ein punkt
richtet sich in seiner oberfläche auf
ohne die absicht
den zenith zu erreichen
doch mit sanfter neigung
gegen die achse eines semikolons
das aus seiner hängenden lage schwingen
und wie eine schiffsschaukel
in den himmel steigen könnte
bis es im scheitelpunkt
einen moment stillsteht wie ein ausrufezeichen
wenn auch nur im vorübergehn
und ohne hoffnung
je wieder hier auszuruhn
Ein Lesebuch ist dem herkömmlichen Sprachgebrauch nach ein Buch für den Deutschunterricht an Schulen jeder Art. Während die Fibel, an deren Texten die Schulanfänger lesen lernen, noch ganz für diesen Zweck des Lesenlernens eingerichtet ist, hat das Lesebuch, gestuft von den ersten Volksschullesebüchern bis zu anthologischen Kompendien der oberen Oberschulklassen, eine höhere Aufgabe. Es sammelt, mehr oder weniger geordnet, Beispiele aus der Literatur, die traditionsgemäß Nationalliteratur heißt, und bietet diese Beispiele als Muster an für das, was dann im Unterricht als allgemeiner Begriff von Literatur erarbeitet werden soll, wobei der Ehrgeiz dahin geht, mit diesem Begriff von Literatur zugleich dem Schüler einen Begriff von Kultur zu vermitteln. In der pädagogischen Praxis sieht das bis heute so aus, daß bei der Zusammenstellung der Gedichte, Erzählungen, Betrachtungen usw., die den Inhalt des Lesebuchs bilden, nicht literarisch-ästhetische Kriterien im Vordergrund stehen, auch historische nur mit Einschränkung, sondern Gesichtspunkte der Belehrung, der moralischen Unterweisung, der veredelnden Spiegelung, der, wie es in der älteren Pädagogik hieß, „Lebenshilfe“. Ein Lesebuch stellt somit eine Art von säkularisiertem Erbauungsbuch dar (mit verschiedenen Graden der „Freizügigkeit“) für den Schulgebrauch. Dieses Buch, das seinem Titel nach nichts anderes sein sollte als ein Buch zum Lesen, kanonisiert nur einen Vorrat zitierbarer literarischer Gebrauchsware, die imstande ist, das sogenannte normale Leben des sogenannten durchschnittlichen Bürgers bis an sein Lebensende zu begleiten (ich erinnere mich an einen höheren Verwaltungsbeamten, der nach dem Krieg zu seinem Trost aus dem Lesebuch sich selber laut klassische Balladen vorlas). Es schließt von seinem Vorsatz her das aus, was Literatur schon für den Schüler sein sollte, ein Mittel zu irritieren, das Ungewohnte und Unheimliche zum ersten mal aufscheinen zu lassen. Nicht zuletzt findet eine sich verändernde Literatur ihren zähesten Widerstand in der kanonisierenden Verengung dieser Lesebuchstellung. Übertreibend könnte man sagen: so etwas wie den sozialen Realismus hat es in deutschen Lesebüchern schon immer gegeben. Wie das fortwirkt, läßt sich bis in die Spitzen der heutigen sogenannten Literaturwissenschaft verfolgen. Es hat dabei nicht an Versuchen gefehlt, dieses Gebilde noch zu veredeln. Der berühmteste Versuch ist das von Hugo von Hofmannsthal 1923 herausgegebene Deutsche Lesebuch. Doch gerade dies zeigt nur um so deutlicher, in wie verhängnisvoller Weise die kanonisierende Einengung, die Unterordnung des ästhetischen Kriteriums unter das der Erbauung die Basis der Literatur aufzuweichen vermag.
Dies alles soll nur deshalb gesagt sein, damit deutlich wird, was nicht gemeint ist, wenn das vorliegende Buch den Titel Lesebuch trägt. Lesebuch soll hier, ohne jede Anmaßung des Bessermachens oder des Aufstandes gegen die altväterliche Tradition, zuerst wieder in seinem Wortsinn verstanden werden: ein Buch zum Lesen. Daß es ein Lesebuch von Franz Mon ist, bedeutet nicht, daß Franz Mon nun ein Musterlesebuch vorstellen wollte oder daß er es besser versteht, ein Lesebuch zu machen, als die verschiedenen Schulbehörden der verschiedenen Kulturministerien zu den verschiedensten Zeiten: es bedeutet nur, daß er, Franz Mon, ein Lesebuch vorstellt nach seiner Art, Literatur zu machen und daß es ganz und ohne weiteres Aufhebens auf diesen speziellen Autor beschränkt ist.
Zugleich hat es natürlich noch einen Nebensinn. Dieser hängt damit zusammen, daß die Art von Literatur, die Franz Mon macht und in der er zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung in Deutschland vielleicht an exponiertester Stellung steht, ein Lesekompendium gebrauchen kann, an dem ihre verschiedenen methodischen und thematischen Möglichkeiten studiert werden können. Lesebuch hat so den Sinn des Lesenlernens noch nicht ganz aufgegeben, nicht im Sinne eines elementaren Entzifferns, aber in dem des Neu-Entzifferns von etwas, was dem Leser sonst an Lesestoff so nicht vorkommt. Die Abschnitte dieses Lesebuchs bezeichnen solche methodischen Möglichkeiten. Daß die methodischen Möglichkeiten auch thematische Unterschiede zeigen, muß ausdrücklich betont werden. Die sogenannte öffentliche Meinung verharrt ja immer noch auf dem Vorurteil, daß der, welcher neue Methoden verwendet, also „experimentiert“, nichts zu sagen habe und selbstgenügsam im „Sprachlabor“ seiner „Bastelarbeit“ im „Sprachmaterial“ fröne. Wozu eigentlich? Um „Schönheit“ zu erzeugen? Welcher Art?
