– Zu Jan Wagners Gedicht „Erste Elegie“ aus Jan Wagner: Die Eulenhasser in den Hallenhäusern. –
JAN WAGNER
Erste Elegie
Heute in aller Frühe kamen die römischen Gärtner,
aaaStutzten vorm Haus die Kakteen, schnitten die Enden ab,
Denen zu helfen nicht war, und retteten so das Ganze.
aaaLivia, dieses Bild ging mir die ganze Zeit
Nicht aus dem Sinn, und auch der heisere Klang der Sägen
aaaHing mir noch lange im Ohr. An diesem ersten Tag
Sah ich die Frau des Schlachters in rosa Häschenpantoffeln
aaaRauchend vor ihrem Geschäft, wo sie den Absatz wusch,
Wohnanlagen wie Flagschiffe, prachtvoll von lauter Laken;
aaaSah im Café den Wirt, wie er das heiße Geschirr
Aus der Maschine nahm, dampfende weiße Marmorbrocken,
aaaAll den verwaschenen Putz, Ocker, Zimt oder Rot,
Palmen vor den Fassaden, ausgefranster als Pinsel,
aaaUnd den Maronenmann an seinem Märtyrerrost;
Schließlich bei Sankt Paul vor den Mauern die beiden Jungen
aaaLinker Hand vom Portal: Während die Messe begann
Und man von drinnen das Singen und Beten der Gläubigen hörte,
aaaSchossen sie ihren Ball gegen die Kirchenwand,
Unermüdlich und ohne dafür getadelt zu werden,
aaaGegens gemauerte Grau, gegen den alten Stein,
Wieder und wieder, und so, wie das Leder getreten wurde,
aaaSprang es zu ihnen zurück. Majestätisch und stumm
Gehen Zyklopen neben mir, Livia, hohe Laternen,
aaaBringen mich bis zum Haus. Aufgeplatzt unterm Tisch
Immer noch die Orange von gestern, die feine Naht aus
aaaAmeisen, die sie heilt. Draußen sind die Kakteen,
Meine Versehrten. Jetzt in der Dämmerung leuchtet jedes
aaaFrisch gekürzte Glied hell und weiß wie ein Stern.
Der verborgene Autor
– Jan Wagners Variationen über Kreativität und Autorschaft in Philipp Millers „Erster Elegie“. –
Im Band Die Eulenhasser in den Hallenhäusern (2012)48 präsentiert Jan Wagner Gedichte von drei fiktiven Lyrikern. Wagner tritt im Band nicht als Autor, sondern als Herausgeber in Erscheinung: Die Lyriker Anton Brant, Theodor Vischhaupt und Philip Miller werden nicht als erfunden vorgestellt – vielmehr präsentiert der Herausgeber sie, mit Verweis auf zufällig überlieferte oder entdeckte Texte realer Dichterinnen und Dichter, als „Verborgene“,49 als reale, aber potentiell unentdeckte Autoren. Jan Wagner erläuterte diese Herausgeberfiktion vor allem im Aufsatz „Der Poet als Maskenball“,50 in dem intensiv über die Problematik „imaginäre[r] Dichter“51 und ihr Verhältnis zum realen Autor nachgedacht wird. Im „Vorwort: Die Verborgenen“ zu Die Eulenhasser wird diese Fiktion freilich bestenfalls ironisch in der Schlusswendung angedeutet:
Der Herausgeber seinerseits würde sich schon glücklich schätzen, wenn es ihm mit diesem Buch gelänge, Brant, Vischhaupt und Miller zumindest für die Dauer der Lektüre dem Vergessen, der ewigen Abwesenheit zu entreißen, durch die Präsentation ihrer Leben und ihrer Werke dafür zu sorgen, daß sie einen Augenblick lang vortreten – nur um dann, wie Walt Whitman einmal schrieb, sich „umzudrehen und zurück ins Dunkel zu eilen“.52
Die drei fiktiven Dichter sind nach Auskunft des Herausgebers nicht vollkommen unbekannt, sondern „bereits hier und da veröffentlicht worden […] und sogar, wenn auch in bescheidenstem Umfang, Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.“53 Im Band finden sich deshalb nicht nur Gedichte, sondern jeweils auch eine kurze „Einführung in Leben und Werk“ zum jeweiligen Autor sowie ein schmales Verzeichnis der vermeintlichen Publikationsorgane der Gedichte sowie bislang erschienener wissenschaftlicher Literatur. Einführungen wie Bibliographien sind satirische Reflexionen literaturwissenschaftlicher Autor-Forschung. Sie kritisieren den Gemeinplatz, das Werk eines Autors sei in erster Linie aus biographischen Erfahrungen zu erklären.
