I
Am Leitfaden der jeweils jüngsten Werke seiner Dichterfreunde Welimir Chlebnikow, Wladimir Majakowskij und Boris Pasternak hat der russische Sprach- und Literaturforscher Roman Jakobson seit den 1920er Jahren die Grundlagen seiner Poetologie erarbeitet, bei deren Entfaltung ihm in der Folge Gegenwartsautoren wie Vítězslav Nezval und Jaroslav Seifert, Fernando Pessoa und Konstantinos Kavafis, Bertolt Brecht und E.E. Cummings als Anreger besonders hilfreich waren. Jakobsons Devise, «von den Dichtern lernen» zu wollen, lässt darauf schliessen, dass er den dichterischen Spracheinsatz nicht, wie sonst üblich, für einen marginalen Sonderfall hielt, sondern, ganz im Gegenteil, für die vielfältigste, zugleich dichteste Realisierung sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten und Aussageweisen überhaupt.
II
Wird die Dichtersprache gemeinhin als Hochsprache von der Gebrauchssprache abgehoben und mit einem künstlerischen Mehrwert dotiert, so kehrt Jakobson diese Hierarchie um, indem er der Dichtersprache den Status der Sprache schlechthin zuerkennt, der gegenüber die Gebrauchssprache einen Minderwert aufweist, also gewissermassen defizitär ist. Die Sprache der Poesie ist Sprache in höchster Potenz und Aktion, sie umfasst virtuell die komplette linguistische Armatur, in der alle Register zwischen Alltagsrede und Fachsprache vereint sind. Von daher erstaunt es nicht, dass Jakobsons zentrale sprachwissenschaftliche Interessen – Phonologie, Grammatik, Semantik – in seiner Dichtungstheorie ihre exakte Entsprechung finden konnten.
III
Der dichterische Text gilt hier nicht als eine individuelle auktoriale Hervorbringung; er ist vielmehr das Ergebnis eigengesetzlicher sprachinterner Prozesse, die vom Autor teils intuitiv, teils bewusst gelenkt und verschränkt werden. «Das poetische Material, das in der morphologischen und syntaktischen Struktur der Sprache verborgen liegt, – kurz, die Poesie der Grammatik und ihr literarisches Produkt, die Grammatik der Poesie –, ist von Kritikern nur selten erkannt und von den Linguisten meist nicht beachtet worden», hat Roman Jakobson noch 1960 in seinem Schlusswort zur MIT-Konferenz über Stil in der Sprache bedauernd festgestellt, «aber die Schriftsteller haben es in ihren Schöpfungen geschickt gemeistert.» – Der Absicht, dem Willen, der Arbeit des Autors kommt also keine höhere Autorität zu als der autopoietischen Energie des Sprachmaterials – beides wirkt im Gedicht zusammen, bewirkt eine Fusion, deren Anteile im Ergebnis nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Wenn Jakobson mithin die «Funktion Autor» als Subjektfunktion relativiert, sie als eine unter andern – gleichwertigen – poetologischen Funktionen aus- weist, bezeugt dies seine wissenschaftliche Mittäterschaft an der einst viel diskutierten Entmächtigung, Verabschiedung, sogar Totsagung des Autors, die vorab dem französischen Strukturalismus der 1960er, 1970er Jahre zuzuschreiben ist.
IV
Im poetologischen Denken Roman Jakobsons kommt der Dominante intentionale, dem Parallelismus strukturale Bedeutung zu. Das Gedicht ist als poetischer Text dadurch ausgewiesen, dass in ihm die Ausdrucksebene gegenüber der Aussageebene dominant ist, während umgekehrt in einem diskursiven Text (Brief, Reisebericht, Aufsatz usf.) die Dominanz bei der Aussage, beim «Inhalt» liegt und der Ausdruck, die «Form» möglichst normentsprechend eingesetzt wird, um jedes störende «Rauschen» im Informationskanal zu vermeiden. – Je «schwieriger» ein Text bezüglich seiner Aussage ist, desto «poetischer» wird seine Wirkung sein, was aber nicht heisst, dass der Schwierigkeitsgrad des Verstehns die Poetizität des Texts auch garantiert; poetische Texte erschweren oder verunmöglichen ihr Verständnis durch Mehrdeutigkeit (auch Dunkelheit, Widersprüchlichkeit, Nonsens, Paradox, kühne Metaphorik usf.) und lenken gerade dadurch die Aufmerksamkeit des Lesers auf ihre Sprachlichkeit.