Nein, es wird etwas gesagt. Es wird das gesagt, was nicht anders gesagt werden kann. Sprache wird einer neuen Funktion zugeführt. Um hier weitschweifigere Interpretationen zu vermeiden, zitiere ich drei Passagen aus den „Überlegungen zu einer Theorie der modernen Künste“ von Franz Mon selber, die, so denke ich, den Hintergrund deutlich machen, in dem die Literatur dieses Lesebuchs seht.
I. Die zivilisatorische Realität läuft ab, als hätte sie kein Gedächtnis für ihren Ursprung. Sie hat die ursprünglichen Motive der völligen Gewißheit, der Sicherheit, der Entlastung objektiviert und treibt sie ihrer optimalen Geltung zu. Doch ist dabei nicht auszumachen, ob die gerade aus diesem Prozeß massiv hervortretenden Negationen des Programms noch notwendige Phasen des Programms sind und der ursprüngliche Impuls sich gerade durch die Anfechtung durchsetzen wird oder ob durch die Objektivierung und das Anwachsen der Dimensionen die ursprünglichen Motive sich inzwischen zu unbekannten, vielleicht wieder ambivalenten Charakteren verkehren mußten. Darauf keine Antwort geben zu können und darum die wichtigste Auskunft für die eigene Entscheidung seiner Wirklichkeit gegenüber zu entbehren, ist Situation des modernen Individuums. So ist ihm das adäquate Bewußtsein gerade durch die Konsequenz des ursprünglichen Ausgangspunktes verwehrt. In seinem Verhalten zur Wirklichkeit bleibt ihm nur die Simultanität von Akzeptieren und Protestieren. Keine der beiden Haltungen ist ohne die andere denkbar, sie sind, wenn sie wirksam sind, zusammen wirksam.
2. Im Analogiecharakter der ästhetischen Versuche, im Aufnehmen der Wirklichkeitsstrukturen, im Nachspielen und Durchprobieren ihrer fremden, uneinsichtigen Härte und Verschwiegenheit zeichnet sich das Akzeptieren, das Anpassen ans Gegebene, die Bejahung des Mächtigen ab, – indem das Subjekt aber die Konformität in einem von der Realität abgesetzten Sprachmedium vollzieht, unterwirft es sich ihr nicht völlig, sondern kann zugleich das ursprüngliche Austauschverhältnis zwischen Objektivität und Subjektivität im Spiel wiederherstellen. Ins Sprachmedium überführt, fallen die fremden Strukturen – Montage, Reduktionsformen wie Rasterung, Spiegelung, statistische Anordnungen usw. – der phasenhaften, geschichtlichen Verfassung des Subjekts anheim, das unausbleiblich ihre Gleichgültigkeit gegen die Zeit und ihre Unwiederholbarkeit als Schein entlarvt und ihnen die Bewegung wiedergibt, die sie einst im rein theoretischen Bewußtsein schon hatten. Die Analogie wird gründlich gestört, statt Wiederholungen und bloßen Spiegelungen entstehen in der Arbeit der Negation Gebilde, die als unerwartet-erwartet, als negative Erinnerung auf die vorhandenen und bekannten zukommen und deren fatale Notwendigkeit desavourieren.
3. Die Unversöhnlichkeit zwischen einer experimentellen Kunst und einer Gesellschaft, die im ganzen konformistisch sein muß, weil der zivilisatorische Existenzapparat nur so in Gang bleibt (und also auch die Existenz des Protestierenden garantiert), beruht nicht auf unzureichender Belehrung, die durch pädagogische Maßnahmen behoben werden könnte; sie ist konstruktiv und stellt sich gerade dann unwiderstehlich wieder her, wenn die zivilisatorische Realität eine Phase der experimentellen Kunst akzeptiert hat. Denn eine solche Aufnahme geschieht immer nur beiläufig, der tatsächliche theoretisch-praktische Realitätsvorgang verläuft in seinem eigenen Problemgefüge. Eine unmittelbare Beeinflussung findet weder von der Kunst auf diese Realität, noch umgekehrt statt. Die Kunst hat keinesfalls die Kraft, die zivilisatorische Entfremdung selbst aufzuheben. Es genügt, daß sie jene Existenzform des volldimensionierten Subjekts am Leben erhält und durch die Analogiebezüge hindurch der zivilisatorischen Physiognomie das unerwartete und doch begründete Gesicht der Freiheit, des Spiels, des neuen ‚Ganzen‘ zeigt und vermutlich dadurch, daß sie die Fähigkeit der Negation, des Protestes übt, an der Fortdauer des Problembewußtseins, auf dem der Bestand der zivilisatorischen Welt beruht, beteiligt ist.
Dies ist ein Lesebuch, das heißt ein Buch zum Lesen, an dem der Leser erfahren kann, was in dieser Zeit, in diesem aktuellen historischen Moment lesen bedeuten kann. Dies ist ein Lesebuch, das nichts kanonisiert, sondern alles offen hält. Dies ist ein Lesebuch, das der Erbauung den Rücken kehrt, das irritiert. Nicht die Sicherung, sondern die Unsicherheit spricht aus seinen Exempeln. Dies ist ein Lesebuch, in dem, wie sein Autor sagt, Akzeption und Protest simultan sind. Es wäre gerade deshalb unter anderem auch ein Lesebuch für den Schulgebrauch.
