, die in den Bänden Auto dafé [1966] und Fuori di casa [1969] gesammelt sind, betreffen das Werk des Dichters Montale nur am Rand.) Montales Lyrik tendiert in mancher Hinsicht zur Prosa, und schon in die Sammlung La Bufera e altro waren zwei reine Prosastücke eingefügt. Die Prosa kommt dem Bedürfnis dieses Autors nach schmuckloser Genauigkeit und seiner Abneigung gegen musikalische Effekte entgegen. In der Prosa fällt die dramatische Spannung zu einer unerreichbaren Transzendenz, die in den Gedichten die Außenwelt aufsaugt, dahin, und die Erinnerung, die sich der Lyriker als Illusion versagt, belebt in den Prosaskizzen das graue Gefängnis des Alltags mit Menschen, Ereignissen, Farben und Formen, die sich im Licht einer skeptischen Heiterkeit entfalten und in der vielfältigen Brechung einer trockenen Ironie wieder verschweben. An der Radikalität des Pessimismus hat sich dabei nichts geändert; im Gegenteil: die magischen Objekte – Aale, Falken, Tintenfischknochen und Sonnenblumen –, die in den Gedichten die Möglichkeit einer existentiellen Freiheit andeuten, werden in den Prosaskizzen gelassen als Illusion entlarvt: die „Aale der Vergangenheit“ sind unerreichbar; der gelbe Zitronenfalter im bretonischen Café – ein Funke überlebenswilliger Daseinsfreude – löst sich in Nichts auf, und die Straußenfeder, das einzige faßbare Zeugnis nächtlicher Traumbesuche, wird unter dem nüchternen Blick der Putzfrau zu einer Hühner- oder Taubenfeder, die der Wind ins Zimmer geweht hat.
Wo es sich dagegen um Dinge handelt, in denen sich die gemeinsame Vergangenheit von zwei Menschen spiegelt, wird der Prosaist Montale freundlich und nachsichtig: die „Reliquien“, Zeitungsausschnitte mit den Photos eines Rennpferdes und eines Okapi, werden wiedergefunden, und „Die Fledermaus“ entschwindet unbehelligt im Dunkel der Nacht, nachdem das Ehepaar in ihr den Talisman seines Lebens erkannt hat, wobei unter anderem auch die Hypothese erwogen wurde, es könnte sich bei ihr um eine Reinkarnation des Schwiegervaters handeln.
Im Bereich dieses menschlichen Amulettkultes spielt Montale mit allen möglichen mystischen und animistischen Vorstellungen: in der Erzählung „Das Engelchen“ sagt der Ehemann, nachdem er seiner Frau zuerst spätromantische Gefühle vorgeworfen hat, weil sie den Wecker, Marke „Engel“ als ihr Kind bezeichnete: „Einer Taube oder sogar einem Wecker menschliche Persönlichkeit zugestehen, das ist ein unschuldiger Animismus, und der Animismus ist die des Menschen würdigste und auch logischste geistige Position. Denn der Mensch kann nicht aus sich heraustreten und die Dinge mit einem andern Maß messen als dem seinen.“
Man muß sich allerdings davor hüten, die philosophischen Exkurse und Aphorismen, mit denen Montales Prosa durchsetzt ist, allzu ernst zu nehmen: sie sind – ernst und ironisch zugleich – nicht mehr als Konjekturen, Versuchsballone, mit denen die Menschen Montales versuchen, etwas Licht in den Kerker ihres Schicksals zu bringen.
Das wird sehr deutlich in der Skizze „Die Angst“, wo der Autor einer neugierigen Reporterin erklärt, warum er die Hunde den Katzen vorzieht:
Meine Bekehrung geschah erst kürzlich und beruht auf der Beobachtung, daß die Hunde (mehr als die Katzen) in unserer Erinnerung bleiben und in uns weiterleben wollen. Theoretisch bin ich gegen das Weiterleben und glaube, es wäre außerordentlich würdig, wenn der Mensch oder das Tier sich damit abfinden, im ewigen Nichts unterzugehen. Aber in der Praxis – durch Überlieferung – bin ich ein Christ und kann mich dem Gedanken nicht entziehen, daß irgend etwas von uns weiterdauern kann oder muß.
Weiterleben in der Erinnerung – dieses Lieblingsmotiv Montales gewinnt in seiner Prosa aus dem Bewußtsein menschlicher Solidarität aber auch überraschend neue Aspekte. Die Erzählung „Am Strand“ konfrontiert den Ich-Erzähler mit der Erinnerung, die in einem andern Menschen lebt, mit der Existenz einer Vergangenheit, in dessen sein Ich fortdauert, obschon er selber von ihr nichts weiß. Aus Amerika erhält er den Brief einer Freundin, die er vergessen hat und nur mit Mühe wieder ins Gedächtnis zurückruft. Er schreibt:
In Tat und Wahrheit bin ich sehr beschämt. Ich denke an die Scherze des Gedächtnisses, an den alles verschlingenden Brunnen der Erinnerung. Ich glaubte mich mir selber und andern gegenüber reich, weil ich annahm, daß unendlich viele untergegangene Dinge in mir fortlebten und in meiner Brust ihre letzte Rechtfertigung fänden: ich glaubte mich reich und war in Wirklichkeit arm. Jemand, den ich vergessen hatte, hat mich überrascht; ich bin es, der im Gedächtnis Anactorias oder Annalenas noch existiert, ich lebe in ihr weiter und nicht sie in mir… Anactoria oder Annabella war von meinem Denken für vier, fünf oder sechs Jahre vollkommen unterdrückt worden und ist jetzt zurückgekehrt, weil sie zurückkehren wollte; sie schenkt sich mir, und nicht ich bin es, der sie auf der dilletantischen Suche nach der verlorenen Zeit wiedererweckt hat. Sie ist der liebevolle und würdige Eindringling; sie ist beim Erforschen ihrer Vergangenheit meinem Schatten begegnet, und sie hat im besten Sinn des Wortes wieder eine „Korrespondenz“ hergestellt.
In der Wendung „auf der dilletantischen Suche nach der verlorenen Zeit“ klingt unverhohlen Kritik auf an der Subjektivität des Proustschen Erinnerungsprozesses, in dem die vielfältige Interdependenz der erinnernden Menschen unbeachtet bleibt.