V
Das Gedicht hält demnach in jedem Fall eine uneindeutige, also variable Lesart bereit, bei der die ästhetische Funktion und der poetische Ausdruck dominant sind. Nach Jakobson braucht es diese Dominante notwendigerweise, um «eine gegebene Spielart der Sprache zu spezifizieren»; schon 1935 hat er dazu, mit Rückgriff auf entsprechende Vorüberlegungen der russischen Formalisten, klar festgehalten: «Die Dominante kann als diejenige Komponente eines Kunstwerks definiert werden, an der sich alle andern orientieren: sie regiert, determiniert und transformiert die übrigen Komponenten. Die Dominante garantiert die Integrität der Struktur.» Und sie garantiert auch, könnte man hinzufügen, die Hierarchie der in den Gedichttext eingelassnen Form- und Funktionselemente, welche einander zu-, unter- oder übergeordnet sein können.
VI
Als textinterne Dominante könnte man auch das in vielen Dichtwerken leicht erkennbare «Schlüssel-» (oder «Thema-») oder «Leitwort» auffassen, das entweder durch mehrfache Wiederholung markiert wird, dessen lautliche Komponenten aber auch in wechselnden Konstellationen über den Text verteilt sein können, ihn also wie ein expandierendes Anagramm durchwirken. In mehreren seiner Gedichtanalysen verweist Jakobson auf die formbildende Funktion solcher Schlüsselwörter, zuletzt in Bezug auf Hölderlins Winter-Gedicht, das er als Lautentfaltung des Worts «Natur» zu erkennen glaubt: die Konsonantengruppe n-t-r wie auch die Phoneme -at- und -ur- bzw. -ta- und -ru- kehren wieder in «Winter», «Tale», «strahle», «herunter», «Ruhe» u.a.m. Das Schlüsselwort bestimmt demnach als lautliche Dominante die Klanggestalt des Gedichts insgesamt.
VII
Dem Prinzip des Parallelismus unterstehn sämtliche Komponenten der Textarchitektur, es bestimmt «die Interaktion zwischen Metrum und Sinn sowie den Bau von Tropen» und ist im Übrigen ein sprachübergreifendes Prinzip, das in Dichtungen aller Völker und Epochen wirksam wird. Jakobson hat den poetischen Parallelismus an Mustertexten aus rund zwanzig verschiednen Sprachen eingehend untersucht und dargestellt, und er hat nie einen Hehl daraus gemacht, von wem er den Anstoss dazu bekam. Immer wieder verweist er in seinen einschlägigen Arbeiten auf linguistische Vordenker des 18. und 19. Jahrunderts, so auf den Bibelphilologen Robert Lowth und den Sinologen J.F. Davies, vorab jedoch auf den englischen Dichter Gerard Manley Hopkins, der schon 1865, als 20jähriger Student, im Parallelismus das grundlegende Bauprinzip aller Dichtung und damit eine universalpoetische Invariante erkannte. – «Die Struktur der Dichtung ist die eines fortgesetzten Parallelismus», schreibt Hopkins in einer Notiz über Poetische Diktion, die Roman Jakobson sich zu eigen gemacht und durch zahlreiche Fallstudien erhärtet hat: «Aber Parallelismus gibt es notwendigerweise in zwei Arten – einer, bei der die Gegenüberstellung klar markiert ist, und einer, bei der sie eher transitorisch oder chromatisch ist. Nur die erste Art, also die des markierten Parallelismus, betrifft die Struktur des Verses – im Rhythmus, in der Wiederkehr bestimmter Silbenfolgen, im Metrum, in der Wiederkehr bestimmter Rhythmusfolgen, in der Alliteration, der Assonanz und dem Reim.»