Helmut Heißenbüttel, Nachwort
Lesebücher helfen uns, Muttersprache zu konservieren. Wir haben alle als Schüler aus ihnen Muttersprache und Väterlaut vernommen, wie es sich gehört. Wer ins Lesebuch für höhere Schulen, Mittel- oder Oberstufe, kommt, darf sich zu Lebzeiten füglich als Klassiker empfinden. Manche meinen, er habe sich auf diese Weise zu Lebzeiten überlebt. Das ist möglich. Aber der Augenblick muss schliesslich in jedem Fall kommen, auch ohne Lesebuch. Ausserdem gibt es glücklicherweise ganz verschiedene Arten Lesebücher. Auch Franz Mon – so heisst er als Dichter, bürgerlich hat er als Schulbuchverleger ohnehin mit Lesebüchern zu tun – hat sich entschlossen, ein solches Buch (mit nichts als seinen Texten) zusammenzustellen und herauszugeben. Mons Lesebuch wird unversehens zu einem wohlsortierten verbalen Mon-Feld, durch das man sich sogar lesen kann, ohne in Schlaf zu fallen, mohnbetäubt. Mon machts möglich, dass man wach bleibt. Wer einschläft, ist von Natur ein Schläfer, und wer wollte das als Mon-Leser, über Mons Lesebuch als experimentelle Pastille gebückt, eingestehen. Mon hält wach, wie gesagt. Er hält ausserdem, was Helmut Heissenbüttel in seinem Nachwort vom Lesebuch Franz Mons verspricht, dass es zunächst einmal wieder „in seinem Wortsinne verstanden“ werden müsse. Nicht „elementares Entziffern“ (was, meine ich, mehr für eine Fibel als fürs Lesebuch zutrifft), vielmehr „Neu-Entziffern von etwas, was dem Leser sonst als Lesestoff so nicht vorkommt“. Das stimmt.
Schon vor dem eigentlichen Beginn des Lesebuchs und gleichsam als Motto dienend, findet sich eine Apostrophierung des Einsilbers als einer für Mon ergiebigen Wortform. Man liest und gesteht sich ein, dass einem das sonst in Lesebüchern nicht vorgekommen ist:
ich hebe alle einsilbigen wörter auf, sie sind wie haare auf der zunge, sie legen sich glatt nach hinten, das ist ihr vorteil gegenüber den sätzen. Ich hebe sie in einer schachtel auf. sie lassen sich leicht aufheben, weil sie nicht verderben, auch das licht schadet ihnen weniger als den vitaminen, hitze freilich vertragen sie schlecht, dann schrumpfen sie wie nüsse, und man kann sie nicht mehr kauen, nachts und bei mässiger temperatur dagegen sind sie fest und saftig, ihre härchen bleiben leicht zwischen den zähnen hängen, sie sind überhaupt nicht mit den sätzen zu vergleichen.
Seit Mons Behandlungsempfehlungen gehe ich mit einsilbigen Wörtern anders um. Kommen wir zu Mons Lesebuch. Es schafft soviel Spielraum, soviel nakt-zärtlichen Raum zu „seinen Themen und Stoffen und enthält die verschiedensten verbalen Behandlungsarten („wörter“, „lettern“, „sätze“, „wörter im wortwechsel“)! Zu allem werden gefällige und überzeugende Stichworte gegeben. So zu „Wörter“:
wörter wie sätze zum kauen wörter zum verdrehen buchstäbliche wörter wortverhältnisse wortehen wortfamilien wortmaschinen wortbazillen wortelefanten keine urworte orpheus ohne leier leitworte luminalwörter.
Doch bei Mon wirkt Luininal nicht als Schlafmittel. Es handelt sich lediglich um ein Dichter-Wort, absolut unschädlich sowieso. Ausserdem, wer hielte es aus, beim Lesen von „der tisch ist oval“, „von oben nach unten“ oder gar „in den schwanz gebissen“ einzunicken? Später kommt man beim „Wochenmarkt“ „Schachzabel“ und „einer sitzt oben“ an und hat die einsilbigen Worte vergessen, wie es sich gehört, und treulos, wie wirr alle gegenüber dem sind, was sich einsilbig gibt, denn „wer zuerst lacht lacht zuerst noch / wer zuzweit lacht lacht zweimal / wer gleich lacht lacht doppelt / wer zuerst kommt mahlt am besten / wer zuzweit kommt sieht doppelt / wer nicht kommt lacht am schluss noch / wer zuletzt kommt beisst die hunde.“ Aber – den Mund voll schön verhunzter Sprichwörter – vergeht einem jeder Beisszwang.
Ich bin für das Besinnliche. Dazu gehört auch morgens mit dem falschen Bein aus dem Bett geraten und bald danach den Briefträger erwarten. Hierüber kann man in Franz Mons Lesebuch natürlich auch nachlesen:
Wenn Sie zufälligerweise morgens mit dem falschen Bein aus dem Bett geraten sind, ziehen Sie es nicht wieder an sich, sondern versuchen Sie, es bis auf den Boden zu bringen und das andere hinterherzuziehen, ohne die Zunge über die Erde zu schleifen und eine Spur zu hinterlassen, der nicht anzusehen ist, nach welcher Richtung sie läuft, so dass der Briefträger, der mit der ersten Post unterwegs auf Sie stösst, vor die Wahl rechts oder links gestellt wäre, der er, nur gewohnt, auf und ab zu laufen, ja sogar den Weg von oben nach unten als entbehrliche Begleiterscheinung zu betrachten, nicht gewachsen sein kann, darum nun beginnt, in der Luft zu gehen…
Feinschmecker der Literatur könnten Hebel’sche Kalendergeschichte mit Arpschem Effekt vermuten, ohne zu bedenken, dass Franz Mon auch jemand ist, wie er da seinen Morgenkaffee schlürft und der Himmelfahrt eines Briefträgers nachsinnt.
Ludwig Harig: wortbazillen wortelefanten
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 12. 1967
Jürgen P.Wallmann: Ein Orpheus ohne Leier
Die Welt, 14. 3. 1968
Jörg Drews: Ein Übungsbuch für Leser
Süddeutsche Zeitung, 28. 3. 1968
Wilhelm Höck: Aufklärung, Spiel, Produktgestaltung
Hochland, Heft 5, 1968
Karl Krolow: Wer zuletzt kommt, beißt die Hunde
Die Tat, 22. 6. 1968
Klaus Stiller: Sprachsucht
Der Monat, Heft 236, 1968
„Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens werden Geist und Auge an ein halbes und falsches Sehen und Urteilen gewöhnt“ Franz MON spielt dagegen an
ja Franz, ich bin nicht einverstanden mit mir
nein, Franz, ich bin einverstanden mit dir
manchmal bist du mit mir dann fliegen sie die Worte und fallen – nie sind es nur Wörter immer machst du aus Wörtern Worte: aus Belanglosigkeiten Fragen die ans Herz klopfen – oder im? ja, im!