Was Wagner an diesem Gemeinplatz problematisch findet, erläutert er in „Der Poet als Maskenball“. Natürlich stehe es außer Frage, „dass kein Gedicht ohne die Erfahrungen, die Wahrnehmungen und Gefühle seines Autors entstehen könne“;54 dennoch aber seien die „privaten Empfindungen, das Glück und Leiden des Autors“55 für seine Texte nicht relevant. Interessant sei im Gegenteil nur,
[…] ob er sie mittels aller ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel, Metapher, Klang, Rhythmus, in ein Kunstwerk aus Worten zu überführen vermag, das seine individuellen Befindlichkeiten übersteigt und von allgemeinem ästhetischen Interesse ist, das der lyrischen Effektivität mehr Interesse beimisst als der emotionalen Aufrichtigkeit.56
Nach Wagner muss sich das ,Ich‘, das in einem Gedicht erscheint, vom biographisch-realweltlichen Ich des Autors geradezu zwangsläufig unterscheiden, weshalb es folgerichtig in die Nähe der Fiktion gerät und deshalb die Eigenschaften eines fingierten Dichters annehmen kann, ja bis zu einem gewissen Grad auch dann annimmt, wenn davon explizit gar nicht die Rede ist. Denn wenn die „lyrische Effektivität“ mehr zählt, als „emotionale Aufrichtigkeit“ oder biographische Wahrhaftigkeit, dann ist es nachvollziehbar, dass „das Ich des Gedichts rasch ein sehr wandelbares“ wird.57 Dieses ,Ich‘ im Gedicht erscheint als eine an den ästhetischen Qualitäten und Bedürfnissen des Textes ausgerichtete und nach diesen jeweils neu zu bestimmende Variable – oder, mit Jan Wagner gesprochen:
der Poet [wird] sein eigener Maskenball.58
Mit einer Formulierung Heinrich Deterings:
Was hier Ich heißt, ist oft weniger Voraussetzung des Gedichts als vielmehr sein Effekt. […]59
Mit den Gedichten von Anton Brant, Theodor Vischhaupt und Philip Miller wird eine Poetik, nach der der jeweilige lyrische Text mit seiner klanglich-rhythmischen und sprachlich-bildhaften Eigenlogik mehr zählt als vermeintlich aussagekräftige biographische Bezüge, variantenreich in Szene gesetzt. Ironisch intensiviert wird diese Inszenierung durch die ,Einführungen‘ zu den drei Autoren. Sie greifen den Gemeinplatz der Beziehung zwischen Leben und Werk bereits in den entsprechenden Titel-Formulierungen auf – und dementieren ihn durch die Erläuterung der denkbar spärlichen, nichtssagenden oder gar nicht erst vorhandenen Informationen über dieses Leben. Bei allen drei Autoren führen Versuche, das lyrische Werk aus der Biographie zu erklären, deshalb nicht sehr weit. Immerhin scheint zumindest bei Anton Brant und Theodor Vischhaupt ein gewisser Zusammenhang zwischen biographischem Lebensraum und Lyrik zu bestehen: Anton Brant thematisiert die norddeutsche Landschaft, für Theodor Vischhaupts Anagramm-Gedichte wird zumindest noch ein mittelbarer Bezug zum Großstadt-Hintergrund Berlins suggeriert. Bei Philip Millers Elegien ist der topographische Bezug zu Rom zwar mit den Händen zu greifen, andererseits aber ist der Widerspruch zwischen schlicht nicht vorhandenen biographischen Spuren und einer Sammlung von Elegien, die Wahrnehmungen und Beobachtungen thematisieren, die ganz essentiell an Rom gebunden sind, besonders auffällig. Insofern ist Philip Miller, um dessen Elegien es im Folgenden gehen soll, derjenige der drei Dichter, bei dem, wie das Ernst Osterkamp formuliert hat, „das Verfahren, Leben und Werk aufeinander zu beziehen.“60 im Verhältnis zu den beiden anderen Lyrikern „schon dadurch ad absurdum“ geführt wird, dass „über das Leben des Mannes, der sich Philip Miller nennt, nicht mehr bekannt [ist] als das Wenige, das sich mit einiger hermeneutischer Anstrengung aus seinen Elegien erschließen lässt: nichts also!“61 Wenn man über Anton Brants und Theodor Vischhaupts Leben weiß, dass sie vergleichsweise ereignislos verliefen und insofern nichts zur Erklärung des Werks beitragen, dann weiß man über Philip Miller gar nichts – bis auf die Tatsache, dass er sich eines Decknamens bedient und sich mit seinen Elegien ganz explizit auf Goethes Römische Elegien bezieht.