VIII
Zur markierten Erscheinungsform des Parallelismus gehören nebst lautlichen und grammatischen Konstellationen (also beispielsweise dem Stab- und Endreim, der Wiederholung bestimmter Wortarten oder Deklinationsformen) auch rhetorische Figuren wie die Metapher, der Vergleich, die Parabel u.a.m., deren Parallelführung die Ähnlichkeit der Signifikate unterstreicht, und es gehören antithetische Parallelismen dazu, welche umso deutlicher Unähnlichkeiten, Kontraste, Gegensätze hervortreten lassen. Der Parallelismus ist’s, der in aller dichterischen Rede – gleich welcher Sprache – «die Äquivalenz zum Bauprinzip der Wortkombinationen macht. Die symmetrische Wiederkehr und der Kontrast der grammatischen Bedeutungen werden hier zu künstlerischen Verfahren.» Kein andrer Philologe hat so viele Einzeluntersuchungen aus so vielen Kulturbereichen vorgelegt wie Roman Jakobson, um die Idee einer universell wirksamen Poetik faktisch zu konkretisieren, einen durchaus romantischen Wunschtraum mithin, den bekanntlich schon Novalis wissenschaftlich zu rationalisieren versuchte und der in Benjamin L. Whorfs Vorstellung einer «Geometrie jener formalen Prinzipien, die jeder Sprache zugrunde liegen», seine linguistische Entsprechung findet.
IX
Was Jakobson auf der lautlichen, grammatischen und versifikatorischen Ebene des Gedichttexts als formale Obligatorien beobachtet, ist für die Sprache der Erzählkunst nicht nur entbehrlich, sondern gilt gemeinhin als störend und sollte deshalb vermieden werden. Störend sind hier, unter anderm, lautliche Parallelismen wie Reime, Wortwiederholungen, gehäufte Assonanzen oder Deklinationsendungen u.ä.m., aber auch die auffällige Wiederholung von syntaktischen Fügungen, vorab von gleichartigen Nebensätzen auf engem Raum. Dennoch spielt der Parallelismus auch in der Prosa (wie übrigens im Drama) seine determinierende Rolle, und zwar auf der Ebene der Textkomposition insgesamt, etwa beim Handlungsgefüge, bei der Figurenkonstellation, bei der Strukturierung des Erzählraums usf. Gustave Flauberts hochfahrender Hinweis, wonach im Roman «der einfachste Satz für den ganzen Rest unendliche Auswirkung hat», mag zumindest andeuten, welch bestimmende Funktion sprachlichen Formalien in Bezug auf das Textganze zukommt. Solche Formalien sind nicht Karosserie, sie sind Motor des literarischen Gebilds, Motor sowohl für dessen Entstehung wie auch für dessen Rezeption. Allerdings ist dieser Motor – ich bleibe kurz noch bei der Metapher – kein Automat und auch nicht etwas immer schon Vorgegebnes; gegeben sind seine sprachlichen Bauelemente, doch deren Zusammensetzung erfordert ein strukturierendes Bewusstsein, einen kompositorischen Zugriff, ein subtiles Arrangement, das sich seinerseits leiten lässt von der Eigenart und den Eigenschaften der vorhandnen Versatzstücke. – Dass und wie dieses Verfahren in der Prosa wirksam werden kann, wie sich auch beim Erzählen «ungeahnte Resonanzen und Echos» einstellen können, hat Claude Simon im Vorwort zu Der blinde Orion (1970) kurz festgehalten, dies freilich nicht, um es für die Erzählkunst generell zu dekretieren, vielmehr um seine eigne Schreibweise zu erhellen: «Jedes Wort ruft mehrere andere hervor (oder erfordert sie), nicht nur durch die Kraft der Bilder, die es anzieht wie ein Magnet, sondern manchmal auch allein durch seine Morphologie, durch einfache Assonanzen, die sich, ebenso wie die formalen Notwendigkeiten der Syntax, des Rhythmus und der Komposition häufig als ebenso fruchtbar erweisen wie seine mannigfachen Bedeutungen.»
