− Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht „déjà vu“ aus Wolfgang Hilbig: Werke Band 1 – Gedichte. −
WOLFGANG HILBIG
déjà vu
ich schlief nicht ich irrte im vorhof…
g.a. bécquer
der nicht mehr relative raum des todes
hoch über dem strahlengetürm der sterne
war plötzlich nah – oder falsch
verfahrenes gedankendunkel wolkenjagen daß ich
nicht weit sah – nicht diese falsche unendlichkeit
nicht diese galaxien beinfarbener talglichter
gewachsen aus großen traditionen von tod
und in unkenntliche zukünfte fort
brennend an der denkbaren räume rand…
denn ich sah auf den tod wie auf einen kalten hof
einen werkhof wo grobe maschinen verfallen
belebt von einem nachtwind aus nassem papier
und fast durchschritt ich den dunklen torweg
den ein vom leben entlasteter alter arbeiter
durchmaß sein schnell vergeßnes sterben erfüllend
und dem meine irre stimme endlos nachruft
o abgeschieden
abgeschieden in ein großes graues kirchenschiff
das die schwarzen prozessionen schaurig durchheulen…
o abgeschieden von energie und brot o abgeschieden
vorm tor in das traurige werk des wesens… endlos
welcher weg der starrt von blaugeschmiedetem gras
welcher endlose weg von kerzensternen kalt gewiesen.
– Über einige (baudelairesche) Textprozesse in den ersten Gedichtbänden von Wolfgang Hilbig. –
Dass die Lektüre von Baudelaire Spuren bei Hilbig hinterlassen hat, lässt sich aus den vielen Bänden in Hilbigs Bibliothek,1 aus Hilbigs Äußerungen zu Baudelaire2 und aus intertextuellen, wenn auch nicht markierten Verweisen leicht schließen.3 Diese Aneignung ist Teil eines eigenen, keineswegs nur nachholenden Experiments mit der Moderne.4 Es soll hier genauer untersucht werden.
Hilbig geht es um die Resonanz zwischen einer sprachlich erfassten, räumlich geprägten Wahrnehmung und einer Art von Metaphorik, die er auch als „Atmosphäre“5 bezeichnet und auf die er durch seine Lektüren moderner Dichter aufmerksam wurde. Um diesen Vorgang zu kennzeichnen, soll sich mit Gedichten und Texten auseinandergesetzt werden, die morphogenetisch zusammenhängen und sich eben dadurch auszeichnen, dass sie einen eigenartigen tropologischen „Raum“, ein Idiom erzeugen: „gespaltenes thema“ (1974),6 „Über den Tonfall“ (1977),7 „déjà vu“ (1978),8 „fermes“ (1979)9 und „Vortrag an der Universität in Lexington, Kentucky“ (1988).10 Diese Texte zeichnen sich durch folgende Merkmale aus:
1. Ihr Titel schafft eine Trennung der gängigen Sprache, aber auch der traditionellen poetischen Sprache gegenüber; manchmal wird diese Geste auch durch die Entscheidung für französische Wörter im Titel als Anklang an die französische (post-)symbolistische Tradition untermauert.
2. Der Raum des Textes strukturiert sich gleichzeitig als psychischer Bühnenraum.
3. In diesem Raum werden bestimmte baudelairesche Motive ausgestellt, die einmal eine makrostrukturelle, einmal eine mikropoetische Dimension aufweisen.
Auf diese Texte wird hier im Einzelnen eingegangen. Sie sollen jeweils mit Fokus auf das moderne und insbesondere baudelairesche Erbe geschichtlich erhellt werden. Dabei wird die Literarizität des Werks gemäß der Forderung Szondis berücksichtigt, derzufolge man „nicht das literarische Werk im Strom der Geschichte wiedererkennen, sondern die Geschichte in der Struktur des literarischen Werkes erkennen“11 sollte.