I. Bezüge und Konstellationen: Goethes Römische Elegien und der Pasquino-Torso
Insofern ist es sinnvoll, bei diesen offenkundigen Bezügen und Konstellationen zu beginnen. Philip Millers Elegien nehmen formal und thematisch Bezug auf Goethes Römische Elegien,62 und diese Bezugnahme wird im Band mit allem Nachdruck unterstrichen, hervorgehoben und gezielt ausgestellt. Als einzigem der drei unbekannten Dichter ist Philip Miller neben der obligatorischen „Einführung in Leben und Werk Philip Millers“63 ein weiterer Text gewidmet, nämlich die „Anmerkungen zu Philip Miller“64 des italienischen Literaturwissenschaftlers Roberto Zapperi. Roberto Zapperi ist, wie Jan Wagner, eine reale Person; in Deutschland wurde er als Goethe-Forscher 1999 durch sein Buch Das Inkognito bekannt, in dem die römischen Jahre Goethes durchleuchtet werden.65 In Zapperis Anmerkungen zu Philip Miller wird der Goethe-Bezug so explizit erläutert, dass selbst ein Leser, der von Goethe noch nie gehört hat, eine Ahnung davon bekommen muss, dass die „Elegien“ Millers in besonderer Weise mit Goethes Römischen Elegien zu tun haben. Goethe, so Zapperi, wählte bei seinem römischen Aufenthalt zwischen 1786 bis 1788 das Pseudonym Philipp Möller, um inkognito zu bleiben, und daraus wurde bei der Meldung in Rom die partiell italianisierte Variante Filippo Miller. Diesen Namen, so Zapperi, habe nun heute wiederum ein Zeitgenosse angenommen, allerdings in seiner deutschen Variante, da er „sich […] an ein deutsches, nicht an ein italienisches Publikum wendet.“66
Der unbekannte Dichter, der das Pseudonym Philip Miller verwendet, sei, so Zapperi „ein seltsamer Mensch, der in dem Jahr, als er in Rom lebte, Goethes Stadt noch einmal ohne deutsche Pedanterie durchstreift hat.“67 Das mag als Anspielung auf die assoziativ-kreative Art der Stadterkundung zu verstehen sein, von der die Elegien geprägt sind. Anders als Goethes Römische Elegien, in denen eine Verbindung der klassisch-antiken Kunsttradition mit einem sinnlich-gegenwärtigen Rom-Erlebnis ästhetisch inszeniert wird,68 geht es in den zwölf Elegien Philip Millers um die Stadt Rom, um den urbanen Raum, der flanierend und mit differenziertem Blick auf viele Details, kleine Beobachtungen, Wahrnehmung und Wahrnehmungssplitter durchschritten wird.
Der fiktive Autor Philip Miller steht also in einer gezielt markierten Beziehung zu Goethe, doch zugleich ist diese Beziehung in erster Linie ein zusätzlicher Grad der Entfernung von empirischem Autor und Werk. Denn Philip Millers wahre Identität ist noch unklarer als die Anton Brants und Theodor Vischhaupts – er ist der Verborgenste der drei verborgenen Dichter, derjenige, „der Abgeschiedenheit, das Versteck, den Untergrund geradezu gesucht hat,“69 wie er in der Einführung des Herausgebers gleich zu Beginn charakterisiert wird. Entsprechend wird in der Entdeckungsgeschichte der Elegien, die in der Einführung erzählt wird, das Pseudonym Philip Miller durch die Berichte der beiden Zeugen – Pippo Mampieri und Agnese Rossi, zwei Italienern mit deutschen Sprachkenntnissen – bestätigt, die einen „Mann von eher unrömischer, nordeuropäischer Erscheinung“70 beobachten, der sich auch bei gezielter Verfolgung den Beobachtern entzieht und Ihnen zuletzt wie ein Phantasma entgleitet.
Wozu all das? Wollte Jan Wagner zeigen, dass er das Spiel mit erfundenen Autoren in ebenso eleganter Weise beherrscht, wie seine literarischen Vorgänger? Ernst Osterkamp hat darauf hingewiesen, dass bei Jan Wagner – im Gegensatz zu Thomas Manns Adrian Leverkühn oder Vladimir Nabokovs Sebastian Knight, bei denen die künstlerischen Werke aus dem Leben entwickelt werden – „das Leben der drei ,Verborgenen‘ ganz hinter ihre Gedichte zurück [tritt]“.71 In den „knappen biografischen Skizzen von jeweils vier Seiten Umfang“, in denen Jan Wagner auf das Leben seiner erfundenen Autoren eingeht, fänden sich „keine nennenswerten Konflikte von Kunst und Leben“.72 Insofern unterlaufen die drei Einführungen „ironisch die Muster der romantischen Künstlererzählungen“73 und damit einen nach wie vor auch literaturwissenschaftlich wirkmächtigen Topos der Erklärung von Kunst und Literatur. Problematisiert und demontiert wird die Vorstellung, dass künstlerische Kreativität an eine organische Verschränkung von Leben und Werk, biographisch fundierten ,Einflüssen‘ und deren Umsetzung gebunden sei (dazu später).