Worte wie lockere Ketten: ineinander verschlungen und doch sehr gelöst vom Wörterbuch, von Zufällen geknüpft: ein richtiges Chaos! denn Chaos ist beileibe keine Unordnung, natürlich auch keine Ordnung, geschweige denn eine bürgerliche Ordnung, eine kirchliche Ordnung, eine politische Ordnung – sondern wer ins Chaos hinab- und wieder hinauftaucht, kommt an seine ursprünglichen Kräfte – noch vor aller sogenannten Ordnung. Kann er sie dann in seine persönlichen Energien umwandeln, entsteht etwas, das das Individuelle mit dem Allgemeingültigen, dem für Alle gleich Gültigen, verbindet, dem das Einmalige, das Besondere in die Seite tritt: und was kommt heraus? etwas, daß den Hörenden und Sehenden „hören und sehen“ nicht vergehen, sondern sie aufwachen und plötzlich in sich selbst das Eigene, das ganz Persönliche entdecken, −wenn sie nur hören und sehen können− aber wer hat das schon gelernt!
Franz MON spielt uns auf – spielt uns vor, was in unserer Sprache steckt, was man mit ihr machen kann, was sie mit uns machen kann, wie wir uns in sie verlieren, wie wir durch sie gewinnen können, wie wir uns verfahren und wie wir uns finden können: in der Sprache? ja, bei Franz MON können wir uns selbst in der Sprache finden.
Normalerweise ist die Sprache nur ein Hilfsmittel, denkst du – aber wenn du denkst, brauchst du die Sprache. Aber Sprache, Schrift und Gedanken sind festgelegt in ihren Bedeutungen, denkst du. Plötzlich siehst du, erlebst du, daß jede Schrift und jede Sprache offen ist, wenn du vom Linearen wegkommst, vom eingleisigen Denken, vom Festhalten an der Dummheit statischen Wissens hinübergerätst in das Offene: die Wörter wiederholen sich, aber immer anders, sie werden zu Sätzen, werden zu Worten – am Anfang war das Wort (und nicht die Wörter).
also fang an: bring deine Sprache in Bewegung Franz −MON macht es dir vor− nimm die Löcher wahr, fülle sie mit Assoziationen, gar mit Antiphrasen −von Antipoden−, vor allem mit dem, was du eigentlich nicht gewohnt bist und deshalb nicht magst, such dein Wort, das Wort, das auf dich zutrifft und bilde es aus, spiele mit ihm, dh. spiele mit dir selbst mit Worten (nicht mit Wörtern!), sodaß du – nein, ich wage es nicht zu sagen, probiere es trotzdem: sodaß du mit dir selbst experimentierst. Denn wer bist du denn?? da du der bist – wer denn? du mußt es dir selber sagen – und dann sag es uns
Franz MON – ein fast einmaliger Fall: vom Lektor zur Literatur – „Schrift als Sprache“ – und zum EinMannGründer des TYPOS-Verlags; versuchend, die Neugier anzuregen, anders lesen zu lernen im Lesebuch. Von der Literatur zur konkreten Poesie: – ainmal nur das alphabet gebrauchen – aus 26 Buchstaben besteht das Alphabet. Sie dienen vielen Sprachen. Mit 26 Buchstaben sagst du alles, was du sagen kannst und was du sagen willst, scherzt du, singst du, klagst du. Mit 26 Buchstaben erzählen sie dir Märchen; informieren, manipulieren und betrügen dich und lügen dir die Hucke voll; aber du sollst ihnen immer die Wahrheit sagen und alles offenbaren, sollst beten und sterben – mit nur 26 Buchstaben! Mit 26 Buchstaben sprechen, schreiben und lesen wir. Aus 26 Buchstaben besteht unser ganzes (sprachliches) Denken.
Franz MON versucht spielend zu entdecken, was man den Buchstaben machen kann: ainm 1 urd s ph bet g c −oder wie man einen Text in seine Buchstaben alphabetisch zerlegen kann: „analyse und synthese eines textes von aristoteles“: MON nimmt ihn auseinander – nach einer einfachen Regel, die aber keine gleichbleibende Regel ist.
Von der konkreten Poesie zur visuellen Poesie, von Wörtern zum Wort: „anfangen ohne aufzuhören“ denn „hören und sehen vergehen“ –
ich denke an Belloli an Gomringer an Gappmayr an die Garniers ich denke an – es hört gar nicht auf
Vom Wort zum Poem: „stell dir vor. stell dir zum beispiel vor augen. stell dir beispielsweise vor, wie ein auge aussieht.“ Hast du dir schon mal ins eigene Auge sehen können? ohne Spiegel? – vielleicht in der Kunst? – und ins Herz? „herzzero“: das Herz gleich Null?
Von alldem zum Hörspiel: wie das Sehen zum Hören bringen? Und wie kann man das Hören sehen? wenn „das gras wies wächst“ ist „pinco pallino in verletzlicher umwelt“ – da du der bist – hören und sehen vergehen – wenn zum beispiel nur einer in einem raum ist –
Vom Lesen zum Vorlesen – und dann sieht man es wieder: „das Wort auf der zunge“: (franz mon Texte aus vierzig Jahren zu Sprachblättern von Carlfriedrich Claus in Janus press, von Claus zusammengestellt)
Von alldem zur Collage: Schnittcollagen – Schriftcollagen – Streifencollagen – Reißcollagen: alles zerrissen die schrift zerrissen das bild zerrissen gewohnheiten zerreißen regeln zerreißen körper zerrissen denken zerreißen – und von vorn beginnen und das gefühl? auch zerreißen und von vorn beginnen! – aber doch nicht das verantwortungsgefühl?