X
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass solche Besonderheiten und Möglichkeiten literarischer Textgenese auch in der Gebrauchssprache gang und gäbe sind, ohne dass sie freilich bewusst eingesetzt und genutzt werden. Jakobson belegt dies in diversen Arbeiten (und auch in diversen Sprachen) durch eine lange Reihe von umgangssprachlichen Redewendungen, die ich hier, beispielshalber, um den z.Z. modischen Ausdruck beziehungsweise Ausruf «total toll!» (für grossartig! phantastisch! u.ä.m.) ergänzen möchte: Niemand hat diesen Ausdruck eigens kreiert, niemand ist als dessen Autor namhaft zu machen; die Sprache selbst scheint ihn hervorgebracht zu haben, und zwar in eben dieser Form; denn die gleiche Aussage hätte synonym formuliert werden können als «ganz toll!», «absolut toll!», «supertoll!» usf., aber nur in «total toll!» kommen die lautlichen Qualitäten des Parallelismus voll zum Tragen (Anlaut to- / to-; Assonanz -tal / tol-; konsonantischer Parallelismus t-l / t-l sowie Paralleltriade dental/labial t-t-t / l-l-l), und nur diese besondre Ausformulierung ist vom «Volksmund» akzeptiert, zeitweilig sogar kanonisiert worden.
XI
Im Kratylos-Dialog hat Platon derartige Spielformen der Sprache eingehend untersucht, um deren Tiefsinn und Unsinn zu ergründen; bei Hegel (in den Vorlesungen über die Ästhetik, III) bleiben Sprachspiele – die rhythmischen wie die lautlichen – der Poesie vorbehalten, für die sie freilich konstitutiv und bezüglich der «Bedeutsamkeit» sogar dominant sind, weil sie deren «sinnliche» Qualität – «allein nur noch das Klingen der Silben» – garantieren. Es ist schon erstaunlich, dass sich Jakobson weder bei Hegel noch bei Platon jemals länger aufgehalten hat; erstaunlicher noch seine Zurückhaltung gegenüber Sigmund Freud, der doch in den weithin bekannten Schriften zur Traumarbeit, zum Wortwitz, zur Psychopathologie des Alltagslebens usf. eine Fülle von sprachlichem Anschauungsmaterial zusammengetragen und ausgewertet hat, um Parallelismen zwischen Klang und Bedeutung in diversen Erscheinungsformen zu dokumentieren; am erstaunlichsten aber, dass Jakobson offenkundig keinerlei Kenntnis hatte von Martin Bubers und Franz Rosenzweigs Abhandlungen aus den 1920er Jahren zum «Leitwortstil» der biblischen Erzählungen, vorab des Pentateuchs, Arbeiten, die aus der Praxis der von beiden gemeinsam unternommnen «Verdeutschung» der Bibel erwachsen sind und in denen zahlreiche sprachliche (lautliche wie semantische) Parallelismen nachgewiesen werden.
XII
Buber und Rosenzweig haben aus ihren Beobachtungen am Bibeltext eine eigenständige Poetik entwickelt, die mit Begriffen wie «Wortatmosphäre» oder «Gestaltungsgesetz» operiert und die im Fazit sowohl die Erzählkunst wie auch die Alltagsrede der Dichtung zuordnet, sofern in ihnen das Strukturbildungsprinzip des Parallelismus dominant auftritt. Religiöse, dichterische, umgangssprachliche Rede bleiben dabei, nach Einsicht beider Autoren, einem rationalen «Gestaltgesetz» unterstellt, das aber für die Vergegenwärtigung arationaler Sachverhalte unabdingbar sei. «Wir sprechen», schreibt Franz Rosenzweig in seiner Schrift über Das Formgeheimnis der biblischen Erzählungen, «in Versen und wissen es nicht.» – Damit stellt sich wiederum die Grundfrage, inwieweit das «Gestaltgesetz» der Dichtung bewusst angewandt wird beziehungsweise inwieweit es, andrerseits, unbewusst und eigenmächtig sich durchsetzt. Die sprichwörtliche Formel «nolens volens» (ungewollt/gewollt), die ihrerseits als ein lautlicher Parallelismus mit semantischer Kontrastbildung in Erscheinung tritt, bringt das Problem unzweideutig auf den Punkt.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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