In Die Eulenhasser in den Hallenhäusern wird die Irrelevanz der drei Autoren-Biographien für ihr Werk freilich nicht einfach behauptet, sondern im konstellativen Zusammenspiel von paratextueller Rahmung (die aus den fingierten Einführungen und Literaturhinweisen besteht) und den Gedichten der fiktiven Autoren in Szene gesetzt. Die Gedichte stehen für sich, sind autonom – die Kenntnis der Biographien ihrer Autoren erleichtert oder erschwert ihr Verständnis nicht. Bei Anton Brant und Theodor Vischhaupt wird dies über die Darstellung der denkbar unspektakulären biographischen Hintergründe konstatiert. In der Figur von Philip Miller, der auch in der Fiktion nur über einen literarisch hochgradig konnotierten, aber eben biographisch irrelevanten Decknamen verfügt, erfährt diese Asymmetrie zwischen Biographie und Werk eine zusätzliche Steigerung. Denn im Gegensatz zu Anton Brant und Theodor Vischhaupt bleiben selbst die Konturen von Philip Millers Biographie verwischt und erlauben genaugenommen gar keine Aussagen, sondern bestenfalls Hypothesen, die sich wiederum auf den literarisch-fiktionalen Text stützen. Die mangelnde Grundlage dieser Hypothesen wird vorgeführt in der „Einführung“:
Kein Tourist, ein Fremder aber bestimmt. Den Elegien selbst ist nicht viel zu entnehmen, aber man darf vermuten, daß es Miller erst kurz zuvor, wahrscheinlich Anfang des Jahres, nach Rom getrieben hatte – und daß er vielleicht nicht ganz freiwillig dorthin gezogen war. Er erscheint als ein Mann, der nicht ungebildet ist, eher im Gegenteil, und dem man zumindest grundlegende Kenntnisse der italienischen Sprache unterstellen darf; als einer, der keiner regelmäßigen Arbeit nachgeht, da eine solche ihm weder Zeit zum Schlendern gelassen noch ihm erlaubt hätte, seine Gedichte zu so unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten am Pasquino anzubringen, wie es seinen beiden Lesern zufolge der Fall gewesen sein muß.74
Man kann mit Blick auf Philipp Miller regelrecht vom Verschwinden des Autors sprechen – symptomatisch inszeniert im letzten Absatz der „Einführung in Leben und Werk“, in der geschildert wird, wie Agnese Rossi in einem „wohlgekleideten Mann von der Piazza di Pasquino“ Philipp Miller zu erkennen glaubt, dann aber nach einer Verfolgungsjagd den vermeintlichen Autor nur als einen italienischen Familienvater identifiziert, der „mit einem deutlichen Mailänder Akzent“75 Frau und Kinder begrüßt. „[…] mit rotem Kopf und seltsam peinlich berührt [lautt]“ die Autorenjägerin „an diesem Bild einer typisch italienischen Familie vorüber“76 – eine Szene, die das Scheitern der autor- und biographiefixierten Leserin satirisch vorführt. Agnese Rossi und Pippo Mampieri begehen denselben Fehler, wie die fingierten Literaturwissenschaftler in der kleinen Forschungsbibliographie, die den Versuch unternehmen, Millers Identität über seinen Decknamen oder über die Rom-Erfahrungen zu entschlüsseln: Felicitas Huber – mit dem Aufsatz „,Von Deck- und Künstlernamen: Auf der Spur eines europäischen Phantoms‘“ – und Robert Jennewein – „,Millers Rom – eine Spurensuche in der ewigen Stadt‘“77 – stehen für Forscher, die das Rezeptionsangebot des fiktiven Autors, die Gedichte als Texte und nur als solche wahrzunehmen, nicht akzeptieren.
Signalisiert wird dieses Angebot durch die Art und Weise, wie Philip Millers Elegien das Licht der Öffentlichkeit erblicken, eindeutig genug. Denn die Texte werden, in einer Klarsichtfolie geschützt, am Sockel des Torsos der Pasquino-Skulptur nahe der Piazza Navona befestigt, einer Statue, die die Römer traditionell mit Spottversen bekleben und die insofern eine durch jahrhundertelange Tradition eingeführte ,Publikationsplattform‘ darstellt. Indem die Elegien in diesen Veröffentlichungsrahmen gestellt werden, der ganz explizit mit dem Vorzeichen der Satire versehen und eigentlich für satirische Texte reserviert ist, wird der Text zumindest in der Binnenfiktion anonymisiert und der Stellenwert des Autors relativiert. Das ist auch mit Blick auf die an Goethe angelehnten Elegien nicht unwichtig: Indem Philip Millers Elegien mit satirischem Schreiben assoziiert – allerdings nicht identifiziert – werden, ergibt sich ein weiterer Effekt: Die für sich genommen historisierende Aufnahme der Form der Elegie wird ein Stück weit ironisiert, der Verdacht einer imitatorischen oder epigonalen Intertextualität wird relativiert. Die Elegien Philipp Millers sind satirisch zu verstehen, aber die Verse werden durch den Pasquino-Torso doch, gerade aufgrund ihres direkt ausgestellten Goethe-Bezugs, in eine Perspektive ironischer Brechungen gerückt.