Expliziter setzt sich Montale mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Porträt Dominicos auseinander. Dominico gehört zusammen mit Herrn Fuchs, Herrn Stapps, Rebillo, Riccò und dem falschen Engländer in die Galerie der Käuze und Originale, die – extravagant und nur mit sich selber einig – am Rande der Gesellschaft leben.
Diesen einsamen Verrückten, die in einer konformistischen Welt ihre individuelle Freiheit pflegen, gehört Montales ganze Sympathie, obschon er weiß, daß diese Freiheit eine Illusion ist, die nur auf Kosten der Gesellschaft erhalten werden kann. Von Dominico sagt er:
Und wie weit kann uns anderseits die Freiheit des einzelnen Menschen interessieren, die Freiheit, die nicht allen gehört, sondern einem gegen alle? Ich fürchte, das Dominico, der sich allein rettet, auch allein verlorengeht und daß ihm, dem der religiöse Sinn für das Leben in einer Gemeinschaft abgeht, auch das Beste des individuellen Lebens fehlt: denn der Mensch ist kein Mensch, wenn er nicht mit den andern Menschen rechnet, er ist kein ganzer Mensch, wenn er die andern Menschen nicht bejaht.
Diese fast programmatisch klingenden Sätze sind aufschlußreich für die Zuwendung zum Menschen, die Montales Prosa auszeichnet. Man darf ihre Tragweite aber nicht überschätzen. Wenn Montale vom „religiösen Sinn des Lebens in der Gemeinschaft“ spricht, so meint er damit nicht religiöse Transzendenz, sondern das Hinnehmen einer existentiellen Gegebenheit. Sein Pessimismus bleibt so unerbittlich wie die Trauer des großen Schneemanns in Sankt Moritz, der nicht nur weint, weil er Zwiebeln in den Augenhöhlen hat, sondern auch aus andern Gründen, die der Autor nicht erklären kann und die zu erforschen er für unnötig hält. Als einsamer Tourist versucht Montale vom Hotelfenster aus mit dem wunderbaren Schneemann ins Gespräch zu kommen. Er tarnt dabei seine Verzweiflung mit spielerischer Ironie:
Gestatten Sie, Meister, sagte ich zu ihm, daß ich mich Ihrer unaufhaltsamen, umfassenden, universellen Klage anschließe. Ich bin eigens hergekommen, um Sie zu sehen. In meiner Unwürdigkeit bin ich vielleicht der einzige, der die Gründe Ihrer Klage erahnen kann. Ich werde mich auch in Ihrem Schlamm auflösen; auch ich habe in den Augenhöhlen zwei kleine Zwiebeln, eine Rübe anstelle der Nase…
Die Sammlung ist autobiographisch angelegt und geht von den Erinnerungen an die Kindheit im ligurischen Monterosso über die Jahre in Genua und Florenz bis zur letzten Lebensstation Mailand. Dabei ist die Bedeutung der Reisen nach England, der Begegnung mit Engländern, des englischen Elements ganz allgemein sehr aufschlußreich. Während für Ungaretti Frankreich, für Quasimodo die griechische Poesie wichtiges Vorbild war, erscheint Montales Werk hauptsächlich von England inspiriert: die Tatsache, daß er Eliot übersetzt hat, fällt dabei ebenso ins Gewicht wie die Wesensverwandtschaft, die ihn mit dem trockenen Humor, dem Understatement und der höflichen Gelassenheit der Engländer verbindet. Seine Zurückhaltung, seine Abneigung gegen die Öffentlichkeit, sein Bedürfnis die Lyrik, das Schreiben, den Beruf überhaupt bei allem Engagement als Privatsache zu verstehen, drückt sich am treffendsten in der Skizze des „Signore inglese“ aus, die einen Mailänder schildert, der seine Winterferien, ohne Sport zu treiben, hinter der undurchdringlichen Maske eines „falschen Engländers“ in der Halle eines Schweizer Hotels verbringt. Sie hört auf mit den Worten:
Ich weiß nicht, ob er je in England gewesen ist und dieselbe bewundernde Langeweile empfunden hat wie ich. Ich weiß nur, daß in einem imaginären Verein falscher Engländer die Würde des Präsidenten ihm zustehen würde und diejenige des Vizepräsidenten mir.
Den lockeren, liebenswürdigen und ironischen Ton dieser Prosastücke hat Montale auch in seinen beiden letzten Gedichtbänden wieder aufgenommen: 1971 erschien Satura und zwei Jahre später der Diario del ’71e del ’72. Die formale Konzentration der früheren Lyrik fehlt diesen durchsichtig klaren und der Prosa sehr nahen Gelegenheitsgedichten fast immer, die im Gegensatz zu den vorangehenden Bänden fast raum- und zeitlos sind; ihr Ausgangspunkt sind Dialoge, Worte, Gesten oder Gewohnheiten. Dafür entfaltet sich in ihnen ein ganz neues Register komischer Nuancen, das vom zarten Lächeln bis zur bitteren Satire reicht. Im Zentrum von Satura stehen die „Xenia“, die Montale nach dem Tod seiner Frau im Jahr 1964 geschrieben hat. Hier werden die Erinnerungen zum ersten Mal, in Montales Werk mit ironischer Sorgfalt in eine Gegenwart zurückgeholt, in der sie eine heitere Transparenz gewinnen. Ein Beispiel:
Nach langem Suchen
fand ich dich in einer Bar der Avenida
da Libertade; du kanntest kein Wort
Portugiesisch oder besser
ein Wort: Madeira. Und das Gläschen kam,
mit kleinen Langusten als Beilage.
Am Abend wurde ich verglichen mit den größten
Lusitaniern, die unaussprechliche Namen haben,
und zusätzlich mit Carducci.
Ganz unbeeindruckt sah ich dich weinen
vor Lachen, inmitten der vielleicht
gelangweilten, aber ernsthaften Menge.
In den übrigen Gedichten und vor allem im Tagebuch der Jahre 1971/72 dominiert die Zeitkritik, milder und ätzender Spott über zeitgenössische Mythen und Mißstände, der zeigt, daß Montale auch in der Zurückgezogenheit des Alters ein aufmerksamer Beobachter geblieben ist: er entlarvt nebulose Ideologien und oberflächliche Moden, wehrt sich gegen ungenaue Elogen, ruft Enthusiasten auf den Boden der Wirklichkeit zurück, und führt Gespräche mit Lebenden und Toten: mit Doktor Schweitzer, einem Kafka-Philologen, Literaturhistorikern und Schriftstellern.
