Franz Mon: herzzero

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Franz Mon: herzzero

Mon-herzzero

 

 

 

 

 

 

 

fang einfach an                                                 ich weiss
was                                                                      weiss und weiss gesellt sich gern
fang mich                                                           was du weisst, macht mich nicht heiss
du bist mir einer. fang du lieber an             nichts ist so heiss, wie es gegessen
ehe es überhaupt anfing                                wird
was „es“? „es“ kann alles möglich               mach dir nichts weis
sein                                                                     mach ichs nicht, macht es ein anderer
ja, ehe alles mögliche anfing                        ist überhaupt erst einmal was
das muss sehr lange her sein. ich                gemacht, kann wieder was gemacht
erinnere mich kaum mehr                            werden
sie haben doch sonst so ein gutes               wird wieder was gemacht, wird mans
gedächtnis                                                        schon merken
sonst wüsste man auch nichts davon         merkt man erst was, macht man auch
ich weiss auch nichts davon                         was
auch nichts von stockbein                            merkt man erst was, macht mans
nein                                                                    lieber selbst. merkt man erst was,
von wem denn                                                 macht man nichts mehr. merkt man
von vornherei                                                  erst was, macht mans verkehrt. merkt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa  a      aman erst was, ist ein anfang gemacht
also sags selbst                                               mach auch mal was
sims                                                                   was denn bloss
wie
sims. wie mans spricht                                 fang einfach an
mit zwei ess                                                     wen denn
vorne und hinten mit scharfem ess           es, wie man so schön sagt: „mit gott
sags mir ins ohr                                              fang an, mit gott hlör auf, das ist der
du hörst doch nicht zu                                  schönste“
doch ich höre                                                  du bist mir einer
ein fieder                                                          bist du dir denn keiner
ein was                                                             fang du lieber was an
ein fieder. du hörst nicht richtig zu           zum beispiel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa       sims
wer nicht hören will, muss fühlen             was
fühlst du schon was                                      sims
nein. fast nichts                                             was ist das
von nichts kommt nichts                            ein fieder. kennst du nicht
ich weiss. aber es macht mir nichts          nein
machst du nicht, kommt auch nichts       wenn dus nicht fühlst, wirst dus nie
gib wenigstens eins zu                                 erjagen
gut. ich gebe. zählst du mit                         ich fühl schon was
eins                                                                  was denn
richtig. und weiter                                        eine feder

 

 

 

vorbemerkung

der text erscheint in zwei fassungen, die durch die drucktype unterschieden sind. es ist also jeweils die linke beziehungsweise die rechte spalte im zusammenhang zu lesen. niemand ist es jedoch verwehrt, von der linken in die rechte oder von der rechten in die linke hinüberzulesen.
es wird empfohlen, mit bleistift, kugelschreiber und filzstift zu lesen. mit dem bleistift streicht man die stellen an, die zusammengehören, auch wenn sie weit auseinander oder in verschiedenen spalten stehen. mit dem kugelschreiber korrigiert man, was korrekturbedürftig erscheint, ergänzt, was einem zur ergänzung einfällt, nicht nur die anführungszeichen an stellen, wo man jemanden sprechen hört, sondern auch wörter, satzteile, redensarten, sprichwörter zitate (auch selbstgemachte, vom himmel gefallene, denkbare, sagbare). der filzstift macht unleserlich, was überflüssig erscheint. bedenken sie dabei, daß seine schwarzen würmer zum text gehören werden.

Franz Mon, Vorwort

 