Ganz eindeutig satirisch ist allerdings, wie schon angedeutet, die paratextuelle Rahmung der Elegien. So ist die „Einführung zu Leben Werk Philip Millers“ eine satirische Zuspitzung der Suche nach dem Autor, den es nicht gibt, und auch Zapperis „Anmerkungen“ erklären letztlich nur die Herkunft des Namens Philip Miller und beschäftigen sich dann mit den vermutlich irrelevanten Hinweisen zu Renaissance-Autoren, deren einziger Bezug zu Philip Miller darin besteht, dass sie in der Nähe der Pasquino-Statue ihre Texte an einer anderen Statue sammelten. Auch das Verzeichnis der Forschungsliteratur zu Philip Miller ist, wie oben schon angemerkt, hochgradig satirisch, insofern als die Literaturwissenschaftler die Denkschemata des Werk-Biographie-Zusammenhangs perpetuieren, Und auch die Anmerkungen zu den Elegien sind satirische Kommentare zum habitualisierten Gemeinplatz, der die Identifikation des empirischen Autors mit dem Werk nicht aufgeben will – trotz mannigfacher Hinweise darauf, dass es sich bei dem ,Ich‘ der Elegien ebenso um eine konventionalisierte textuelle Redeform handelt wie bei der gleich in der ersten Elegie mehrmals angesprochenen Livia – ein Hinweis, der sogar in den Anmerkungen gegeben wird.78
Insofern ist der Pasquino im Binnenraum der Fiktion, die um den Dichter Philip Miller aufgebaut wird, ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Gesamtkomplex Philip Miller in einem satirischen Rahmen angesiedelt ist. Gegenstand der Satire sind aber nicht die Rom-Texte, sondern es ist der Umgang mit diesen Texten im institutionalisierten Literaturbetrieb. Für die Elegien an sich ist der Pasquino weniger als Indiz der Selbstverspottung zu sehen denn als Lizenz, die die Aufnahme der Tradition deutschsprachiger Rom-Dichtung zu Beginn des 21. Jahrhunderts von ihrem historischen Ballast befreien soll und kann. Die indirekte Relativierung des eigenen Schreibens scheint die Voraussetzung für das Schreiben in den Spuren des Vorgängers zu sein. Diese durch das textinterne Rollen-Ich Philip Miller vollzogene Relativierung gilt am Ende natürlich zuerst und vor allem für den realen Autor Jan Wagner.
Philip Miller hat also im Text seiner Elegien eine durchaus wichtige Funktion als fingierte Sprecherinstanz, denn es geht darum, eine durch Goethes Römischen Elegien hochgradig kanonisierte Tradition aufzunehmen und, sei es auch ironisch gebrochen, produktiv fortzuführen. Als Text-Instanz steht Philip Miller für einen Dichter, der will, dass seine Gedichte, und zwar ausschließlich die Gedichttexte, eine Öffentlichkeit erreichen – indem er sie, noch dazu mit Regenschutz versehen, an einem Ort hinterlegt, der im städtischen Raum Roms traditionell für die Hinterlegung von Texten reserviert ist. Philip Miller gibt seine Elegien dem Stadtraum, aus dem sie hervorgegangen sind und den sie repräsentieren, im wörtlichen Sinn preis oder gar zurück – auch deshalb bedarf es keines biographisch-real identifizierbaren Autors, um sie zu erklären. Es sind Stadtgedichte, und der Autor ist nur ein Teil des medialen Rahmens, der diese Großstadtlyrik trägt oder vermittelt. Er ist nicht mehr und nicht weniger als das Medium, durch das die Großstadt wahrgenommen und versprachlicht wird.
II. Philip Millers „Erste Elegie“: Die moderne Großstadt in klassischer Ordnung
Das Rollen-Ich Philip Miller erlaubt eine Kombination von flaneurhaft schlendernder Rom-Erfahrung und mehrfach reflektierter antiker Form. Goethes Aneignung der Elegie für die sinnlich-gegenwärtige Erfahrung des antiken Rom wird nicht nur aufgenommen, sondern gefüllt mit Momentaufnahmen der ungeordneten Großstadtwelt aus dem Rom der Gegenwart, mit Beobachtungen, momentanistisch-zufälligen Wahrnehmungen, Reflexionen oder auch kleinen Szenen, die allesamt zur städtischen Topographie gehören oder von dieser generiert werden.
Die „Erste Elegie“79 umfasst 28 Verse, also 14 Verspaare, jeweils bestehend aus sechshebigem Hexameter und fünfhebigem Pentameter. In dieser – für die deutsche Metrik im 18. Jahrhundert adaptierten – antiken Form des elegischen Distichons folgen Jan Wagner bzw. Philip Miller Goethes Modell. Lyrik, die sich, ob nun explizit oder implizit, auf eine Tradition bezieht, eröffnet „semantische Effekte,“80 die mit den metrischen Strukturen verbunden sind und auch als „Semantisierungsverfahren“81 eingesetzt werden können. Das gilt umso mehr für einen Prätext, der eine Tradition so maßgeblich geprägt hat wie Goethes Römische Elegien.