(…)
In „déjà vu“ ist ein ähnlicher Prozess zu beobachten: ein Prozess der Trennung und der Doppelung. Rein sprachlich gesehen definiert der Titel einen spezifischeren Raum als den tagtäglichen, indem er auf ein der französischen Sprache entlehntes Fremdwort (das Déjà-vu) hinweist, das außerdem ein wissenschafts- und literaturgeschichtlicher Begriff ist.12
Walter Benjamins Zeilen aus der „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ erlauben es, die Tragweite des Begriffs im Rückblick einerseits auf die klassische Moderne, die Benjamin mit Sicherheit implizit mitzitierte, andererseits auf die 1930er-Jahre, die Entstehungszeit des Textes, sowie schließlich auf die Nachkriegsjahre zu erfassen:
Man hat das Déjà-vu oft beschrieben. Ist die Bezeichnung eigentlich glücklich? Sollte man nicht von Begebenheiten reden, welche uns betreffen wie ein Echo, von dem der Hall, der es erweckte, irgendwann im Dunkel des verflossenen Lebens ergangen scheint. Im übrigen entspricht dem, dass der Chock, mit dem ein Augenblick als schon gelebt uns ins Bewusstsein tritt, meist in Gestalt von einem Laut uns zustößt. Es ist ein Wort, ein Rauschen oder Pochen, dem die Gewalt verliehen ist, unvorbereitet uns in die kühle Gruft des Einst zu rufen, von deren Wölbung aus die Gegenwart nur als ein Echo scheint zurückzuhallen.13
Dieser Umweg über Benjamin, bei dem uns manche hilbigsche Züge entgegentreten, bestätigt die Ansicht, dass dieser Ausdruck im Titel die Doppelung, Wiederholung oder scheinbare Wiederholung, die sich im Gedicht abspielt, vorbereitet.
Außerdem verweist das Zitat von G.A. Bécquer,14 das Hilbig als Motto verwendet, auf das Idiom des Dichters, der hierdurch seiner Neigung zur psychoszenischen Chronotopie Ausdruck verleiht. Tatsächlich könnte der Begriff des ,Vorhofes‘ sowohl sozialgeschichtlich als auch psychisch statt ästhetisch verstanden werden:
ich schlief nicht, ich irrte im vorhof
Dies erinnert uns an den „vorplatz“ in „Über den Tonfall“, wo das Ich sich diesen „vorplatz“ von der Kammer aus anschaut, in die es sich zurückgezogen hat, und nimmt gleichzeitig den Begriff „fermes“ und das eponyme Gedicht vorweg, da das Wort „vorhof “ auch als „avant-ferme“ übertragen werden könnte.
Von diesem „schon gesehenen“, vorszenischen Raum aus wird das lyrische Ich dreifach seine Wahrnehmung dessen darstellen, was es hautnah erfahren hat:
de(s) nicht mehr relative(n) raum(s) des todes (V. 1).
Diese Suche nach einer angemessenen Darstellungsform wird in den drei Teilen des Gedichts wiederholt: Teil I (V. 1–9), in dem unzeitgemäße Darstellungsmodi erwähnt werden; Teil II (V. 10–16), in dem eine allegorische Manier bemüht wird, und Teil III (V. 11–23), in dem ein elegischer Ton angeschlagen wird.
Im ersten Teil (V. 1–9) entsteht eine subjektive Bewegung, deren Ziel es ist, so nah wie möglich an eine Grenze heranzutreten und den Raum, den diese Grenzlinie umschließt und der dem Raum des Todes gleich kommt, zu vermessen.
So wohnen wir der Entzweiung des Raums bei, wie sie in „gespaltenes thema“ und in „Über den Tonfall“ dargestellt wurde. Von dem ,familiären‘ abgeschlossenen Raum aus, in dem sich das Ich befindet, streckt die Wahrnehmung ihre Fühler in den dunklen, schwer zu erblickenden Raum hinein; wir erleben gleichermaßen die Entstehung einer Anschauung wie die eines poetischen Diskurses, deren Sach- und Wahrheitsgehalte auf die Probe gestellt werden.
In den Versen 5 bis 9 dieses ersten Teils wird der postromantische Anschauungsmodus als nicht tragfähig betrachtet. Der Tod erscheint in den Zügen eines Unbegrenzten („Galaxien“, V. 6), von entsprechenden Requisiten wie Gebein („beinfarben“, V. 6) und Talg („Talglichter“, V. 6) begleitet und in eine Randzone verlegt (Begriffe wie „Zone“ oder „Sphäre“ werden am Ende des Verses nicht mehr angeführt, sondern durch drei Auslassungspunkte ersetzt). Es ist eine Zone, die dem Auszusprechenden nicht gemäß ist, in der es einem die Sprache verschlägt und in der das Ich mit seiner Auslöschung konfrontiert wird.
Im zweiten Teil des Gedichts (V. 10–16) wird der Blickwinkel des „Heizers“ eingenommen:
denn ich sah auf den tod wie auf einen kalten hof (V. 10).