Vor allem in den Epigrammen, aber auch in anderen Gedichten ist eine Rückkehr zum Endecasillabo feststellbar, der ein gelösteres Sprechen erlaubt. Der Reim fehlt fast ganz; in längeren Gedichten ist aber doch eine strophische Gliederung vorhanden. In der Satzführung ist noch etwas von der früheren Tendenz zur Verkettung oder gar Verschlingung der Satzteile übrig geblieben, auch die Vorliebe für die litaneihafte Anaphorik ist nicht ganz verschwunden. Was jedoch wegfällt, ist der Gebrauch optativer oder irrealer Modi und Zeiten des Verbums.
Das alles ist sichtbarer Ausdruck einer inneren Situation, die im Grunde negativer denn je ist; doch hat der Schriftsteller resigniert, und das gibt dieser späten Lyrik ihre leichte und spröde Heiterkeit – die Geschichte von Montales Lyrik läßt sich in der Veränderung der Negation am besten beschreiben –, und selbst die gelöste Herzlichkeit der „Xenia“ beruht auf der gemeinsamen Erkenntnis, daß es keine Hoffnung gibt. In Nummer 14 der ersten Serie heißt es:
Du allein wußtest, daß die Bewegung
sich nicht unterscheidet vom Stillstand,
daß die Leere Erfülltheit ist und der blaue Himmel
die dichteste aller Wolken.
In manchen dieser letzten Gedichte, z.B. wo Montale mit subtilem Humor eine Vogelscheuche im Weinberg als seine Muse erkennt, wird seine Lyrik der Malerei ähnlich, der sich Montale seit vielen Jahren in den Mußestunden widmet: es sind Bilder von impressionistischer Farbigkeit, zu deren Ausdruckskraft ihre nur scheinbare zeichnerische Naivität viel beiträgt. Als „Arte povera“ bezeichnet er in einem Gedicht des Tagebuchs 1971 seine Malerei und beschreibt die spielerischen Zufallstechniken, deren er sich dabei gern bedient:
Wein und Kaffee, Spuren von Zahnpasta,
wenn das Meer im Hintergrund sich schmücken ließ,
dies waren die Farben.
Ich malte auch mit dem Satz
von Milchkaffee in Sainte-Adresse, dort wo
Jongkind seine kalten Leuchtfarben fand…
Aber auch die großen Themen seiner früheren Lyrik tauchen auf und werden mit unveränderter Konzentration und zupackender Knappheit nochmals abgewandelt.
WIE ZACHAEUS
Es handelt sich darum,
auf den Maulbeerbaum zu klettern
um den Herrn zu sehen, wenn er vorübergeht.
Leider bin ich kein Kletterer und auch
wenn ich auf den Zehenspitzen stand,
habe ich ihn nie gesehen.
In der ungebrochenen und stoischen Kraft der Wahrhaftigkeit und des Beharrens, wie sie sich in diesem Gedicht ausdrückt, liegt die Faszination des Menschen wie des Dichters Montale.
Alice Vollenweider, aus: Eugenio Montale: Der Sturmwind und anderes, Coron-Verlag, 1980
Im Schatten Dantes
Kunst besteht, im Gegensatz zum Leben, nie für sich. Jedes Werk erscheint zwischen Vor- und Nachläufern. In der Lyrik gehen die Geister der Großen besonders sichtbar um. Denn ihre Worte sind weniger wandelbar als ihre Sinnbezüge.
Zum Tagewerk jedes Dichters gehört so die Abwehr der Schatten, deren Atem er heiß oder kalt im Nacken spürt; oder die Literaturkritik sorgt dafür, daß sie ihm zusetzen. Von „Klassikern“ geht ein Druck aus, der mitunter zu sprachlicher Lähmung führt. Und weil es uns leichter fällt, an der Zukunft zu zweifeln, als es mit ihr aufzunehmen, sind wir geneigt, uns an einem Endpunkt zu sehen. Da ist Unwissenheit oder Unschuld ein wahrer Segen; sie erlaubt es uns, solche Gespenster gar nicht erst zu beachten und bloß im Gefühl der eigenen Bühnenpräsenz zu „singen“ (am liebsten in „freien Rhythmen“).
Wer so sein Tun für einen Abschluß hält, verrät meist nicht so sehr mangelndes Zutrauen wie unzureichende Phantasie. Lebt aber ein Dichter lange genug, wird er mit solchen Beklemmungen (woher sie nun rühren) allmählich fertig und macht sie sich zunutze. Die Schrecken der Zukunft sind immer noch leichter zu ertragen als die der Gegenwart; sei es auch nur, weil die menschliche Voraussicht viel mehr Zerstörung bereit hält, als die Zukunft bringen kann.
Eugenio Montale ist jetzt einundachtzig und hat viele Zukünfte hinter sich, eigene und fremde. Seine Biographie weist nur zwei spektakuläre Momente auf: im Ersten Weltkrieg diente er als Offizier im italienischen Heer, und 1975 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Dazwischen traf er Anstalten, Opernsänger zu werden (seine Stimme war ansehnlich), widersetzte sich dem Faschismus – und zwar von Anfang an, was ihn schließlich sein Amt als Bibliothekar des Vieusseux-Kabinetts in Florenz kostete –, schrieb Artikel, half Zeitschriften herausgeben, berichtete dreißig Jahre lang über musikalische und sonstige Kulturereignisse für den Corriere della Sera, und während sechzig Jahren sind seine Gedichte entstanden. Zum Glück hat er nichts weiter Chronikwürdiges erlebt.
Seit den Romantikern sind uns Biographien von Dichtern geläufig, deren glänzende Laufbahn so früh wie ihr Schaffen endete. In dieser Hinsicht fällt Montale aus dem Rahmen; sein Beitrag zur Literatur, zur Lyrik, hat anachronistische Ausmaße. Er ist ein Zeitgenosse Apollinaires, Eliots, Mandelstams, und er gehört nicht nur chronologisch zu ihrer Generation. Jeder dieser Autoren hat in seiner Literatur eine qualitative Veränderung bewirkt; so auch Montale, und seine Aufgabe war bei weitem die schwerste.