Philip Millers „Erste Elegie“ liefert den als klassisch und geordnet semantisierten Rahmen für diese Momentaufnahmen einer modernen Großstadt der Gegenwart. Der Zeithorizont der Elegie umspannt einen Tag vom Morgen bis zur Dämmerung – den „ersten Tag“ (V. 6), – und sie ist in drei Versgruppen gegliedert: Diese thematisieren den frühen Morgen in der Wohnung (V. 1–6), den langen Spaziergang durch Rom (V. 6–24) und den Abend nach der Heimkehr in die Wohnung (V. 24–28).
Der Sprecher beobachtet „in aller Frühe“ (V. 1), wie Gärtner die Kakteen vor seinem Wohnhaus stutzen (V. 1–3), und sinniert über die damit verbundenen Impressionen (V. 4–6) – das Bild der abgeschnittenen Kakteen, den „heißere[n] Klang der Sägen“ (V. 5). Nach dieser Eröffnung im Haus werden im Text weitere Beobachtungen thematisiert, die das Ich während eines den ganzen „ersten Tag“ (V. 6) umfassenden Spaziergangs durch Rom macht. Die Elegie schließt mit den Beobachtungen des in die Wohnung Heimgekehrten: nach dem Blick auf die unter dem Tisch liegende „Orange von gestern, die feine Naht aus / Ameisen, die sie heilt“ (V. 25f.), fesseln die frischen Schnitte der Kakteen im Dämmerlicht erneut die Aufmerksamkeit des Betrachters:
Jetzt in der Dämmerung leuchtet jedes
Frisch gekürzte Glied hell und weiß wie ein Stern.
(V. 27f.)
Es ist unschwer zu erkennen, dass die „Erste Elegie“ einer Dreiteilung folgt, die man vielleicht als triptychonal bezeichnen kann, die aber jedenfalls bewusst symmetrisch gehalten ist. Gerahmt von den Szenen in der Wohnung, die in erster Linie die Beobachtungen der Kakteen umfassen, finden sich die Einzel-Wahrnehmungen, die beim schlendernden Spaziergang durch die Stadt gemacht werden. Sie werden durch die kompositorischen Konventionen der Elegie, die so etwas wie klassische Harmonie textuell postuliert, imitiert oder gar simuliert und trotz ihrer offenkundigen Zusammenhanglosigkeit in eine gewisse Ordnung gebracht. Die Beobachtungen reichen von den ersten Bildern auf der Straße – „die Frau des Schlachters in rosa Häschenpantoffeln / Rauchend vor ihrem Geschäft“ (V. 7f.) bis zum summarischen Abschluss des Spaziergangs:
Majestätisch und stumm
gehen Zyklopen neben mir, Livia, hohe Laternen,
bringen mich bis zum Haus
(V. 22–24).
Das Bild der Laternen als Zyklopen, die den Spaziergänger nachhause begleiten, ist eine Art Resümee des Tages, vielleicht auch ein Hinweis auf die in all den Nebensächlichkeiten und Alltagsbeobachtungen weiter präsente Geschichts- und Traditionsmächtigkeit Roms – und nebenbei ein Echo auf die „Steine“, „hohen Paläste“, „Ruinen und Säulen“82 aus Goethes „Erster Elegie“.
Betrachtet man die Folge der Einzelwahrnehmungen im Mittelteil des Textes (V. 6–24) etwas genauer, dann fällt auf, dass die Blickführung in der ersten Versgruppe (V. 6–14) einem der Parallemontage ähnlichen Prinzip folgt, das von in Nahsicht fokussierten Personen und ihren Tätigkeiten zu weitperspektivischen Totalansichten der Stadtlandschaft wechselt: der „Frau des Schlachters“ werden im Gegenschuss „Wohnanlagen wie Flagschiffe, prachtvoll von lauter Laken“ (V. 9) an die Seite gestellt; das Bild des Wirts im Café, der „dampfende weiße Marmorbrocken“ (V. 11) des Geschirrs aus der Maschine nimmt, wird abgelöst von Wahrnehmungen der Rot- und Gelbtöne römischer Hausfassaden als impressionistisch inszenierten Farbflächen – „[a]ll den verwaschenen Putz, Ocker, Zimt oder Rot, / Palmen vor den Fassaden, ausgefranster als Pinsel“ (V. 12f.). Abgeschlossen wird diese Montagesequenz, in der die kontingenten Beobachtungen des Spaziergangs in eine Ordnung textuell simulierter Unordnung überführt werden, mit dem „Maronenmann an seinem Märtyrerrost“ (V. 14).