AD sagte: wer sie heraus kann reißen, der hat sie! was hat er? na, wir wissen schon: Kunst.
Zur Sache: wir haben uns in Freiburg kennengelernt – wurden Freunde – eine Freundschaft, die alle Schicksalsschläge überstanden hat, nein: mitgeholfen hat, sie zu ertragen ohne Franz wäre ich nicht der ich bin – wir konzipierten die Ausstellung SCHRIFT UND BILD (auf einer Wanderung durch den Schwarzwald nach Zürich zur Ausstellung von Kemeny), eine Ausstellung, die ich im Stedelijk Museum Amsterdam machen durfte und in die Kunsthalle Baden-Baden brachte, die ich damals leitete.
− und nie hätte ich die folgenden Ausstellungen ohne ihn verwirklichen können: PRINZIP COLLAGE, Mostra di Poesia concreta, Biennale di Venezia 1969 – Künstler Theorie Werk, Biennale Nürnberg 1979 – „−auf ein Wort. Aspekte visueller Poesie und visueller Musik“ – und dann entwickelten wir gemeinsam das Konzept für das Guggenheim Museum New York THE IMAGE OF THINKING: „eine Ausstellung, die nicht stattfand“ – daraus ein Buch / einen Film zu machen, fragen jetzt die Künstler.
Durch Franz MON lernte ich 1960 das von ihm herausgegebene Buch movens (Limes Verlag) kennen: „Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik und Architektur“ – zusammengestellt mit Walter Höllerer und Manfred De la Motte. Es beginnt mit John Cages „Das Leere“, führt über „Artikulation“, „Parabel“, „Vibration“ zu „Perspektive und Synopse“.
Zwei Jahre später gründete Franz MON den Typos-Verlag. TYPOS: Immer auf der Suche nach verbindenden Strukturen, nach Synthesen, Verknüpfungen – ohne Einheit vortäuschende Kristallisationen, nach Balancen zwischen „Schrift und Bild“: wie eine Wippe rauf und runter – oder als „Funke“ (à la Max Ernst) zur Öffnung des eigenen Denkens. „Der TYPOS- Verlag – Ein synergetisches Konzept“. Im TYPOS-Verlag brachten wir zusammen zwei Mappen heraus: Westöstliche Kalligraphie und Zeichen für Zeichen. Auch erschienen dort Carlfriedrich CLAUS’ Notizen zwischen der experimentellen Arbeit – zu ihr (zu seiner ersten Ausstellung im Westen!). CLAUS auf dem Wege, die joycesche Technik des „Bewußtseinsstromes“ in Schrift zu transformieren: Schriftspuren noch bevor sie Sprache werden. TYPOS setzte Zeichen.
Durch TYPOS entstand auch der Kontakt mit der FLUXUS-Gruppe und dadurch auch mit Dick HIGGINS, der 64 die Something Else Press in New York gegründet hatte. Beide Verlage arbeiteten einige Jahre zusammen – jetzt gründete HIGGINS das (unsichtbare) Institut: The creative misunderstanding.
Es war geradezu ein Schock, den die Ausstellung SCHRIFT UND BILD (Amsterdam und Baden-Baden) ausgelöst hat, er dauert bis heute an, ja gerät wieder und wieder in den Mittelpunkt des Interesses oder wenigstens einer gewissen Beachtung von Seiten der bildenden Künstler sowohl wie der Poeten / Literaten / Philosophen. Es folgten seit jener aufregenden Zeit etwa 20 Ausstellungen über Themen der visuellen Poesie, die nicht nur Lesebereitschaft befriedigten, sondern auch Lesebedürfnis erzeugten, die die Typographie eng mit der Kunst verbanden und das Bild öffneten – zur Sprache hin, und die Sprache mit dem Bild interagieren ließen.
Was wir damals wollten −wie ich es sehe−: Sprache und Bild zur gegenseitigen Öffnung bringen, Ideogramm und Alphabet verbinden und der Ästhetik des Bildes das Denken abverlangen: das sollte heute – mit unserem erweiterten Bewußtsein – sich neu formieren: was wir brauchen, ist ein neuer TYPOS-Verlag.
hören und sehen vergehen – das Leben auch – ich weiß ich weiß es ich weiß es ja…
jeder weiß es ja, aber irgendwie genügt dieses wissen nicht −
nur wenn du es erfährst, zB. den Tod eines/r, der/die dir am nächsten – wenn du es erlebst – ja, was dann? schreibst du ein Gedicht? du merkst du bist −vielleicht nur für einen Augenblick− allein und alles kann sich ändern…
was tust du, wenn du zum beispiel allein in einem Raum bist? und dieser Raum ist dein Ort, deine Welt? deine Lebenszeit in dieser auch deiner Weltzeit −
MON erzählt es dir: wie robinson hast du nur dich und machst dich auf den weg – es geht scheinbar alles drunter und drüber, aber in Wirklichkeit lebst du auf: da du der bist – der du bist: nicht besser, nicht klüger, nicht bevorzugter als alle anderen auch bis auf die wenigen, die du aber nicht beneidest, weil es eh nichts bringt – und dir ist deine Liebe wichtiger, auch deine Seelenruhe, nein, nicht die Seelenruhe, sondern deine Eigenheit, dein Eigensinn ist dir wichtiger, als das Allgemeinnotwendige, dem du dich durchaus unterwirfst, nein, nicht unterwirfst, dem du aber folgst nicht wie ein Schüler, nein, ja doch wie einer, wie wir, die wir ja zusammenleben müssen: wir sind allein und doch mit anderen. mit anderen und doch allein. und du fängst an zu spielen −
mit worten, mit gedanken noch bevor sie Worte werden, mit cfr. CLAUS’ „denklandschaften – Zwischen dem Einst und dem Einst“, mit Dingen vielleicht sogar: denn was sind sie noch wert?
