Peter Handkes Aufzeichnungen aus den Jahren 1987 bis 1990 liegen in einem unschönen Klotzband von insgesamt 552 Druckseiten Umfang unterm Titel Gestern unterwegs vor. Das Buch passt, als Objekt, schlecht zu der verbreiteten Vorstellung, dass da ein Dichter am Fuss einer Eiche oder einer Klippe, in einer Kneipe oder im Bett ein Notizheft nach dem andern vollschreibt, das er in seiner Gesässtasche ständig mit sich herumträgt. Der kleinformatige dickleibige Band, auf dessen Umschlag zwei Mönche in ungelenker Darstellung abgebildet sind, hat etwas von einer Kinderbibel, und der Autor, der sich bald in Ich-, bald in Du- oder Er-Form zu erkennen gibt, berichtet hier – wie bei frühern Gelegenheiten auch schon – in Grossdruck und mit reichlich Durchschuss von mancherlei Lebens- und Leseerfahrungen, die er als private Wahrnehmungen dem entgegenhält, was allgemein für «wahr» genommen wird.
Als Summe solcher Wahrnehmungen ergibt sich für Handke die sogenannte Wirklichkeit; diese wiederum bleibt demzufolge auf jene «Eindrücke» beschränkt, die er von ihr mitbekommt, und was er von ihr mitbekommt, ist eben das, was er, verzückter Wandervogel und scharfsichtiger Voyeur, von ihr wahrnehmen will. So schliessen sich, wieder und wieder, die weiten, ineinander verschlauften Kreise von Wahrzunehmendem und Wahrgenommenen, von Wahrheit und Wirklichkeit. Ausgeblendet bleibt, soweit die vorliegenden Aufzeichnungen reichen, die Welt der Politik, der Wirtschaft, ausgeschaltet der Fernseher, der eine mediale Bilderwelt in die Stube bringt, die in ihrer Fiktionalität nicht minder real ist als der schmale Realitätsausschnitt des bedächtig ausschreitenden Bummlers. Indem Handke die ihm offenkundig verhasste «grosse Welt» – es ist und bleibt die Welt der andern – aus der «kleinen Welt» ausschliesst, die sich ihm auf Tritt und Schritt eröffnet, schafft er jene Welt aus der Welt, die für die meisten Zeitgenossen die einzig erreichbare Wirklichkeit ist, und sei diese Wirklichkeit noch so düster, noch so verlogen und trivial.
Handke liest – gut so! – die Bibel und den Theophrast, Jan Skácel und Nicolas Born, verweigert sich aber, zumindest in seinen Aufzeichnungen, all den Organen, die bloss Information und Unterhaltung anzubieten haben. Unablässig ist indes aus gleichermassen naturnaher und weltfremder Sicht die Rede von seliger Ruhe und wundersamer Langsamkeit, von Anschauung und Verinnerlichung, vom einfachen Leben, vom grossen Lieben. Wie ein Herbarium blättert Handke den Wahrnehmungsraum der Natur bedächtig und nachdenklich durch, jede Beobachtung, jede sinnliche Erfahrung wird sogleich wie eine Offenbarung aufgezeichnet, schöngeistige Frömmigkeit und punktuelles Daseinsglück wechseln sich ab mit Weltekel und Menschenverachtung.
All dies geht entweder in Form von präzisen (und kraft ihrer Präzion poetischen) Notaten in Handkes Hefte ein und irgendwann, oft viel später erst, in seine Bücher auch, es sind Aufzeichnungen, die an beliebiger Stelle anknüpfen und jedes Mal punktlos, meist auch pointenlos enden; oder es entlädt sich, ganz anders, in spontanen, schwärmerischen, polemischen, missionarischen Exkursen, die sprachlich zumeist fahrig, gedanklich unscharf bleiben. Bei aller Subjektivität der hier vorgeführten ästhetischen Erkenntnis, kommt es doch nur ausnahmsweise zu «originellen», also erstmaligen und unwiederholbaren Einsichten, manches, zu vieles bleibt in pseudoromantischen Klischees befangen, zu zahlreich sind die literarischen und weltanschaulichen Gemeinplätze, zu deutlich durchschaubar ist die Selbstidentifikation des Autors mit dem unbehausten, eigensinnigen, liebreichen und zornigen Gottessohn, zu trivial sein Frauenbild, das er vorzugsweise mit dem «Schönen», «Wahren», «Guten» zusammendenkt und so ins Erhabene stemmt – wobei der peinliche Eindruck entsteht, als müsste der Dichter jener Bäuerin oder dieser Kellnerin nur leis ins Ohr flüstern, wie schön sie sei, und schon habe alles zwischen den beiden seine Richtigkeit.
Aber «schön» ist auch bloss ein Wort, noch keine Wahrheit. Handkes grösstes Defizit ist die Unbedarftheit seines Sprachgebrauchs, ist die Phantasielosigkeit, mit der er die Sprache auf das Niveau der schlichten Mitteilung heruntermoderiert. Dies freilich entspricht seinem dichterischen Programm, soll Bestätigung sein für ein Literaturverständnis, wonach man – so expliziert er es in einem Brief an Alfred Kolleritsch – «alles, was bedrückt, auch in der üblichsten, allen bekannten Sprache ausdrücken kann und dass das das Schwierigste ist (es ist das, was man am Schreiben ruhig Arbeit nennen kann), auch weil man die eingebürgerten Einschüchterungsmechanismen der Fluchtsprachen (gesellschaftlichen Sprachspiele) weder verwenden noch devot oder ‹kritisch› zitieren kann».
Das hochgemute Plädoyer für die Alltagssprache als Dichtersprache wird in diesem Fall – das Briefzitat steht beispielhaft auch für die Aufzeichnungen – durch Handkes eigne, sichtlich überanstrengte Ausformulierung widerlegt. Was authentisch sein sollte, wirkt bloss unbedarft. Sprachklang und Rhythmus können in solch unbereinigtem Sprechen nicht zur Geltung kommen, Sprachwitz und lautliche Assoziationen (die im Übrigen keineswegs nur sinnleere Sprachspiele sind) stellen sich nicht ein. Die Sprache bleibt blosses Werkzeug, Mittel zum Zweck, Handke hört nicht auf sie hin, gesteht ihr keinen Eigenwert und keinen Eigensinn zu, sie ist für ihn lediglich eine Art Fangnetz für die Wiedergabe aussersprachlicher Realien.
Verfehlt, zumindest widersprüchlich in sich selbst sind seine Aufzeichnungen von Gestern unterwegs vor allem deshalb, weil sie einerseits die interesselose Wahrnehmung festhalten und den gegenwärtigen Augenblick heiligen sollen, mithin das, was beim Schreiben immer schon vorbei, verflossen ist, verfehlt auch, weil sie als angestrengte «Verbuchung» ebensolcher Augenblicke und Wahrnehmungen die Intensität wie auch den Sinn verlieren, den sie dort vielleicht bewahren könnten, wo Peter Handke ohne Notizblock und Bleistiftstummel, vor allem aber ohne sein quasireligiöses Selbstverständnis als Dichter zugang wäre. Nur er selbst statt wieder bloss ein andrer.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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