In seinem Pariser Tagebuch notiert Jiří Kolář unter dem 28. Mai 1998 den Satz: «Unser ganzes Jahrhundert hat sich die Verdammnis verdient.» So lässt sich ganz unaufwendig eine Geschichtsepoche abfertigen und abhaken. Aber all das Verdammenswerte jenes – noch immer «unsres»? – Jahrhunderts auch nur aufzuzählen, ginge über jede Kraft und wäre, nur schon als Faktensammlung, ein unerträglicher Horror. Reicht aber dafür die Lapidarität eines verzweifelt wegwerfenden Satzes? Um das in irgendeiner Weise zu bewältigen, bräuchte es wieder einen Baudelaire und noch einen Dostojewskij. Oder Homer: «Nichts Armseligeres nährt die Erde als den Menschen unter allem, was auf der Erde Atem hat und kriecht.» Bemerkenswert aber doch, dass «der Mensch» bei all seiner Armseligkeit sowohl Werke geschaffen wie auch Katastrophen verursacht hat, die weit über sein Kleinformat hinaus ans Erhabene grenzen.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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