− oder mit dir selbst: spiel mit dir – auch wenn es weh tut −
jetzt habe ich den Faden verloren – auch franz mon: „mittendrin verlor er den faden, richtete sich doch gleich in seiner ganzen größe auf und sang ein lied ohne ansehen der person und des geschlechts“ −
Franz MON hat das Wort „Abstraktion“ zerrissen und collagiert. Für ihn ist die Abstraktion ein Bild, in dem die Sprache lebt −
Durch Abstraktion bringen wir die Gruppen, Arten, Familien auf ein Wort, das das Allgemeine kennzeichnet, aber dem Individuellen, dem Persönlichen seinen Raum nicht nimmt. Ganz im Gegenteil: das Materielle der Schrift, der Lettern wird sichtbar. Sie sind hier nicht mehr nur Träger von Gedanken, sondern sind selbst wer. Wörter werden zu Worten, die Schrift wird zum Logogramm, die konkrete Poesie zur freien Construction.
Durch die Collage wird das Wort zum bewegten Bild, in dem ich nicht nur den zerrissenen Sinn finde, sondern das Wort beginnt zu leben, zu wackeln, sich zu sträuben, dann doch wieder auf mich zuzugehen: als „Mainstream“: im Zentrum verdichtet, auseinanderfahrend, sich verlaufend, die Bewegung nie aufgebend und immer wieder auf die Kräfte im Innern zurückgreifend: denken. Kam nicht die moderne Kunst aus dem Geist der Abstraktion? Kann die moderne Kunst als anschauliche Abstraktion – denn nur durch Abstraktion sind Sprache, Schrift und Bild zusammenzubringen- zur Heilung des von Jaynes’ geschilderten Bruchs der bikameralen Psyche durch das Bewußtsein beitragen?
Franz MON: ist er selbst eine Abstraktion? eine Mischung von abstrakter Intelligenz und ihrer ganz lebendigen Visualisierung – was ja auch nur als Abstraktion vorsichgehen kann −?
Wieviel „denken“ kann man von der Kunst lernen? nie genug
Kann Kunst das Denken öffnen? weit
Kann Kunst statische Konstruktionen in freie Constructi verwandeln?
vom konstruktivismus zum prinzip collage −
widersprechendes zusammenbringen durch unterschiedliche perspektiven, durch abwandlungen und variationen – kann Computer art die Bewegungsstrukturen der Selbstorganisation bewußt werden lassen? wenn ja, dann Kunst
Fügt der Künstler, für den heute auch Wissenschaft notwendig ist – je nach seinem Engagement, nicht immer das ganz Persönliche dem Allgemeinen hinzu?, bringt Sprache, Schrift und Bild, das Allgemeingültige und das ganz Individuelle zusammen? Symbol dafür ist der Autopoet Franz MON.
Collage kommt von colle = Leim, vergleiche ,Kollagen‘ ein leimartiger, stark quellender Eiweißstoff im Bindegewebe, das die Organe schützend umgibt. Läßt sich das auf die Kunst übertragen? Collage als eine Methode, das Denken vor einseitigem, linearem, nur wissenschaftlichem oder philosophischem Gebrauch zu schützen durch starke Irritation als Anregung des eigenen Denkens – so beschränkt dies auch sein mag: vielseitig sollte es sich bewegen, selbst im kleinsten Raum; dann gäbe es keinen Unterschied mehr zwischen dumm und klug, nur noch den zwischen rechthaberisch verbohrt und offen – in größeren oder kleineren Bereichen / Lebensarten / Vorstellungswelten und denk-räumen.
Zeilen, Buchstaben, Sprachsymbole werden zerstört, zerschnitten und anders wieder zusammengesetzt (das Denken geht nicht in Zeilen vor sich), Hierarchien und Konventionen werden abgebaut; Worte, Wortspiele und Sprechblasen werden auf verschiedenen Ebenen Bildfragmenten gegenübergestellt; Titel sind längst zweideutig geworden, die Zeit der dummen Titel, die nichts bringen, ist vorbei; Handschrift und Druckschrift bekennen ihre konstruktive Kraft oder ihre bleibende Spur; die Texte zu den Fotos haben nur eine assoziative Nähe zur fotografierten Situation, sie lassen die Suche nach Identität leerlaufen. Damit wird die Beziehung Text und Bild zum Inhalt der Collagen gemacht: die Collage als Versuch, sich mit allen Bereichen und Dimensionen auseinanderzusetzen, die bei einem Geschehen mitspielen. Collageromane, Geschichten, Sequenzen entstehen. Bild und Text gehen Verbindungen ein, aus denen sich unerwartete, bisher nicht beachtete Kommentare sowohl für das Bild als auch für den Text ergeben: jeweils ein heterogenes Kontinuum, „die informationsreichsten Strukturen, die denkbar sind“. Sprachspiele setzen Sprachkenntnis, Lebenserfahrung und Weltverständnis voraus, werden zu Denkspielen mit der Wirklichkeit. Es geht nicht um die Zerstörung von Papier, sondern eines unzureichenden Denkens. Die Konfusion ist ein notwendiger Bestandteil des Denkens. Die Lösung ist nicht die Meidung der Widersprüche, sondern deren Verschärfung.
Die tiefste Verwirrung liegt jeweils auf der Schwelle der Erkenntnis. Die Begründung einer neuen Vorstellung von Literatur bedeutet zugleich die Begründung des neuen Zusammenhangs zwischen den Künsten und das Auffinden ganz neuer Kombinationen.
MONs Collage KEINE FIGUR läßt mich nicht in Ruhe −
Stellen wir uns vor, der Mensch wäre nur eine Figur! was für ein Wort: der Mensch sei eine Figur! oder gar eine Figuration? Franz MON ist ein Mensch: mit all seiner Bindung an Schrift, Bild und Sprache. Wo Sprache und Bild sich treffen −in den Collagen− ergänzen sie sich, erklären sich gegenseitig oder das Eine gewinnt die Oberhand, den Ober-Überblick, oder sie befinden sich ganz wie wir Menschen, wenn wir keine Figuren sind, in gegenseitiger Beziehung, gar Freundschaft, Liebe.