In der zweiten Versgruppe des Mittelteils (V. 15–22) geht es um die beiden Jungen, die vor der Kirche San Paolo fuori le Mura Fußball spielen bzw. den Ball, während aus der Kirche Gesang und Gebet tönen, gegen die Mauer treten. Das Fußballspiel hat im Text kein Ende, denn das Bild wird gleichsam eingefroren in der unendlichen Wiederholung des Balltretens. Im Verhältnis zur vorangehenden Montagesequenz wird hier nun also eine einzige Szene auserzählt. Am Ende des Mittelteils kehrt das Ich, wie oben schon erläutert, nach Hause zurück.
Kann man einen solchen Text, über seinen bereits erläuterten Charakter als ironisch perspektivierte Rollenprosa hinaus, nun weiter erklären? Oben wurde bereits angedeutet, dass die zufälligen Beobachtungen des Spaziergangs in der Elegie in einer textuellen Simulation der Unordnung gestaltet und also paradoxerweise doch geordnet werden. Gerade in der ersten Versgruppe (V. 6–14) des Mittelteils mit seiner filmisch inspirierten Blick- und Bewegungsregie ist dieses Verfahren gut erkennbar. Es hat den eigentümlichen Effekt, dass die Heterogenität der nur im Spaziergang zu erfassenden Großstadt Rom dem lyrischen Genre der Elegie – das Ordnung formsemantisch und historisch als Anspruch impliziert – gewissermaßen an- und eingepasst wird. Das Spazierengehen als Bewegungs- und Beobachtungsform wird mit Bezug auf Werner Bergengruens Römisches Erinnerungsbuch83 aufgerufen, freilich in einer – ihrerseits ironisch gebrochenen – Anmerkung. Nach Bergengruen ist Spazierengehen – „und dies Wort kommt vom lateinischen ,spatium‘“84 – die einzig angemessene Fortbewegungsart in Rom, und das wird im dargelegten Sinn auf die Elegie übertragen: Der Herausgeber zitiert ja Bergengruens Übersetzung des Spazierengehens als „,sich des Raumes mächtig machen‘.“85 Auf die Elegie als metrisch-rhythmische Form übertragen bedeutet das: Sowohl die Einzelverse der Hexameter und Pentameter als auch die elegischen Distichen, wie auch überhaupt die triptychonal komponierten Versgruppen sind durch Symmetrieverhältnisse gegliedert und zäsuriert. In diese Symmetrien wird der von Heterogenität, Vielfalt und Zusammenhanglosigkeit geprägte Stadtraum sprachlich, rhythmisch, klanglich und kompositorisch in Text übertragen. Man könnte vermuten, dass in Philip Millers Elegien eine Versöhnung von klassischem Formanspruch und großstädtischer Moderne vorgeführt wird; von modernem Flaneur à la Benjamin und dem Programm, die Disparatheit moderner Großstadträume mit harmonisierenden Ordnungsstrukturen zumindest partiell, in zufälligen topographischen Querschnitten – den ,Spaziergängen‘ im wörtlichen Sinn als Gängen durch den Raum – wieder einzufangen. Natürlich kann ein solches Versöhnungsprogramm nur ironisch gebrochen sein – käme es als wörtlich zu nehmende Poetik des Autors Jan Wagner im Jahr 2012 daher, würde diese als epigonal und ein wenig naiv empfunden. Im doppelt markierten uneigentlichen Sprechen des als Pseudonym eines fiktiven Dichters markierten Rollen-Ichs hingegen ist Philip Millers Versuch einer Versöhnung von Großstadtmoderne und Klassik in Form der Elegie zumindest vorstellbar. Eben diese Vorstellung hat Jan Wagner mit Philip Millers Elegien gestaltet.
III. Fiktive Dichter und Kreativität
Soweit also zur Funktion der erfundenen ,Verborgenen‘, der fiktiven Dichter. Produktionsästhetisch gesehen sind sie für den Autor Jan Wagner Ermöglichungsinstanzen bei der Herstellung von Texten mit einem poetologisch mehr oder weniger fixierten Fokus. Die Maske eines dichterischen Rollen-Ichs macht die Herstellung einer auf bestimmte Traditionen und Textstrategien bezogenen Lyrik einfacher oder schlüssiger. Über den Binnenraum der Texte hinaus ist es für Wagner sicherlich auch eine Herausforderung, die Tradition der erfundenen Dichter fortzuführen, die andere Autoren, vielleicht am spektakulärsten Fernando Pessoa mit den verschiedenen Figuren seiner imaginären Dichter, vor ihm entwickelt hatten.