Meist ist der Zufall im Spiel, wenn ein angelsächsischer Dichter einen Franzosen liest (Laforgue zum Beispiel); ein Italiener wird durch die Geographie dazu angehalten. Die Alpenübergänge, früher Einbahnstraßen der Kultur nach Norden, dienen jetzt dem Transport aller möglichen literarischen Ismen in beiden Richtungen. Geisterscharen, die das Tun eines Dichters umwölken – bevölkern. Jeder italienische Autor muß Schritt für Schritt die aus Gegenwart und Vergangenheit übermittelten Lasten heben; und die Gewichte der Gegenwart sind Montale wohl leichter geworden.
Die französische Nachbarschaft abgerechnet, hat sich die Situation der italienischen Dichtung in den ersten zwei Jahrzehnten nach 1900 nicht allzu sehr von der übrigen europäischen Literatur unterschieden. Sie war geprägt vom ästhetischen Überschwang, den die Alleinherrschaft der romantischen Poetik (ob nun in ihrer naturalistischen oder in ihrer symbolistischen Spielart) erzeugte. Die damaligen Hauptfiguren der italienischen Literaturszene – D’Annunzio und Marinetti – brachten fast ausschließlich diesen Überschwang, jeder auf seine Weise, zum Ausdruck. D’Annunzio trieb übersteigerte Harmonie zur letzten (und höchsten) Vollendung, Marinetti und die andern Futuristen betrieben das Gegenteil, sie zerfleischten die Harmonie. In beiden Fällen kämpften Mittel gegen Mittel; eine festgefahrene Ästhetik provozierte und bestimmte eine künstlerische Reaktion. Nachträglich leuchtet ein, daß dann drei Dichter kommen mußten – Ungaretti, Saba, Montale –, um die italienische Sprache auf moderne Lyrik einzustimmen.
Für geistige Odysseen gibt es kein Ithaka, und auch die Worte sind nur Transportmittel. Als metaphysischer Realist mit einer ausgesprochenen Vorliebe für dichte Bildhaftigkeit hat sich Montale seine eigene dichterische Ausdrucksweise geschaffen, indem er „gehobene“ und „prosaische“ Sprache einander zuordnete; eine Ausdrucksweise, die man den amaro stile nuovo nennen könnte (im Gegensatz zu Dantes Programm, das die italienische Dichtung mehr als sechs Jahrhunderte lang beherrschte). Es ist Montales bedeutendste Leistung, daß er trotz dem Diktat des dolce stil nuovo vorankam. Er versuchte nicht etwa, sich diesem Diktat zu entziehen, sondern er nahm variierend, zitierend das Vokabular wie die Metaphorik Dantes auf. Von solchen Anspielungen rührt teilweise die Dunkelheit her, die ihm Kritiker gelegentlich vorwerfen. Aber Zitate und Paraphrasen gehören wesentlich zur literarischen Sprache (ein Reden, das davon frei ist oder befreit wird, besteht bloß noch aus Gebärden), vor allem in der italienischen Tradition. Michelangelo und Raffael, um nur diese beiden zu nennen, waren eifrige Interpreten der Divina Commedia. Ein Kunstwerk soll Abhängigkeiten schaffen. Der am tiefsten verschuldete Künstler ist dann der reichste.
Die Reife, die Montale in seinem ersten Buch (Ossi di seppia, 1925) bewies, macht es allerdings schwierig, von seiner Entwicklung zu sprechen. Er hat schon hier die unfehlbare Musikalität des italienischen Elfsilblers aufgebrochen, hat eine absichtlich einförmige Intonation angenommen, die er durch zusätzliche Versfüße steigert oder durch Kürzung erstickt – eines der vielen Verfahren, die er benützt, um prosodischen Leerlauf zu vermeiden. Erinnert man sich an Montales unmittelbare Vorgänger (unter denen zweifellos D’Annunzio die große Leuchte ist), so wird klar, daß er stilistisch keinem etwas schuldet – oder allen, gegen die er in seinen Gedichten anschreibt; denn Polemik ist auch eine Art, Erbe zu sein.
Die Kontinuität im Widerspruch zeigt sich in Montales Verwendung des Reims. Nicht nur ein linguistisches Echo, ein hommage an die Sprache, gibt der Reim auch der Aussage des Dichters einen Zug ins Endgültige. Bei all seinen Vorteilen droht ein Reimschema (wie übrigens jedes Schema) durch seine Wiederholsamkeit eine Überbetonung hervorzubringen; ganz abgesehen von der historischen Distanz für den Leser. Um dieser Gefahr zu begegnen, wechselt Montale oft im selben Gedicht zwischen gereimten und reimlosen Versen hin und her. Ganz offensichtlich ist seine Abwehr gegen stilistische Übertreibungen sowohl ethisch wie ästhetisch zu verstehen – sie beweist, daß ein Gedicht das engste mögliche Zusammenspiel von Ethik und Ästhetik bilden kann.
Leider droht gerade dieses Zusammenspiel in der Übersetzung zu verschwinden. Und doch kann Montale, bei aller Einbuße an „zerebraler Dichte“ (nach dem Wort seines scharfsichtigsten Kritikers, Glauco Cambon), im fremdsprachigen Text bestehen. Verfällt die Übersetzung wohl oder übel in ein anderes Tonsystem, so holt sie das Original – dank ihrer interpretierenden Haltung – doch irgendwie ein, indem sie klärt, was der Autor als selbstverständlich betrachtete und dem italienischen Leser dadurch vielleicht vorenthielt. Von der hintergründigen, feinstimmigen Musik geht vieles verloren, doch der amerikanische Leser versteht die Bedeutungen leichter und würde von einem Italiener den Vorwurf der Dunkelheit nicht ohne weiteres übernehmen. Bei der vorliegenden Ausgabe bedauert man nur, daß die Fußnoten keine Hinweise auf Metrik und Reimschema der Gedichte geben. Wo die Kultur doch eigentlich in Fußnoten überlebt.
Vielleicht ist das Wort „Entwicklung“ auf einen Dichter wie Montale nicht anwendbar; schon weil es einen linearen Prozeß voraussetzt. Dichtendes Denken ist stets zusammenfassende Energie; es verwendet – wie Montale selbst einmal sagt – eine Radartechnik, es arbeitet auf 360 Grad. So ist auch ein Dichter zu jeder Zeit im Besitz der gesamten Sprache; fällt seine Wahl auf ein altertümliches Wort, so leitet ihn eher sein Thema oder sein Nervenzustand als ein vorgefaßtes stilistisches Programm. Gleiches gilt von der Syntax, von der Strophenform und von anderem mehr. Während sechzig Jahren hat Montale seine Dichtung auf einer stilistischen Höhe gehalten, die man auch in der Übersetzung noch spürt.