Freundschaft. Freund sein. Geliebte wird Freund, Liebe ist mehr Freundschaft als Erotik. Erotik ist mehr Poesie als Körper, Körper ist gut, manchmal aber lästig – aber er hilft, immer wieder „auf die füße fallen“ und dann auf den Füßen zu stehen: wo sind die Füße der Sprachen? Sprachen stehen auf den Füßen der Bilder.
Franz MON steht auf vielen Füßen −
franz mons augen (sehen auch mit den ohren): genauer können sie kaum sein – und wir als betrachter seiner Collagen fühlen uns, wenn wir uns aufs sehen einlassen, bald gefordert, genauer hinzusehen, zu sehen, daß auch wir zum beispiel oft allein in einem raum sind
und zu hören zum beispiel das gras wies wächst.
nicht aus dem auge aus dem sinn – niemals, franz mon! damit nicht hören und sehen vergehen, auch uns nicht vergehen, dazu verhelfen seine bilder und texte.
MON schrieb die Substantiva, schrieb alles immer klein – ABER 1988 fing er an mit dem großen A das Alphabet durchzucollagieren −natürlich ohne aufzuhören− von A bis Z = Omega: „Nach Omega undsoweiter“…
Die Collage als Denkprinzip, bei MON fast schon ein Dank-Prinzip – an das Leben, an uns vielleicht auch: an uns, daß es uns als Rezipienten gibt – sonst könnte er nicht… und wir denken dankend zum 70. Geburtstag, daß es ihn gibt (was heißt schon „Geburtstag“? jeder hat jeden Tag vor soundsoviel Tagen seinen Geburtstag).
fang einfach an – noch einmal – „erwache am Augenblick!“ sagt cfr. Claus ich bin der ich bin die wer bin ich denn bin ich pinco pallino in verletzlicher umwelt und du da du der bist: wo bist du? wo schon – in aller munde
ich weiß ich weiß es ich weiß es ja:
alle reden vom neuen Denken: fang einfach an Franz – Dieter hör endlich auf!
Dietrich Mahlow, manuskripte, Heft 131, 1996
− Für Franz Mon. −
ach schreibe ich an einen Freund, ich brauche von Ihnen jene Ansichtskarte zurück aus dem Mai des Vorjahres, auf der ich Ihnen ein paar Zeilen notierte über die ganz und gar mich aus dem Gleichgewicht geratenlassende (oder in ein mir bis dahin unbekanntes Gleichgewichtsgefühl führende) Begegnung mit Franz Mon, die so heiter wie ernsthaft anmutete. Wir schaufelten mit sandgefüllten Schuhen durch Birken- und Buchenwald, aufwärts, unterhielten uns über dieses und jenes, es war eben ein lichter Wald es war später Nachmittag früher Abend, und ich hatte eine Luftblase aus Emotionen, Betrachtungen, Bestrebungen umgeschnallt, die ich behutsam abließ während des flotten Wanderns (das mich übrigens beträchtlich außer Atem brachte), einen Hautsack ein Schutzschild, nicht als Rucksack also auf meinen Rücken geschnallt sondern als Brustbeutel, riesig, Ballon, so ließ ich immer wieder ein wenig Luft ab, das waren meine Gespräche, und kroch unter die lichtgrünen Blätter, er, Franz Mon mein Bruder. So war es, dies meine ungenauen Erinnerungen, darum wäre es schön, könnten Sie mir die Notiz auf der Karte leihen, die ich Ihnen damals gesandt, als die Tagung zuende ging, Haus Neuland Bielefeld – bewahren Sie diese Karten von mir?
Friederike Mayröcker, 15.3.1996, manuskripte, Heft 132, Juni 1996
Am 20.11.2012 war in der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik eine Legende der Avantgarde zu Gast in der Literaturwerkstatt Berlin: Franz Mon. Mit Michael Lentz sprach er über sein Werk.
Karl Krolow: Orpheus ohne Leier
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.1986
Jörg Drews: „Der Sprache schlaue Fallen stellen“
Stuttgarter Zeitung, 6.5.1996
Harald Hartung: Staunen über die vielen Wörter
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.1996
Karl Riha: MON ist sein NOM
Frankfurter Rundschau, 6.5.1996
Sandra Kegel: Der Entfesselungskünstler
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.2016
Michael Lentz: Im Käfig der Freiheit
Süddeutsche Zeitung, 5.5.2016
JF: Wort-Feinkost zum 90. von Franz Mon
Buchmarkt, 25.5.2016
Claus-Jürgen Göpfert: Das Haus aus Sprache, an dem er lange baut
Frankfurter Rundschau, 3.5.2021
Christoph Schütte: Das Gras wies wächst
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.6.2021
Franz Mon beim Festival PROPOSTA 2004 in Barcelona.
Selbstvorstellung
Anläßlich der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Einige Bemerkungen zu mir selbst
Sie haben mich freundlicherweise eingeladen, mit einigen Markierungspunkten über mich selbst etwas zu sagen.
Ich beginne nicht mit dem Schreiben, sondern mit dem Lesen. Als ich 1943, noch nicht 17jährig, im Klassenpulk zur Flak marschierte und damit meine Schullaufbahn im großen und ganzen endete, waren eine Handvoll kanonischer Dramen und Novellen, Ernst Wiecherts Hirtennovelle, lna Seidels Lennacker sowie ein paar Gedichte und Balladen das ganze literarische Marschgepäck, das uns die Schule mitgeben konnte. Begriffe wie Expressionismus oder Dadaismus waren dem einen oder anderen von uns als Exotica zu Ohren, nicht jedoch deren Texte vor Augen gekommen. Überwinterungsvorräte aus der Zeit vor ’33 hatte keiner von uns, dazu waren wir zu jung. Ich erinnere mich, daß wir – ein gleichgesinnter Freund und ich – im Arbeitsdienstlager 1944 den Hyperion lasen und fasziniert dessen Aussagen mit unserer Situation am Abgrund verknüpften.
