Bei russischen Lyrikübersetzungen ist es durchaus üblich, dass die Originaltexte bei der Überführung in die Zielsprache bedenkenlos gekürzt oder erweitert werden. Die einheimische Kritik nimmt kaum Anstoß daran, ist in formaler Hinsicht ohnehin, traditionellerweise, auffallend tolerant, moniert deshalb nicht, dass ganze Strophen fortgelassen, das vorgegebene Versmaß und Reimschema abgeändert, also beispielsweise freie Verse aus andern Sprachen in gereimten vierhebigen Jamben wiedergeben werden – oder umgekehrt.
Die „Freiheit“, in den Textkörper einzugreifen, ihn beim Übersetzen willkürlich zurechtzustutzen, hat demgegenüber nochmals eine andere Dimension. Man mag dieses Verfahren problematisch, wenn nicht inakzeptabel finden, sollte aber gleichwohl überlegen, ob die abstraktive Überschreibung von Fremdtexten nicht wenigstens als ein experimentelles Verfahren der Nachdichtung wie auch der Dichtung sein könnte: Die Geste des Durchstreichens würde damit als produktive Schreibbewegung anerkannt, eine Geste wohlverstanden, die ohnehin jeder Autor bei der Bearbeitung eigener Texte anzuwenden pflegt.
Ich will das Verfahren hier an einem langen Gedicht von Rainer Maria Rilke erproben … an der sogenannten Elften Elegie. Folgende Lesart – eine von vielen möglichen – kann sich daraus ergeben:
Verluste ins All, Marina, wohin wir uns werfen –
im Ganzen ist immer schon alles gezählt.
Wer fällt, vermindert die Zahl nicht. Stürzt in den
Ursprung. Wäre denn alles Verschiebung und
nirgends Gewinn ? Wir Erde ! Wir Frühling ! Ein
Lied – wir beginnen’s als Jubel, doch unser
Gewicht dreht es zur Klage. Aber auch so:
Die unteren Götter wollen gelobt sein, Marina,
lass uns verschwenden die Klage als Lob.
Gespendet, entrückt und zerstreut beim
innigsten Vorwand, Marina, sonst nichts.
Dies scheinbar Zärtliche, dies leise Geschäft
ist die Kraft, die uns aus Überlebenden zu
Lebenden macht im eisigen Vorraum neuer
Geburt. Gurt, der uns trug ! Uns ? Einen Leib
aus Augen unter zahllosen Lidern sich wei…
sich weigernd wie das in uns unterworfene
Geschlecht. So viel, Marina, muss Liebe
vom Untergang wissen. Verwehn von der
Mitte her, drin wir atmen und ahnen.
Schließt uns der Augenblick aus hält
doch die Blüte den Strauch und stärkt uns
die Nachtluft. Statt Hälften zu heucheln
sind wir ins Kreisen bezogen und füllen
ein Ganzes. Auch in abnehmender Frist.
Auch im noch so losen Schlaf und Wandel.
Was ist das nun? Ein Exzerpt? Eine Zusammenfassung? Eine freie Nachdichtung? Eine bloße Nachahmung? Eine Übersetzung aus dem Deutschen ins Deutsche? Der Status des Texts lässt sich nicht ohne Weiteres bestimmen. In Bezug auf die Vorlage ist das Gedicht deutlich kürzer; kürzer sind auch die einzelnen Verse, die Metaphorik allerdings bleibt weitgehend erhalten, ebenso die Aussage. Abweichungen und Übereinstimmungen ändern kaum etwas daran, dass die gekürzte und leicht modifizierte Nachschrift dennoch als eigenständiges Gedicht bestehen kann.1
aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung
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