Man könnte sowohl an Kafkas Heizer oder Türhüter als auch an das Ich von „Über den Tonfall“ denken. Dieses schafft es, mit hilfe seiner atmosphärisch eingesetzten Kunstmittel die Wahrnehmung des eigenen Todes chronotopisch zu suggerieren (noch einmal, indem Hilbig hier ähnliche Mittel einsetzt wie Baudelaire in „Herbstgesang“). Hier spielen Begriffe wie „Hof“ oder „Tor“ eine zentrale Rolle (V. 10, 11, 13). Die Sphäre des Todes zeigt sich als ein begrenzter Raum (Innenhof), an dessen Schwelle sich das Ich aufhält. Dennoch ist es in der Lage, diesen Raum aufgrund einer Form von Doppelung zu erkunden. In diesem geschlossenen Raum gehen die Ausdrücke „beinahe“ und „nicht mehr“ eine Verbindung ein (das „fast“ des „Durchschreitens“ und das „nicht mehr“ des alten Arbeiters, der als Alter Ego des Ich das Sterben bereits „hinter sich“ hat).15
Die letzten zwei Strophen (V. 17–23) sind dem „abgeschiedenen“ Arbeiter gewidmet, sie sind eine Elegie auf sein Verschwinden, wobei erneut moderne Mikrolithen eingefügt werden: Der verstorbene Arbeiter wird als eine abgesonderte Figur dargestellt, die in ein großes „Kirchenschiff“ (V. 18) eintritt, das das Bauchschiff der poeschen Szenerie in „MS. Found in a bottle“ anklingen lässt. Auch bestehen Gemeinsamkeiten zwischen den suggerierten Plots. In Poes Kurzgeschichte, auf deren Material Hilbig bereits in „Flaschenpost“ zurückgriff,16 ist eben der Ich-Erzähler bereits gestorben, mindestens hält er sich in einem phantastischen Raum jenseits von Leben und Tod auf, da er noch schreibt, jedoch von den anderen nicht mehr wahrgenommen wird. Anlässlich seiner Fahrt in einem gespenstischen Schiff erkennt er sich vage (déjà–vu) in den Zügen des Kapitäns wieder, der das Schiff lenkt, und der seinerseits vermutlich ebenso ein Gespenst ist; dieser ist jedoch viel älter als das Ich und erscheint ihm insofern als ein Archiv der menschlichen Geschichte.17 Diese falsche Identifikation des erzählenden Ich mit dem Kapitän bei Poe könnte mit der möglichen und ebenso falschen Identifikation des lyrischen Ich mit dem alten Arbeiter in Hilbigs déjà vu parallelisiert werden. Außerdem wird die poesche Szenerie mit einem baudelaireschen Motiv untermalt: Das Schiff als psychischer Raum wird hier wie in Baudelaires „Schwermut“ von „schwarzen prozessionen“ (V. 19) heimgesucht,18 nur hat Hilbig das „Heulen“ der Glocken aus der vorletzten und die Lautlosigkeit der Prozessionen aus der letzten Strophe von Baudelaires Gedicht zusammengefügt (V. 19).
Die Elegie greift die in der ersten Strophe des letzten Teils evozierten Motive in der zweiten Strophe wieder auf und präzisiert sie: „o abgeschieden“ (V. 17) wird wie folgt ergänzt „o abgeschieden von energie und brot“ (V. 20), womit die Erschöpfung des Arbeiters angedeutet wird; die Haltung des Ich „vorm Tor“ (Strophe 3) wird hier wieder aufgegriffen, wobei das Ich zwar dahin seine Fühler ausstreckt (siehe den Akkusativ: „in das traurige werk des wesens“, V. 21), jedoch – im Gegensatz zum alten Arbeiter – noch nicht unter dem dunklen Tor hindurchgegangen ist.
Diese kulturellen Reminiszenzen überlagern sich und beleben somit den poetischen Raum, den die im Titel ausgeführte trennende Geste eröffnet hatte. Aus ihrer Mitte entsteht eine idiomatische Sprache um Chronotopoi herum, wie über ,Hof‘, ,Vorhof‘, ,Tor‘.19 Diese wiederum grenzen einen Raum ein, in dem ein widerständiges Gedenken (hier das Gedenken des alten, verstorbenen Arbeiters) anamorphotisch stattfinden kann.
Françoise Lartillot, aus Stephan Pabst, Sylvie Arlaud, Bernard Banoun und Bénédicte Terrisse (Hrsg.): Wolfgang Hilbig und die (ganze) Moderne, Verbrecher Verlag, 2021
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