Ich glaube, es hat kaum eine andere Generation eine ähnliche Kaspar-Hauser-Erfahrung gemacht wie die unsre, als die Kunst- und Literaturverbote 1945 mit einem Mal barsten und das Verbannte und Verbrannte, wenn auch nur brockenhaft und zufallsverstreut, wieder auftauchte. Es war die Entdeckung völlig unbekannter Idiome, und wir waren alsbald dabei, sie zu buchstabieren und zu radebrechen.
Der Zufall machte mir damals zwei umfangreiche Privatbibliotheken zugänglich, die von den Ereignissen der tausend Jahre unbehelligt authentische Werke der Literatur, Philosophie, Kunstgeschichte vor allem aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts aufbewahrten. Der von den Nazis bewirkte Leserückstau hatte eine Neugier und Offenheit zur Folge, die auch extrem Gegensätzliches aufnehmen konnte.
1951 muß es gewesen sein, als ich in der Zimmergalerie Frank den Maler Karl Otto Götz kennenlernte, mit dem mich seitdem eine bis heute andauernde Freundschaft verbindet. Dieses Zusammentreffen war für meine weitere Orientierung entscheidend. Götz, Jahrgang 1914, gehört zur Generation vor mir. Aus der Zeit vor ’33 hatte er Verbindungen zur authentischen Kunstwelt, und er selbst hatte, gedeckt durch seine Unbekanntheit, in all den Jahren seine eigenen Arbeiten konsequent weiterbetrieben. Indem ich seine Konzepte verfolgte und ihre Umsetzung und Begründung beobachtete, begriff ich, was im ästhetischen Zusammenhang Experiment heißt.
Mein eigenes Schreiben konturierte sich vor dem Hintergrund, der sich mir in diesen Jahren auftat: des Surrealismus vor allem, des Dadaismus – Götz hatte in einer langen Nacht gelegentlich der Durchreise des Schwitters-Sohnes Ernst ein Bündel unbekannter Manuskripte von Schwitters abgetippt: alles Publizierte war ja verschollen -, schließlich der informellen Kunst und ihres Weichbilds. Ergiebig waren ferner die Literatur des 17. Jahrhunderts, der Mystik, Arno Holz und anderes. Mit Kurt May vereinbarte ich eine Untersuchung über „Das irdische Vergnügen in Gott‟ von Barthold Hinrich Brockes als Dissertationsthema, weil mich diese Nahtstelle zwischen zwei Epochen und das Auftauchen erster Spuren einer offenen Symbolbildung, lange vor Klopstock, interessierten.
Gemeinsame Projekte mit Walter Höllerer gehören in diese Jahre. Verwirklicht und wichtig wurde mir als Basis einer Poetik experimentellen Schreibens die Arbeit an dem Buch movens, das dann bei Limes erschienen ist. Die darin artikulierte und belegte Einsicht, daß Literatur, zumindest in unserem Jahrhundert, in enger, ja engster Beziehung zu den anderen visuellen und auditiven Künsten stehen kann, hat meine eigene produktive Fragestellung entscheidend bestimmt. Schon in den fünfziger Jahren begannen die Verzweigungen: in eine Prosa mit surrealen Elementen und quasiparabolischen Verläufen; in visuellscripturale Textblätter und in phonetisch-artikulatorische Versuche (letztere, sobald sich der Student ein Tonbandgerät leisten konnte). 1962 entstand ein erstes Hörspiel nach den Prinzipien des später so genannten Neuen Hörspiels.
Es hat für mich eigentlich nie einen Zweifel daran gegeben, daß ich meine materielle Existenz nicht auf die Literatur gründen würde, weder im Gehege der Wissenschaft, noch in den Vermittlungsbetrieben, noch im freien Lohngeschäft. Ich gelangte, als die Studiererei lange genug gegangen war, an die trockene Materie des Schulbuchmachens und bin – von mancherlei Erfahrungen durchgebürstet – bis heute dabei geblieben. Ein paar Jahre lang, etwa zwischen 1967 und 1975, war die (wie man damals gesagt hätte) soziokulturelle Situation so günstig, daß manches bewirkt und hervorgebracht werden konnte, das zu bewirken und hervorzubringen sich gelohnt hat.
Ich bin mit meiner Entscheidung noch immer einverstanden: in einem Beruf zu arbeiten, der nur beiläufig mit Literatur zu tun hat, und das Schreiben im Übrigen so zu betreiben, wie es mir richtig erscheint. Bei den Malerfreunden habe ich rechtzeitig gelernt, daß man hartnäckig auf der eigenen, einmal gefundenen Spur bleiben muß und sich von der Nachfrage – welcher auch immer – nicht die Fragestellung verwischen lassen darf. Es hat sich gezeigt, daß es immer welche gibt, die auf die Ergebnisse neugierig sind – wie man selbst – und die sie als Leser, Teilnehmer, Teilhaber wahrnehmen wollen – nicht viele, gewiß, doch aufmerksame, sorgfältige, sich erinnernde.
Literatur, wenn ich das noch bemerken darf, hat sich für mich als etwas nicht Festumreißbares erwiesen, und ich wüßte sie nicht zu definieren, es sei denn durch Hinweis auf ihre Ingredienzien, die jedoch eine paradoxe Reihe ergeben, wobei die Reihenfolge wechseln kann. Buchstabenbewußtheit, Unwahrscheinlichkeit und Erfindung, Achtsamkeit und Reflexion auf die Korrespondenzen. Immer natürlich hat es vor allem mit Sprache zu tun, auch dann, wenn kein Stückchen Text, wenn kein Wort vorkommt. Sie ist immer beteiligt.
Franz Mon 1985, aus: Michael Assmann (Hrsg.): Wie sie sich selber sehen. Antrittsreden der Mitglieder vor dem Kollegium der Deutschen Akademie, Wallstein Verlag, 1999.