New Poems ist wohl schon Montales sechstes Buch, das in englischer Sprache erscheint. Doch im Gegensatz zu früheren Ausgaben, die einen Überblick über das ganze Schaffen des Dichters zu geben versuchten, enthält dieser Band ausschließlich Gedichte, die er im letzten Jahrzehnt geschrieben hat, die Gedichte der neuesten Sammlung Satura (1971). Auch wenn es kaum sinnvoll wäre, in ihnen das letzte Wort ihres Autors zu sehen, so vermitteln sie doch – durch das Alter des Dichters und durch das gemeinsame Thema, den Tod seiner Frau – eine Endstimmung. Aus dem Thema des Todes entsteht immer ein Selbstporträt.
Im Gedicht wie in jeder anderen Form der Rede ist der Angesprochene ebenso wichtig wie der Sprecher. Der Wortführer der New Poems versucht die Entfernung zwischen sich und seinem „Gesprächspartner“ auszumachen und dann die Antwort zu ermitteln, die „sie“ ihm gegeben hätte, wäre sie gegenwärtig gewesen. Das Schweigen, in das seine Rede gerichtet sein mußte, ist naturgemäß reicher an Antworten, als die menschliche Vorstellungskraft hergibt; daraus erwächst „ihr“ gegenüber ihm eine nicht zu bestreitende Überlegenheit. In dieser Hinsicht läßt sich Montale weder mit Eliot noch mit Thomas Hardy vergleichen, sondern eher mit dem Robert Frost der „New-Hampshire-Periode“, der meinte, die Frau sei aus einer Rippe (scherzhaft für Herz) des Mannes geschaffen worden, nicht um geliebt zu werden und nicht um zu lieben, nicht um gerichtet zu werden, sondern um „dir ein Richter“ zu sein. Doch hat es Montale, anders als Frost, mit dem fait accompli der Überlegenheit zu tun – mit einer Überlegenheit in absentia, die nicht so sehr ein Schuldgefühl in ihm weckt wie den Eindruck einer Abkoppelung: seine Person ist in die „äußere Zeit“ verbannt worden.
So sind dies Liebesgedichte, in denen der Tod annähernd die gleiche Rolle spielt wie in der Divina Commedia oder in Petrarcas Sonetten an Laura: die Rolle des Führers. Doch folgt ein ganz anderer den vertrauten Spuren: in einer Sprache, die nicht auf das Heilige vorgreift. In den New Poems spricht sich die hartnäckige Vorstellungskraft im Wetteifer mit dem Tod aus, die einem Mann wohl die Kraft geben könnte, beim Betreten des Schattenreichs und beim Anblick der Worte „Kilroy war da“ die eigene Schrift zu erkennen.
Und doch ist in diesen Versen keine krankhafte Faszination durch den Tod zu verspüren; der Dichter redet hier von der Abwesenheit, und die läßt sich in ganz denselben Nuancen des Gefühls und der Sprache vernehmen wie einst „ihre“ Anwesenheit: in Nuancen des tiefen Vertrautseins. Daher der private Ton der Gedichte: in ihrer Metrik, im einzelnen der Motive. Die Stimme eines Menschen, der mit sich selbst spricht (oft murmelt), ist auch sonst charakteristisch für die Lyrik Montales. Hier aber wird die persönliche Note dadurch verstärkt, daß des Dichters Persona von Dingen redet, die nur der wirkliche „er“ und die wirkliche „sie“ kannten – von Schuhlöffeln, Koffern, Hotelnamen, von gemeinsamen Bekannten oder von Büchern, die beide gelesen hatten. Aus dieser Art von Realien und aus der Lässigkeit der intimen Verständigung geht eine private Mythologie hervor, die nach und nach alle Züge annimmt, die zu jeder Mythologie gehören, surrealistische Durchblicke, Metamorphosen und dergleichen nicht ausgenommen. In dieser Mythologie steht nicht eine Sphinx mit den Brüsten einer Frau, sondern das Bild von „ihr“, ohne die Brille: das ist der Surrealismus der Subtraktion, und die Subtraktion, von der bald das Thema, bald der Stil betroffen wird, gibt der Gedichtsammlung ihre Einheit.
Das Lied vom Tod ist stets ein Lied der „Unschuld“, niemals der Erfahrung. Und seit er dichtet, verrät Montale, daß er das Lied dem Bekenntnis vorzieht. Es ist weniger ausdrücklich, und auch weniger wiederholbar; wie der Verlust. Im Lauf eines Lebens werden seelische Erwerbungen wirklicher als realer Besitz. Nichts ist so bewegend wie ein vereinsamter Mann, der seine Zuflucht zur Elegie nimmt:
Mit dir am Arm bin ich wohl eine Million Treppen hinuntergestiegen,
und nun, da du nicht da bist, begegnet mir auf jeder Stufe Leere.
Auch so ist unsere lange Reise kurz gewesen.
Die meine dauert noch an, aber Vorbestellungen
und Anschlußzüge brauche ich nicht mehr,
heimtückische Fallen; Enttäuschungen für den,
der glaubt, die Wirklichkeit sei das, was man sieht.
Mit dir am Arm bin ich Millionen Treppen hinuntergestiegen,
nicht weil man mit vier Augen etwa mehr sieht.
Ich bin sie mit dir hinuntergestiegen, weil ich wußte,
daß von uns beiden nur du das wahre, wenn auch sehr verschleierte
Augenlicht hattest.
