Scheisslyrik (2)*
Im Unterschied zu erotischer Dichtung hat Fäkal- und Latrinenpoesie die Weltliteratur nicht merklich bereichert. Hinter der Variabilität und Attraktivität sexueller Praktiken bleibt der einsame, unabwendbare, stets gleichbleibende und stets übelriechende Akt der Notdurft naturgemäss weit zurück. Wenn dennoch da und dort bei kanonisierten Autoren wie Hans Sachs, Jonathan Swift, Johann Wolfgang von Goethe oder Bertolt Brecht die Defäkation in Versen besprochen wird, geschieht es durchwegs mit ironischem oder sarkastischem oder polemischem Unterton. Das Kacken, die Kacke ist mit «schöner Literatur» schwerlich vereinbar und bleibt in einschlägigen Texten auf die Groteske verwiesen, auf derbe, volkssprachlich imprägnierte, gewollt provokante Rhetorik. Dafür lassen sich zwischen Antike und Gegenwart mancherlei Belege beibringen.
Dass demgegenüber die Notdurft auch aus echter, aus existentieller Not thematisiert wird, ist die seltenste Ausnahme. Der französische Schriftsteller, Theatermann und Publizist Antonin Artaud, der heute als ein Klassiker der europäischen Moderne gilt, bietet dafür ein – sein – singuläres Beispiel. Artaud ist 1948 nach langjähriger Krankheit und Drogenabhängigkeit im Alter von erst 52 Jahren gestorben. Seit seiner Kindheit war er, physisch wie psychisch behindert, von schwersten Schmerzen gequält, einen Grossteil seines Lebens verbrachte er unter ärztlicher Beobachtung und klinischer Therapie. Zuletzt litt er, unheilbar, an Darmkrebs, und aus dieser ultimativen Leidenserfahrung entstand kurz vor seinem Tod die radiophonische Dichtung «Um mit dem Gottesgericht Schluss zu machen» (Pour en finir avec le jugement de Dieu, 1947), ein langer Text, der als Abgesang auf die von Fortschritts- und Gewinndenken dominierte Welt des Kapitalismus angelegt ist und der zugleich Artauds eigene existentielle Misere in wüsten Wortorgien beklagt.
Die Rede ist hier in apokalyptischer Diktion von der Abrichtung der Menschen durch Arbeits-, Militär-, Medizin-, Ernährungs- und Erziehungstechnik wie auch durch wissenschaftliche und religiöse Autoritäten. Den Untergang der Welt parallelisiert Artaud mit seinem eigenen unaufhaltsamen Dahinsterben – er als Mensch wie die Menschheit insgesamt fällt nach seinem Dafürhalten einem selbstverschuldeten, alles umfassenden Suizid zum Opfer.
Artaud selbst hat sein vielstrophiges Poem Ende 1947 mit letzter Kraft im Pariser Studio der Radio-Diffusion Française inszeniert und dabei auch als Sprecher mitgewirkt, doch wegen der zahlreichen angeblich obszönen und gotteslästerlichen Passagen hat der Sender die Ausstrahlung des Werks im Frühjahr 1948 unterbunden. Gleichzeitig erschien der Text in vollständiger Fassung als undatierter Privatdruck, 1974 wurde er in die Gesamtausgabe («Oeuvres complètes», XIII) von Antonin Artaud aufgenommen.
Eine der ekstatischen Strophen daraus ist zur Gänze der Notdurft («caca», «fécalité») gewidmet. Der Verfasser bringt hier die menschliche Scheisse («merde») mit dem menschlichen Wesen («être») assonantisch zur Übereinstimmung und stellt darüber hinaus die rhetorische Frage: «Ist Gott ein Wesen? Wenn er eins ist, so ist das Scheisse.»
Aber Scheisse ist bei Artaud ohnehin alles, was ist. Als Beleg dafür stehen (in deutscher Neuübersetzung) die folgenden ausgewählten Passagen:
Da wo’s nach Scheisse riecht
riecht’s nach Sein.
Der Mensch hätte sehr wohl auch nicht scheissen können
auch nicht seinen analen Sack auftun können
doch er entschied sich für’s Scheissen
wie er sich zum Leben hätte entscheiden können
statt sich als Toter abzufinden mit dem Leben.
Um also nicht Kaka zu machen
hätte er sich damit abfinden müssen
nicht zu sein doch konnte er sich nicht entschliessen
das Sein sein zu lassen
das heisst lebendig zu sterben.
•
Das Sein hat etwas
für den Menschen besonders Appetitliches
und dieses Etwas ist eben
DIE KACKE.
(Hier Gebrüll.)
•
… einst gab’s nur Eisen und Feuer
und keinerlei Scheisse
und der Mensch fürchtete den Verlust der Scheisse
oder eher wünschte er sich die Scheisse
und opferte dafür das Blut.
Um Scheisse das heisst
Fleisch zu kriegen
dort wo es bloss Blut gab
und Knochenschrott
und wo es kein Sein zu gewinnen gab
aber wo einzig das Leben zu verlieren war.
o reche modo
to edire
di za
tau dari
do padera coco
•
doch es gibt eine Sache
die eine Sache ist
eine einzige Sache
die so etwas wie eine Sache ist
und von der ich spüre
dass sie
RAUS WILL:
das Vorhandensein
meines Körper-
schmerzes
das bedrängende
niemals nachlassende
Vorhandensein
meines
Leibs
•
Nach dem Verbot seines Radiopoems «Um mit dem Gottesgericht Schluss zu machen» verschlechterte sich Artauds Gesundheitszustand rapide – er war bettlägerig und auf ständige medizinische Assistenz sowie auf Betäubung durch Opium angewiesen, wünschte sich aber dennoch (in einem späten Brief an Paule Thévenin) einen Kuraufenthalt am Meer und scheint tatsächlich auf Heilung gehofft zu haben und – auf das Verständnis der «Gesunden» für seine qualvolle Krankheit zum Tod: «Ihr, die ihr stets die Gesundheit hattet, ihr könnt nicht wissen, was das ist – ein Körper, der ein ‘Element’ braucht, ihr könnt euch absolut nicht vorstellen, nicht einbilden, was das ist, ein Körper, dem es daran ‘mangelt’, und auch nicht, was er zum Leben benötigt und aber was er braucht, um den Schmerz des Überlebens zu vermeiden …» – Mehr an Verzweiflung ist in Worten wohl nicht auszudrücken, und man versteht zuletzt durchaus, dass und weshalb Antonin Artaud die «Scheisse» als Begriff oder auch als Metapher für sein beschädigtes Dasein und für das Sein überhaupt – kurz: für Gott und die Welt – so inständig in Anschlag gebracht hat.
*) Teil (1) siehe Planetlyrik vom Oct 4th, 2022 Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Scheisslyrik
© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten







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