Wittgenstein

Titelbild von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Felix Philipp Ingold: Haupts Werk“

Wittgensteins geistige Erscheinung: wie sie sich jetzt, da man seine Schriften, seinen Briefwechsel gesamthaft übersehen kann, präsentiert.
Er, sie tritt in einem eher trivialen Stück – dem »Leben« – auf und geht erstaunlich groß und heil daraus hervor. Vita Cartesii res simplicissima est. Aber Dummheit ist seine Stärke nicht; nie gewesen.
Und noch eine Schwäche: der Gebrauch von Adjektiven; überhaupt: die Epitheta! Ein Buch von Ehrenstein, zum Beispiel, nennt er »Hundedreck«; Tolstoj findet er »tief«, anderes »schlicht« oder einfach »schön«. Gelegentlich argumentiert er mit dem »Feuerhaken«; auf Anhieb.
Und das »Leben« verringert sich – wird minder – in dem Maß, wie das »Werk« an Umfang, an Bedeutung zunimmt. Schließlich, nachdem er seit langem die Sprache gewechselt und der Schrift ihr unverwischbares Gepräge gegeben hat, blickt Wittgenstein aus dem Exil seines Denkens zurück und sieht vor dem unbewegten Hintergrund des fast schon ausgespielten Lebens ein paar Gesichter, zwei, drei Opern und die Substanz von einem Dutzend Bücher, die er ganz für sich behalten hat. Es ist nicht die beste, auch nicht die schlechteste Auswahl; geblieben ist das, was einer braucht, um den Mann, den er im Leben zu stellen hat, auch wirklich darzustellen: Text, Mitspieler, Begleitmusik. Im April 1951 starb Wittgenstein, zweiundsechzigjährig, in Cambridge.
Nach allem, was man nun über sein Leben wissen kann, muten seine letzten Worte wie ein Schlußakkord bei Verdi an: »T e l l   t h e m   I’ v e   h a d   a   w o n d e r f ul   l i f e ! …«
Dieses »Leben« vermag einen, anders als das »Werk«, nur darüber in Erstaunen zu versetzen, daß sich Wittgenstein nicht länger darin gefallen hat. Er muß wohl eines schönen Tages die sieghaften Momente seines Denkens aufgerechnet haben, um sie sich als ein großes Ganzes zu vergegenwärtigen; so, daß die Summe jenes »wundervolle Leben« ergab, dem eigentlich nichts mehr beizufügen war.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

„Suppe Lehm Antikes im Pelz tickte o Gott Lotte"

Imaginär

gern am Ring? immer mag er! mehr Gin, Magier!

Michel Leiris ・Felix Philipp Ingold

– Ein Glossar –

lies Sir Leiris leis

Würfeln Sie später noch einmal!

Lyrikkalender reloaded

Luchterhand Loseblatt Lyrik

Planeten-News

Planet Lyrik an Erde

Tagesberichte zur Jetztzeit

Tagesberichte zur Jetztzeit

Freie Hand

Haupts Werk

Gegengabe

0:00
0:00