(Deutsch von Michael Marschall von Bieberstein)
Von anderen Bezügen abgesehen, erinnert das Bild eines dauernden Abstiegs über Treppen an Dantes Divina Commedia. „Xenia I“ und „Xenia II“ so gut wie „Diario del ’71 “ und „Diario del ’72“, die Gedichte des vorliegenden Bandes, sind voll von Hinweisen auf dieses Werk. Bald liegt der Hinweis in einem einzelnen Wort, bald ist ein ganzes Gedicht ein Echo, wie das dreizehnte in „Xenia I“, das auf den Schluß des 21. Gesangs des „Purgatorio“ antwortet. Was aber Montales poetische und menschliche Weisheit kennzeichnet, ist seine karge und fast erschöpft verklingende Tongebung. Er spricht ja auch zu einer Frau, mit der er viele Jahre lang gelebt hat: er kennt sie gut genug, um zu wissen, daß ein tragisches Tremolo ihr nicht zusagen würde. Er weiß, daß er in die Stille hineinspricht; die Pausen, die er in seinen Versen macht, deuten die Undurchdringlichkeit dieses Leerraums an – eines nicht bewohnten, nur eben ein wenig vertrauten Raums, da er „sie“ dort vermutet. Und das Gefühl ihrer Anwesenheit bewahrt ihn davor, expressionistische Signale, ausgeklügelte Metaphern, übersteigerte Formulierungen und dergleichen zu verwenden. Sie, die nicht mehr lebt, würde sich auch aus steilen Worten nichts machen. Montale ist alt genug, um zu wissen, daß der große klassische Zug, so rein er gedacht sein mag, dem Publikum schmeichelt und mehr oder minder Selbstzweck ist; wogegen er genau weiß, zu wem und wohin seine Rede geht.
In solcher Verlassenheit wird die Kunst bescheiden. All unserem zerebralen Fortschritt zum Trotz neigen wir immer noch sehr zu Rückfällen in die romantische (und so auch realistische) Vorstellung, daß die Kunst „das Leben nachahmt“. Wenn die Kunst irgend etwas derartiges tut, so spiegelt sie allenfalls die wenigen Inhalte der Existenz, die über das „Leben“ hinausweisen, die es über seinen Endpunkt hinweg ausdehnen – was oft als Bemühen der Kunst oder des Künstlers um die eigene Unsterblichkeit mißverstanden wird. Mit anderen Worten, die Kunst ahmt eher den Tod als das Leben nach: die Sphäre, von der das Leben nicht zu berichten hat. Im Bewußtsein der eigenen Kürze versucht die Kunst, die längste mögliche Lesart der Zeit einzuholen. Was letztlich die Kunst vom Leben unterscheidet, ist ihre Fähigkeit, einen höheren Grad der lyrischen Diktion zu erzeugen als sonst eine menschliche Umgangsform. Darum ist die Dichtung die Nachbarin – wenn nicht sogar die Erfinderin – des Lebens nach dem Tode.
In New Poems begegnet man einer qualitativ neuen Sprechweise. Montales eigener größtenteils; doch stellenweise rührt sie von der Übersetzung her, deren begrenzter Spielraum die Strenge des Originals nur noch steigert. Die doppelte Wirkung macht den Leser nicht so sehr darum betroffen, weil die hier porträtierte Psyche in der Weltliteratur nirgends vorgebildet ist, wie vielmehr deshalb, weil sich ein solcher Seelenzustand in ursprünglich englischer Rede nicht kundtun könnte. Zu fragen, warum das so sei, macht den Sachverhalt nicht viel klarer; denn schließlich ist diese Innenschau in Montales Muttersprache schon ungewöhnlich genug und hat ihm den Ruf eines sehr besonderen Dichters eingetragen.
Dichtung ist im Grunde selber Übertragung; anders gesagt, eine Möglichkeit, der Psyche sprachliche Gestalt zu verleihen. Dichtung ist nicht so sehr eine Kunstform, wie die Kunst eine Form ist, deren die Dichtung sich oft bedient. Letztlich ist Dichtung ein Kundtun von Wahrnehmung, ein Übersetzen der Wahrnehmung in das Erbgut der Sprache – der Sprache, die noch immer das beste Instrumentarium ist. Doch bei all seiner Leistungsfähigkeit, wo es darum geht, die Wahrnehmung nachzuzeichnen und zu vertiefen – wobei sich oft mehr offenbart, als beabsichtigt war, und die Wiedergabe im günstigsten Falle selbst Wahrnehmung wird –, weiß jeder einigermaßen erfahrene Dichter, daß dieses Instrumentarium vieles nicht greift und manches verbiegt.
So ist aber Dichtung der Sprache auch fremd – sei es nun Italienisch, Englisch oder Suaheli – und widersetzt sich ihr; und die menschliche Psyche ist in ihrer Komplexität jeder Sprache, auf die wir angewiesen sind, weit überlegen. Hätte die Seele ihre eigene Zunge, so wäre der Abstand zwischen ihr und der Sprache der Dichtung etwa so groß wie der zwischen Dichtung und Alltagssprache. Montales Diktion verringert die beiden Entfernungen.
Man sollte New Poems mehrmals wiederlesen, ob nun in der Absicht, sie auf ihre stereoskopischen Ursprünge hin – ihre Lebensform im Bewußtsein des Dichters – zu analysieren oder nur schon um der flüchtigen Schönheit der behutsam murmelnden, doch stoisch festen Stimme willen, die uns verrät, die Welt werde weder mit einem Knall noch mit einem Wimmern enden, sondern mit dem Sprechen, dem Schweigen, dem Sprechen eines Menschen. Wer so lange gelebt hat, für den ist der Untergang nicht nur ein Wort unter andern.
Gewiß ist dieses Buch ein Monolog, kann nichts anderes sein, da der Partner ja abwesend ist wie in fast jeder Dichtung. Doch dem Programm nach stammt die Idee des Monologs aus der „Dichtung der Abwesenheit“, wie man die bedeutendste literarische Bewegung seit dem Symbolismus auch nennen kann – eine Bewegung, die in den zwanziger und dreißiger Jahren in Europa und namentlich in Italien aufkam: die „hermetische Dichtung“. Die folgenden Verse, mit denen die vorliegende Sammlung beginnt, zeugen für dieses Programm und zugleich für seinen Erfolg:
DAS „DU“
Die Kritiker, irregeleitet
von mir, erklären, mein „du“
sei eine Institution.
Es war mein Fehler; sie hätten erkannt,
daß in mir alle eins sind, obwohl sie
vielfach gespiegelt erscheinen. Das Schlimme
ist, daß der Vogel im Netz
nicht weiß, ob er selbst es ist oder eines
von vielen Abbildern.