Sprache zum Stereo-Lesen

Die „Schwierigkeit“ einer bestimmten Sparte der modernen Literatur ist so sprichwörtlich geworden, daß man allmählich dazu übergehen sollte, alle solche Schwierigkeiten als Aberglauben denkträger Leser zu entlarven.
Leider würde das nichts nützen, denn selbst die „Aufgeschlossenen“ unter den Gebildeten nehmen lieber Wälzer mit Kommentaren oder spitzfindige soziologische Erklärungen (sei es zu Finnegans Wake von James Joyce oder zum Endspiel von Samuel Beckett) in Kauf, als daß sie zugäben, sie könnten so etwas einfach so vor sich hin lesen und genießen wie einst Karl May oder Hermann Hesse. Ja, vielen scheint, wenn es „schwierig“ wird, der Umfang und die Kompliziertheit des Kommentars geradezu ein Beweis für die Qualität des Kommentierten zu sein.
Wenn etwas schwierig erscheint, macht es meist Schwierigkeiten. Und was macht da Schwierigkeiten? Was macht, umgekehrt, beim Lesen von Büchern keine Schwierigkeiten? Zum Beispiel, da der Name bereits gefallen ist, Karl May. Man sagt, es ist die Phantasie oder die Spannung. Arno Schmidt hat sich bemüht, Phantasie und Spannung zusätzlich mit Freudscher Psychoanalyse zu unterlegen. Aber was regt die Phantasie an, was erweckt Spannung? Etwas, worin der Leser sich hineinversetzen kann? Etwas, das er sich vorstellt? Etwas, das er sich nicht nur vorstellt, sondern das ihn in dieser Vorstellung auch noch mit bestimmten Erwartungen erfüllt?
Nicht nur in Romanen oder Erzählungen, auch in Gedichten und Theaterstücken läßt uns unsere durch Überlieferung und Erziehung bestimmte Lesegewohnheit hinter dem wortwörtlich Gelesenen eine geschlossene oder erschließbare Realität erwarten, dient die Sprache nur als Überleitung in diese ergänzbare Welt. Und die „Schwierigkeiten“ in der modernen Literatur fangen denn auch überall da an, wo der Leser nicht weiß, was er „sich vorstellen“ soll. Das beginnt mit dem „Würfelwurf“ Stephane Mallarmés 1897 und reicht über den Surrealismus und die Romane James Joyces bis zu den letzten Neuerscheinungen.
Herzzero von Franz Mon ist eines der letzten und, wie ich meine, großartigsten Beispiele in der Reihe solcher „schwierigen“ Bücher, und wenn ich mit der Erörterung dieser Schwierigkeit angefangen habe, so nicht deshalb, weil ich selber dieses Buch für schwer lesbar halte (im Gegenteil), sondern weil ich voraus die Frage stellen will, ob nicht immer da, wo in der neueren Literatur und Kunst etwas schwer oder un-verständlich ist, das zunächst einmal an der falsch ausgerichteten Erwartung liegt, die wir an das Werk stellen.
Herzzero ist ein Buch von 164 Seiten. Es könnte dem Umfang nach ein Roman sein oder eine lange Erzählung. Die einzelne Seite ist nicht gesetzt wie eine gewöhnliche Prosaseite, sondern in zwei Spalten; die jeweils rechte Spalte ist in einer fetteren Type gedruckt als die jeweils linke. Diese Anordnung, zusammen mit den strophenartigen Absätzen innerhalb jeder Spalte, könnte ein Gedicht vermuten lassen, allenfalls so etwas wie ein modernes Epos. Bereits im Anlesen erkennt man, daß beide, zunächst ganz äußerlichen, Erwartungen nicht erfüllt werden. Dies ist kein Roman und kein Gedicht.
Nun wird aber auch die Zweispaltigkeit des Satzspiegels durch den ersten Abschnitt der „Vorbemerkung“ erklärt. Er besagt:

der text erscheint in zwei fassungen, die durch die drucktype unterschieden sind. es ist also jeweils die linke beziehungsweise die rechte spalte im zusammenhang zu lesen. niemand ist es jedoch verwehrt, von der linken in die rechte oder von der rechten in die linke hinüberzulesen.