Jenseits der Dimension der einzelnen Texte eröffnen die erfundenen Autoren andere Reflexionsräume. Am wichtigsten ist die von Jan Wagner essayistisch und vor allem in der Herausgeberfiktion der Einführungen und Kommentare virtuos durchgespielte ironische Dekonstruktion des bei Lesern und Literaturwissenschaftlern gleichermaßen beliebten literarischen Gemeinplatzes von der engen Abhängigkeit zwischen Leben und Werk eines Autors. Demontiert wird, wie Ernst Osterkamp dargelegt hat, „der Mythos von in einem spannungsdurchbebten und rätselschweren Verhältnis zur Wirklichkeit stehendem Künstler,“86 wie er im Künstlerroman seit der Romantik vorgeführt wurde. Diesem Mythos entzieht Jan Wagner den Boden:
Der Mythos vom Künstler, dies ,europäische Phantom‘, löst sich auf; was aber bleibt, sind die Gedichte, die Kunstwerke selbst […].87
Was Jan Wagner damit in einem weiteren Horizont problematisiert, kann man vielleicht besser verstehen, wenn man die Überlegungen des Soziologen Andreas Reckwitz zur Kreativität heranzieht.88
Kreativität ist die einzige Eigenschaft, die Jan Wagners erfundene Autoren als Künstler definiert. Künstlerische Kreativität ist hier nun aber eben nicht, wie seit der Romantik üblich, eine Eigenschaft, die diese Künstler als biographische Personen auszeichnet und ihre Individualität bestimmt, sondern sie geht ganz ausschließlich in den Texten auf. Damit gewinnt Kreativität einen anderen, möglicherweise neuen Status.
Soziologisch gesehen wird künstlerische Kreativität, wie Andreas Reckwitz argumentiert, seit der Romantik, spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, zu einem Dispositiv für die Modellierung von Individualität in der modernen Gesellschaft. Zunächst nur im Feld der Kunst angesiedelt, wird diese Kreativitätsvorstellung übertragen in andere Bereiche gesellschaftlichen Lebens. In den westlichen Gesellschaften, so Reckwitz, habe sich Kreativität besonders seit den 1970er Jahren als ein „kreatives Ethos“89 herausgebildet und sei zu einer wichtigen, kollektiv verbindlichen Eigenschaft der sich verändernden Arbeits- und Berufswelt geworden. Sie bedeute in „spätmodernen Zeiten“ nicht mehr nur „die Fähigkeit […], dynamisch Neues hervorzubringen“, sondern auch die „sinnliche und affektive Erregung durch das produzierte Neue.“90 Deshalb referiere Kreativität als „Zentrum eines sozialen Kriterienkatalogs, der seit gut dreißig Jahren in den westlichen Gesellschaften zu einer prägenden Kraft geworden ist,“91 dezidiert „auf ein Modell des ,Schöpferischen‘, das sie an die moderne Figur des Künstlers, an das Künstlerische und Ästhetische insgesamt zurückbindet.“92 Dieses „Kreativitätsdispositiv[] als spezifische Form einer Ästhetisierung des Sozialen“93 ist mithin an moderne Künstlerkonzepte zurückgebunden, die sowohl sein Verständnis erleichtern als auch seine Genese besser verständlich machen.
Eben diese sozial verbindlich gewordene Funktion von Kreativität scheint Jan Wagner mit seinen erfundenen Autoren zurückzunehmen. Kreativität ist bei den drei ,Verborgenen‘ eben nicht mehr eine sozial relevante Qualität der individuellen Biographien – die durchschnittlich und unauffällig sind –, sondern ausschließlich auf die Gedichte bezogen. Damit schafft Wagner eine Konstellation, in der Kreativität und ihre spezifisch literarische Variante der Autorschaft aus verschiedensten Perspektiven reflektiert werden. Jan Wagner spielt mit den fiktiven Dichtern Varianten der Rücknahme des in der modernen Gesellschaft so zentralen Kreativitätsdispositivs durch.
Vielleicht kann man bei Philip Miller sogar von der Verweigerung des Kreativitätsanspruchs sprechen. Diese Verweigerung wird in den Paratexten satirisch zugespitzt. Philip Miller ist zwar ein Autor, der „der Verwendung, der Unterwanderung alter Formen wie der Elegie nicht abgeneigt“94 ist, wie Jan Wagner in seinen Ausführungen über imaginäre Dichter erwähnt. Aber mit der Fixierung auf das Inkognito wird nicht nur der von seinen Interpreten so zwanghaft herbeigewünschte Bezug zwischen Leben und Werk verweigert, sondern auch die Vorstellung, dass Kreativität überhaupt eine Qualität sei, die für die Profilierung einer sozialen Person relevant sein könnte. Das Schlussbild der typisch italienischen Familie, in der der letzte Anwärter für die Identität Philip Millers untergeht, ist eine Ikone der Normalität und Durchschnittlichkeit – ein Emblem der Negation künstlerischer Kreativität, die sich bei Philip Miller ganz ausschließlich in seinen Texten findet.
Fabian Lampart, aus: Christoph Jürgensen, Sonja Klimek (Hrsg.): Gedichte von Jan Wagner. Interpretationen, mentis Verlag, 2017








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