Montale stieß zur „hermetischen“ Bewegung in den späten dreißiger Jahren, in Florenz, wohin er 1927 von seiner Vaterstadt Genua gezogen war. Die Hauptfigur war damals Ungaretti, der die Ästhetik von Mallarmés „Un coup de dés“ wohl ein wenig zu wörtlich genommen hatte. Um aber den „Hermetizismus“ zu verstehen, muß man nicht nur wissen, wer die Bewegung anführte, sondern auch, wer in Italien überhaupt führte, nämlich der „Duce“. Der „Hermetizismus“ war weitgehend eine Reaktion der italienischen Intelligentsia auf die politische Situation Italiens in den zwanziger und dreißiger Jahren, ein Akt der kulturellen Selbstverteidigung – der sprachlichen Selbstverteidigung im Falle der Dichtung – gegen den Faschismus. Diesen Aspekt der Bewegung zu übersehen wäre ein Fehler, eine Vereinfachung; und man darf ihn auch nicht überbewerten.
Das italienische Regime ging gegen die Kunst weit weniger gewalttätig vor als das russische oder das deutsche, aber seine Unvereinbarkeit mit den Traditionen der eigenen Kultur war viel deutlicher und bedrückender. Man kann es beinahe als Regel ansehen, daß die Kunst unter totalitärem Druck eine Dichte erreicht, die der Stärke des Drucks entspricht. Die ganze italienische Kulturgeschichte trug zu der nun benötigten Substanz bei; das übrige leisteten die „hermetischen“ Dichter. Was hätte ihnen, die auf literarische Askese, verdichtete Sprache, auf Klang und Anklang (eher als auf die Bedeutung) der Wörter drangen, verhaßter sein können als die Propagandaschwälle und die staatlich geförderten Spielarten des Futurismus?
Montale hat den Ruf, der schwierigste Dichter dieser Schule zu sein, und gewiß ist er schwieriger – im Sinn von komplexer – als Ungaretti oder Quasimodo. Aber mit all seinen Zwischentönen, Gedankensprüngen, verhohlenen Anspielungen hat er den „Hitlerfrühling“ geschrieben, der so beginnt:
Die weiße Wolke tollgewordner Falter
wirbelt dicht um die bleichen Lichter an den Mauern
und legt ein Laken aus, darauf der Fuß
wie über Zucker knirscht…
Das Bild des Fußes, der auf toten Faltern wie auf ausgestreutem Zucker knirscht, vermittelt ein so ton- und ausdrucksloses Unbehagen und Erschrecken, daß ein wenig später der Satz:
das Land wird unterspült und keiner mehr ist schuldlos
wahrhaft lyrisch anmutet. Hier ist vom „Hermetizismus“, von der asketischen Spielart des Symbolismus, wenig zu spüren. Die Wirklichkeit forderte eine konkretere Antwort, und der Zweite Weltkrieg brachte eine „Enthermetisierung“ mit sich. Trotzdem wurde Montale das Etikett des „Hermetikers“ weiterhin umgehängt, und man hörte nicht auf, seine Dichtung „dunkel“ zu nennen. Aber wann immer von „dunklen“ Texten die Rede ist, sollte man darüber nachdenken, was man sich unter „hell“ oder „klar“ vorstellt; denn da bleibt es dann meistens bei dem, was man schon kennt oder mag oder, schlimmstenfalls, in Erinnerung hat. In diesem Sinn gilt: je dunkler, desto besser; und in diesem Sinn fahren auch Montales „dunkle“ Gedichte immer noch fort, die Kultur zu verteidigen, diesmal gegen eine noch weiter verbreitete Bedrohung:
Der heutige Mensch hat ein Nervensystem geerbt, das den gegenwärtigen Lebensbedingungen nicht gewachsen ist. In Erwartung des Menschen von morgen reagiert der Mensch von heute auf den veränderten Stand der Dinge nicht dadurch, daß er den Kampf mit ihm aufnimmt, sondern dadurch, daß er wieder zu Masse wird.
Diese Sätze stehen in dem Band Poet in Our Time, einer Sammlung von Prosatexten Montales, die er selber eine „Collage von Anmerkungen“ genannt hat. Die Passagen stammen aus Essays, Rezensionen, Interviews usw., die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten erschienen sind. Das Buch ist weit mehr als ein Kommentar zur eigenen Arbeit des Autors, wenn es das überhaupt ist. Montale wäre der letzte, der seinen Denkweg, geschweige denn die „Geheimnisse seines Metiers“ aufdeckte. Er nimmt Einblick – als Privatmann in das öffentliche Leben –, er gewährt ihn nicht. Poet in Our Time gibt Rechenschaft über solchen Einblick, und die Betonung liegt eher auf „unserer Zeit“ als auf dem „Dichter“.
Das Fehlen von chronologischen Anhaltspunkten und die luzide Härte der Sprache geben dem Buch einen Zug ins Diagnostische und Apodiktische. Der Kranke oder der Angeklagte ist die Zivilisation, die „zu gehen glaubt, während sie in Wirklichkeit durch ein Fließband befördert wird“. Aber der Dichter erkennt sich selbst als das Fleisch und Blut dieser Zivilisation, und so ist weder von Heilung noch von Rehabilitierung die Rede. Poet in Our Time ist das ebenso illusionslose wie anspruchsvolle Testament eines Mannes, der keine anderen Erben zu haben scheint als einen „stereophonen Menschen der Zukunft, der nicht einmal über sein eigenes Schicksal nachzudenken vermag“. Dieser Ausblick mutet zwar rückständig an – er verrät den Europäer –, aber man kann sich fragen, welcher Ausblick Montales bedenklicher sei – dieser oder der folgende, der seinem „Piccolo Testamento“ entnommen ist, einem Gedicht, das wohl neben Yeats’ „Second Coming“ bestehen kann:
Nur diesen Schimmer kann ich noch
dir hinterlassen, Zeugnis eines Glaubens,
der angefochten war,
und einer Hoffnung, die
langsamer brannte als ein Scheit im Herd.
Davon bewahre dir den Puder
in deinem Spiegel, gehn die Leuchten aus
und die Sardana wird zum Höllentanz
und Luzifer sinkt düster auf ein Schiff
der Themse oder Seine, des Hudson,
schlägt mit den müden, halb gebrochenen
Pechflügeln, dir zu sagen: es ist Zeit.