Beginnt man nach dieser Anweisung zu lesen, also jede Spalte im Zusammenhang für sich, aber doch immer die jeweils auf einer Seite gedruckten Spalten miteinander vergleichend, sozusagen „stereo“ lesend, so bemerkt man zuerst einmal, daß bestimmte Partien in beiden Spalten identisch sind, sei es, daß die nebeneinanderstehenden Absätze mit der gleichen Formulierung anfangen, sei es, daß ein Satz der linken Spalte eine halbe oder sogar mehrere Seiten später in der rechten wieder auf genommen wird, sei es, daß von verschiedenen Ausgangspunkten beide Spalten in parallele Passagen einmünden. Das Ganze ist nach dem Muster strikter Zweistimmigkeit entworfen, wozu auch gehört, daß unter Umständen seitenweise die eine Stimme schweigt und die andere (rechts oder links) allein das Wort hat.
Beim Weiterlesen bemerkt man, daß das Prinzip der Wiederaufnahme von bereits Gesagtem nicht nur für die Verflechtung der beiden Spalten wichtig ist, sondern auch innerhalb der jeweiligen Spalte eine Rolle spielt. Der Textverlauf schreitet nicht gradlinig fort, sondern hat bestimmte Rückläufe, die ihn gliedern. Hierauf nimmt der zweite Abschnitt der „Vorbemerkung“ Bezug. Er empfiehlt dem Leser, das Gleichlautende anzustreichen. Er gibt darüber hinaus aber auch die Freiheit, im Text zu korrigieren, zu streichen oder zu ergänzen. Das Textganze ist also offenbar als etwas Offenes gedacht, etwas, das sich in Bewegung befindet, und auch die Tempoverschiebungen der Spalten gegeneinander deuten ja Bewegung und Beweglichkeit (und Offenheit) des Textes an.
Was ich bis hierher gegeben habe, ist eine Beschreibung des Buches Herzzero, und diese Beschreibung läßt bezeichnenderweise immer noch beides zu: Gedicht oder Erzählung. Aber nur die ersten Seiten lassen allenfalls noch an ein Gedicht denken, ein modernes mit Dialogbruchstücken, Wortspielen, Wortketten, Assoziationen. Bereits auf Seite 8 jedoch beginnt ein Absatz der rechten Spalte mit dem Satz:

stell dir einfach einen sehr großen platz vor, auf dem sich keine menschenseele befindet.

Was folgt, ist, wenn auch unbestimmt in der Abgrenzung, durchaus Erzählung. Diese läuft zurück in eine Satzkette, die Redensarten und einfache Aussagen hin und her wirft. Auf Seite 13 erscheint in der linken Spalte ein Leitmotiv, das den ganzen Text durchzieht, mit dem Satz:

manche entkommen.

Dieser Satz wird abgewandelt, verkehrt, umgedreht, aufgefüllt, logisch, zufällig, zitathaft.
Hier nun spätestens beginnt die „Schwierigkeit“. Und zwar besteht sie einfach darin, eindeutig zu sagen, was der Leser sich vorstellen soll oder kann. Und wenn noch im „Würfelwurf“ Mallarmés oder in Finnegans Wake von Joyce zu hoffen war, daß das Vorzustellende wenigstens durch einen gelehrten oder indiskreten Kommentar zu erschließen sein könne, versagt diese Hoffnung hier völlig. Ein Merkmal dieses Buches ist es, daß es durch bestimmte Bedeutungsverkehrungen, scherzhafte (man könnte heute vielleicht sagen: pop-artige) Auswechslungen, kalkulierte Zufälligkeiten den Kommentar herkömmlicher Art von vornherein verhindert, ihm so viel Fußangeln stellt, daß man das Buch als Ganzes beinah ein Fußangelbuch nennen könnte.
Dennoch ist natürlich behelfsweise doch herauszulesen, welche Art von Vorstellungen im Text vorkommen. Das sind einmal ganz verallgemeinerte Schauplätze und Szenen; Möglichkeiten von Schauplätzen und Szenen; das sind Abwandlungen des Verhältnisses von Einzahl zu Mehrzahl und Vielzahl; das sind physiologische Beobachtungen meist erschreckender Art; das ist der detailliert benannte Vorgang des Sprechens.
Dieses quasi Vorzustellende ist aber nie ablösbar aus der konkreten Formulierung und immer, auch da, wo es längere zusammenhängende Passagen füllt, eingebettet in eine Vielfalt von Einzelsätzen, Wortketten, Wortumstellungen, Wort- und Satzabwandlungen. Die Formulierungen selbst bleiben dabei immer nah an der Redesprache bis zu Dialektpassagen und Verballhornungen.
Aber gerade dadurch, daß es sich hier nicht um Verständnisschwierigkeiten im üblichen Sinne handelt, jeder einzelne Satz plan und einfach zu begreifen ist, entzieht sich der Textzusammenhang der normalen Aufschlüsselung noch mehr. Das ist keine versteckte Autobiographie oder eine verfremdete Geschichte oder eine in Assoziationsfelder aufgelöste Allegorie. Was zu lesen ist, bedeutet Satz um Satz wortwörtlich es selber und sonst nichts. Franz Mon hat aus einer bestimmten Entwicklung nicht nur der modernen Literatur, sondern auch der neueren Sprachforschung, die Konsequenz gezogen und sich nicht mehr darauf eingelassen, daß die Sprache nur ein Mittel sei, um Inhalte weiterzuleiten. Er geht vielmehr davon aus, daß Wörter und Sätze nicht nur auf etwas verweisen, sondern ebenso das, auf was sie einmal verwiesen haben, in sich aufgesammelt und angestaut haben.
So gesehen könnte Herzzero als eine umfangreiche Zitatenmontage, Zitatencollage bezeichnet werden, wobei das Zitat sich auf das bezieht, was an Formulierungen sozusagen im Gedächtnis hängengeblieben ist, erinnerte Rede wie erinnertes Geschriebenes, Redensarten wie Sprichwörter, Satzfolgen wie ganze Bewegungsabläufe.
Obwohl die Wörter „ich“, „du“, „ihr“, „wir“ häufig vorkommen, kann man nicht sagen, daß von einer bestimmten grammatisch fixierbaren Perspektive aus gesprochen wird. Die Anonymität des sprachlichen Gedächtnisses selbst ist sozusagen Subjekt. Mon reproduziert das. Indem er das tut, sagt er etwas aus über die historische Gegend, in der wir uns befinden und in der die Maßstäbe der Subjektivität nur noch Erinnerung sind.
Wenn irgendwo die Forderung Ludwig Wittgensteins, „die Geographie, wie sie jetzt ist, zu beurteilen“, erfüllt ist, so in Franz Mons Herzzero, einem der – das läßt sich heute schon sagen – maßstäblichen Bücher der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Seine „Schwierigkeit“ besteht darin, daß man es wörtlich nehmen muß.