Das Gute an Testamenten ist immerhin, daß sie eine Zukunft voraussetzen. Im Unterschied zu Philosophen und Gesellschaftswissenschaftlern denkt der Dichter aus beruflicher Sorge um sein Publikum oder im Hinblick auf die Sterblichkeit der Kunst über die Zukunft nach. Dieser zweite Gesichtspunkt spielt für den Poet in Our Time die größere Rolle, weil „der Inhalt der Kunst sich vermindert, genau wie die Verschiedenheit der Individuen sich verringert“. Wo Montale weder polemisch noch elegisch spricht, beschäftigt er sich mit der Kunst des Schreibens:
Es bleibt die Hoffnung, daß die Wortkunst, eine unheilbar semantische Kunst, früher oder später sogar auf die Künste wieder einwirken wird, die sich von jeder Verpflichtung zur Identifikation oder Repräsentation der Wahrheit losgesagt haben.
Das klingt so affirmativ, wie Montale im Umgang mit Literatur nur sein kann; doch er sagt über sie auch:
Zu einer Generation zu gehören, die an nichts mehr glaubt, mag ein Grund zum Stolz für jeden sein, der vom Adel oder von einer geheimnisvollen Notwendigkeit dieser Leere überzeugt ist; aber es ist noch keine Entschuldigung dafür, daß man diese Leere in eine paradoxe Lebensbejahung umwandelt, nur um sich einen Stil anzueignen…
Montale zu zitieren ist eine gefährliche Versuchung, denn es wird leicht zu einer Haupttätigkeit. Italiener haben eine besondere Art, von der Zukunft zu reden – seit Leonardo, bis Marinetti. Doch die Versuchung rührt bei Montale weniger von der aphoristischen oder selbst von der prophetischen Qualität seiner Aussagen her als vom Ton seiner Stimme, die Vertrauen zu diesen Aussagen einflößt, weil sie so frei von Bangnis ist. Es liegt etwas in ihr, das nach Wiederkehr klingt, wie die Ankunft der Wellen am Strand oder die unveränderliche Brechung des Lichtstrahls in einer Linse. Wenn einer so lang gelebt hat wie er, dann werden die „vorläufigen Begegnungen des Realen mit dem Idealen“ für den Dichter häufig genug, daß er mit dem Idealen ein wenig vertraut wird und etwas über seine möglichen Wandlungen sagen kann. Diese Wandlungen sind für den Künstler vielleicht die einzigen tauglichen Zeitmaße.
Merkwürdig dieses fast gleichzeitige Erscheinen der beiden Bücher; sie scheinen ineinander überzugehen. Poet in Our Time liefert im Grund die beste Erläuterung zu der „äußeren Zeit“, in der die Persona der New Poems sich aufhält. Auch dies eine Entsprechung zur Divina Commedia, wo diese Welt als „jene Sphäre“ verstanden wird. „Ihre“ Abwesenheit für Montales Persona ist so greifbar, wie für diejenige Dantes „ihre“ Anwesenheit war. Der Modus der Wiederholung, die hier die Existenz über das Leben hinaus prägt, ist nahe verwandt mit dem Kreisen Dantes in den Ordnungen derer, „die als Menschen gestorben sind, ehe ihr Körper starb“. Poet in Our Time gibt uns eine Skizze – und Skizzen sind immer ein wenig überzeugender als Gemälde – der übervölkerten Spirale einer Landschaft, wo solch sterbende und doch lebende Wesen hausen.
Das Buch mutet nicht sehr „italienisch“ an, obschon die alte Kultur sehr viel zu dem hohen Rang seines Autors beiträgt. Die Wörter „europäisch“ und „international“ nehmen sich hier wie abgenützte Umschreibungen von „universal“ aus. Montale ist ein Schriftsteller, dessen sprachliche Meisterschaft aus seiner geistigen Unabhängigkeit erwachsen ist. So sind New Poems und Poet in Our Time noch das, was Bücher waren, bevor sie zu bloßen Büchern wurden: Chroniken der Seele. Der Seele, die keiner Chronik bedarf. Das letzte der New Poems lautet:
ZUM ENDE
Meinen Nachfahren (wenn es welche gibt)
im Bereich der Literatur, und das
ist unwahrscheinlich, empfehle ich,
einen schönen Scheiterhaufen zu errichten
aus allem, was mein Leben betrifft,
aus all meinem Tun und Lassen.
Ich bin kein Leopardi, hinterlasse wenig dem Feuer,
ist es doch schon zuviel, in Prozenten zu leben.
Ich lebte zu fünf Prozent, erhöht nicht
die Dosis. Allzuoft regnet es doch
auf den nassen Boden.
(Deutsch von Michael Marschall von Bieberstein)
Joseph Brodsky, 1977, Deutsch von Hanno Helbling, aus Joseph Brodsky: Flucht aus Byzanz. Essays, „Dieser Text ist verschwunden.“, 1988
Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt + Interview
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Fakten und Vermutungen zum Herausgeber Roland Erb + Kalliope + Facebook
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Zum 70. Geburtstag des Herausgebers Richard Pietraß:
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Fakten und Vermutungen zum Herausgeber Richard Pietraß + Instagram + KLG 1 & 2 + DAS&D + Übersetzungen 1 & 2 + Kalliope
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shi 詩 yan 言 kou 口
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
LA SPERANZA DI PURE RIVEDERTI
(nach Eugenio Montale)
Mir schwand die Hoffnung, dich je
wiederzusehen
und ich fragte mich, trägt das, was
meine Sehnsucht verschließt, die Flut
der Bilder, die Zeichen des Todes,
oder bricht auch hier, verzerrt
und schwach, ein Schein von dir,
ein Licht aus der Vergangenheit:
(In Modena führte unter den Lauben
ein goldbetreßter Diener
zwei Schakale an der Leine aus)
Christian Saalberg
Toni Kienlechner: Wer ist Montale?, Die Zeit, 31.10.1975
Jörg Aufenanger: Der Dichter und das Meer, Sinn und Form, Heft 2/2025, März/April 2025
Jan Wagner: Götter und Landstreicher. Nicht zuletzt über Eugenio Montale. Vierter Bamberger Poetikvortrag im Rahmen der Bamberger Poetikprofessur
Zum 70. Geburtstag des Autors:
Nora Urban: Zu Eugenio Montales siebzigstem Geburtstag
Die Tat, 12.10.1966
Zum 80. Geburtstag des Autors:
N. U.: Eugenio Montale zum achtzigsten Geburtstag
Die Tat, 12.10.1966
Zum 125. Geburtstag des Autors:
Google Doodle von Andrea Serio
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