Helmut Heißenbüttel, Der Spiegel, 1.7.1968

herzzero oder die Fortbewegung von Textmengen

Wenn ich anfange, einen Roman zu lesen, etwa den letzterschienenen von Graham Greene, The Human Factor, neu, aktuell, problematisch, was drängt mich zum Weiterlesen? Angenommen, ich werde auf Seite 50 in der Lektüre unterbrochen und komme in absehbarer Zeit nicht dazu, sie fortzusetzen, was vermisse, was entbehre ich? Nichts. Nichts? Ich müßte den Vorgang genauer prüfen, um eine eindeutige Antwort zu finden. Was tut Graham Greene, schreibend? Er stellt mir eine Reihe von Personen vor, die mäßig interessant, mäßig originell, mäßig komisch sind, er verbindet diese Personen miteinander in ein handelndes Verhalten, das nicht sofort durchschaubar ist und mich neugierig macht, er erweckt ein wenig Sympathie, er erweckt ein wenig Abneigung, er versucht, beides in einer Balance zu halten, die meine Erwartungshaltung auf das Weitergehn verstärkt, mich in eine mäßige Spannung bringt.
In der Lektüre unterbrochen, überlege ich, wenn ich einmal daran denke, wie es wohl ausgeht, ein gutes Ende mit bitterem Beigeschmack scheint das Wahrscheinlichste. Ich stelle fest, daß ich gewisse Einzelheiten, die vielleicht für den Fortgang wichtig sind, nicht korrekt behalten habe. Ich ertappe mich dabei, wie ich Details aus einem ganz anderem Buch, The Top Bloody Secret von Stanley Hyland, mit denen aus Greenes Erzählung verwechsle, offenbar nur, weil in beiden Büchern eine Abteilung MI5 vorkommt. Im Grunde interessiert es mich schon nicht mehr. Das Lesen des Romans von Graham Greene ist für mich Krimilektüre ohne den kalkulierten Überraschungseffekt, ohne den Krimi nicht Krimi ist. Was hier aufgedeckt wird, Greenes „human factor“, weckt nur ganz am Rande das, was ich Interesse nennen möchte.
Ich komme damit zu einer merkwürdigen Einsicht. Ich lese ein solches Buch im Grunde garnicht als Literatur, seine literarischen Kennzeichen und Mittel erscheinen mir beiläufig. Ich nehme das literarisch Mitgeteilte dieses Buchs auf wie Nachrichten, Mitteilungen aus der realen Wirklichkeit. Ich bewege mich darin wie in der Realität. Es besteht der gleiche Spannungsgrad wie gegenüber Geschichten, Verbindungen, Spannungen, die um mich herum ablaufen, angeknüpft werden, sich bilden. Gerafft natürlich zur Übersicht bestimmter Abläufe. Aber die Einsicht, das ist das Entscheidende, ist nicht die des Durchschauens, der Erkenntnis, der Erleuchtung, sondern die des Inderwaagegehaltenseins zwischen Anteilnahme und Desinteresse, das für mich die Beteiligung am sozialen realen Leben charakterisiert. Ich lese es, um den Mustern, die sich bereits in mir angesammelt haben, eine weiteres hinzuzufügen. Ich muß es nicht lesen.
Was ich hier am Beispiel von Graham Greene skizziert habe, läßt sich vielfach multiplizieren. Hat es schon gegolten für meine Lektüre etwa der Wahlverwandtschaften, des Lucien Leuwen, der Dämonen, des Grünen Heinrichs, des Schüdderump, Ut mine Festungstid, The golden bowl, Zauberberg, Sanctuary? Wenn ich eine solche Liste aufstelle, bemerke ich, daß ich die Frage in eine historische Dimension zu übertragen versuche, das quasi realiter Schreiben und das quasi realiter Lesen auf seine Entwicklung hin zu prüfen suche. Ich sehe, daß der dem Tages- und Lebenslauf nachgeahmte Fortgang der literarischen Verfahrensweise einmal tatsächlich literarische Qualität gehabt hat. Weil in der Nachahmung die überraschende Entdeckung lag, daß man Literatur so Fortgang nehmen lassen könne, daß literarischer Fortgang, Transport von Text am Beispiel realen Lebensverlaufs, Handlungsverlaufs einmal Einsicht in die subjektive und soziale historische Verfassung von Autor und Leser garantiert hat. Die Abfolge der Herzensnöte von Luden Leuwen, die unendlichen Redereien Raskolnikows oder der Gebrüder Karamasow waren bis ins letzte Detail aufzunehmen, weil nur sie im Fortgang des Textverlaufs deutlich machen konnten, worauf es ankam, wo der Leser in die Erkenntnis hineingetrieben wurde.
Schon wenn ich Henry James dagegen aufrufe, mehr aber noch Marcel Proust oder Robert Musil, sehe ich, daß hier der Transport nicht vom Ablauf der Realverläufe bestimmt wird, sondern von der unendlichen Diskussion der Realverläufe. Fortgang geschieht durch ununterbrochene, ununterbrechbare Erörterung. Rufe ich auf der anderen Seite Franz Kafka auf und alles, was danach kommt, sehe ich, wie gerade der Fortgang des Textverlaufs schwierig wird, wie an jedem Satz Abbruch und Stocken droht, wie gegen etwas gegenan geredet wird, wie der Fluß des Erzählens immer schon ins Bild des Allegorischen zu gerinnen droht, ja zu gerinnen sucht. Schließlich das, was als Konsequenz daraus abzuleiten ist. Finnegans Wake von James Joyce wie Auguste Bolte von Kurt Schwitters wie Two von Gertrude Stein, um nur diese drei Beispiele zu nennen, stehen für den Versuch, Textfortgang aus sich, aus der sprachlichen Verfahrensweise heraus zu bewirken. Das heißt, in der historischen Situation, wie immer sie zu interpretieren sein mag, in der das nachahmende Berufen auf Realverläufe nicht mehr Erkenntniswert besitzt, weil das Überraschungsmoment dieses Berufens längst ins Allgemeinbewußtsein eingegangen ist, wird der Fortgang des Textes bestimmt von den Bezügen und Beziehungen, die sich sprachlich und innertextlich entwickeln lassen.
Darauf die Probe gemacht zu haben, dies bis in die äußerste Konsequenz fortgeführt zu haben (bis an die Grenze nämlich, an der das zitatweise Aufnehmen früherer Nachahmung, als semantisch bestimmte Organisation von Textkomplexen, eine neue Funktion übernehmen könnte) ist ein Verdienst von Franz Mons Buch herzzero. Was bis dahin vor allem im Bereich überschaubarer Kurztexte entwickelt und demonstriert worden war, in der Form des in sich geschlossenen innertextlichen Ablaufs, fand hier eine Organisation, die nicht nur exemplarisch ist, sondern zurück wie voraus die gleiche Ausstrahlungskraft besitzt. Dies ist nicht ein Musterbuch möglicher Verfahrensweisen, wie etwa Siegfried J. Schmidts volumina, die gerade in dieser Hinsicht hinter Mon zurückgehn, sondern ein in sich strukturierter Textablauf von höchster literarischer Bezüglichkeit. In herzzero ist Erfahrung nach der Mitte des 20. Jahrhunderts umgesetzt in praktische, das heißt nicht theoretische, sondern literarische Redeform.
Die Problematik des Textfortgangs, die bestimmend ist für jede Literatur, die ihren Ablauf innertextlich entwickelt, wird sofort angesprochen:

fang einfach an
was
fang mich
du bist mir einer, fang du lieber an
ehe es überhaupt anfing
was „es“? „es“ kann alles möglich sein
ja, ehe alles mögliche anfing
das muß sehr lange her sein. ich erinnere mich kaum mehr
sie haben doch sonst ein so gutes gedächtnis
sonst wüßte man auch nichts davon
ich weiß auch nichts davon
auch nicht von stockbein
nein
von wem denn
von vornherein

In dieser zwischen innen und außen in der Schwebe gehaltenen Gegenrede ist kein Wort überflüssig. Fast wie improvisiert wird korrekt jeder Punkt angezeigt, der für das Anfangen im Text, und das heißt, für das Anfangen überhaupt, ein Anfangen von Null, ohne die Stütze der Konvention, von Bedeutung ist. Mon hat, um dem Fortgang sozusagen sein eigenes Tempo mitgeben zu können, eine Methode erfunden, die sich immer deutlicher als das Rückgrat der Textkonstruktion erweist, er führt seinen Text zweispaltig. Neben dem zitierten Anfang steht, wie eine Folie, der zweite Anfang:

ich weiß
weiß und weiß gesellt sich gern
was du weißt, macht mich nicht heiß
nichts ist so heiß, wie es gegessen wird
mach dir nichts weis
mach ichs nicht macht es ein anderer
ist überhaupt erst einmal was gemacht, kann wieder was gemacht werden
wird wieder was gemacht, wird mans schon merken
merkt man erst was, macht man auch was

Bemerkenswert, wie schon hier textliche Einzelstruktur und übergreifende Struktur des Verlaufs sich ergänzen, fast unauflösbar ineinander haken, wie zugleich zwischen den Spalten ein mitzulesender Dialog Spannungscharakter gewinnt, wie sich nicht nur linear Text entfaltet, sondern zwischen den Spalten die Andeutung von Textraum entsteht. Wobei dann sofort in der zweiten Spalte der zweite Einsatz beginnt:

fang einfach an
wen denn
es, wie man so schön sagt: „mit gott fang an, mit gott hör auf, das
ist der schönste“
du bist mir einer
bist du dir denn keiner
fang du lieber was an
zum beispiel

Hier wird nachgeholt, was im ersten Ansatz, auf Null gestellt, noch nicht einbezogen werden konnte, das ferne, sehr weit entfernte Zitat der metaphysischen Welterklärung. Im ironisch wirkenden Aufnehmen einer Redensart, eines Merkspruchs wird die Begründung gegeben, warum nicht mehr angefangen werden kann mit Vorgeschichte, Geburt und Geschichte. Als Gott noch der Fluchtpunkt war, auf den hin sich alles, wörtlich alles, bezog, war Anfang nicht schwer. Die ironische Färbung des Zitats wird aufgehoben in den Abbruch des Zitats. Nicht zu ergänzen ist: „der schönste tageslauf, sondern der schönste anfang“. Mitschwingt, daß Gott der schönste war, daß kein Problem des Anfangs und des Fortgangs bestand, als Gott dafür eintrat, mitschwingt aber auch im Übergang zur nächsten Zeile: „du bist mir ein schöner, das du bist mir einer“ mitfärbt.
Entscheidend für die traditionelle Erzählung, den traditionellen Roman waren die Handlungsmotive, war der Grad, in dem die Handlungs- und Entscheidungsmotive in die Tiefe des sozio-psychologischen Geflechts verankert werden konnten, das Erzählung und Roman repräsentierten. Erst daraus konnte der Text weiterbewegt, kann er bei Graham Greene heute noch bewegt werden. In der psychologischen und der soziologischen Differenzierung bestand der Fortschritt des Romans im 19. Jahrhundert. Bis Sprachgewohnheit selbst die Rolle dieser Motivation übernahm. Im Ulysses, so kann man sagen, kommen psychologische und linguistische Motivation auf den gleichen Nenner. Franz Mon hat in herzzero versucht, diese Frage auszukonstruieren. Er erörtert im Textablauf die Frage der Entscheidung, des Handelns selber, indem er eine Struktur der Möglichkeit entwickelt. In einer Passage der rechten Spalte treiben sich Sätze, die an den Wörtern „handeln“ und „verhandeln“ anknüpfen, aus ihnen assoziierbar und lautlich ablösbar sind, gegenseitig vorwärts, während in der Gegenspalte der Text schweigt. Die rechte Spalte führt zu dem Absatz:

einer ist mehr als keiner
wer zuerst kommt, wer da bleibt, wenn er zuerst kommt, wer sich festsetzt, wenn er dableibt, wer den mund aufreißt, wenn er festsitzt. wer die augen aufhat, wenn er den mund aufreißt. wer den mund hält, wenn er die augen aufhat

An dieser Stelle setzt der Text in der linken Gegenspalte ein:

befindet sich ein mensch in einem gestell, so kann er darin bleiben oder es verlassen, wenn es zugelassen wird. bleibt er, dann kann er warten und sonst nichts tun als warten, oder er kann warten und beim warten etwas tun.

Und parallel dazu rechts, gleichsam im Duett:

wenn zum beispiel nur einer in einem raum ist, kann er in dem raum bleiben oder hinausgehen. wenn er in dem raum bleibt, kann er warten und nichts tun, er kann aber auch warten und sich die zeit vertreiben oder sich nur die zeit vertreiben und nicht warten.

Daraus entwickelt sich nicht nur das ganze Feld der Erörterung der Möglichkeiten, in der Abfolge wird auch alles, was möglich ist, in seine textlichen Einzelaspekte hinein differenziert. Das heißt, im sprachlichen Material entfaltet sich ein Panorama, in das ich als Leser hineingehen, in das ich mich einfügen kann, das mir aber auch erkennbar entgegenscheint, das mir antwortet, wo ich auf Antwort stoße. Indem die Rede des Autors nicht nachahmend mir vorstellt, was ich an Bezugsrealität möglicherweise irgendwo vorfinden kann, sondern aus der Rede, die ich gemeinsam habe mit den Mitredenden, die für mich konkret Gesellschaft bedeuten, das Panorama der Bezeichnungsmöglichkeiten entfaltet, zeichnet er einen Horizont, unter den ich mich stellen kann.
Gegen Ende des Buches wird, als eine der Möglichkeiten, das gewaltsame Ende vorgeführt, Strick und Karabiner sind gleichberechtigte Schlüsselwörter. Diese Passage endet:

atemlos gelähmt eine sekunde seliger blutleere substanzlosen schwebens über dem sturmtief einer großen erregung welche die unaufhaltsame vergrößerung bewirkt

Während in der rechten Spalte die Zuschauer und Voyeure sich wie von selbst multiplizieren und in der Multiplikation wiederum ihre Verhaltensweisen vervielfältigt erscheinen, fährt der Text der linken Spalte fort:

nicht schwerer vorzustellen als jede andere denkbare aufeinanderfolge von ereignissen, wenn man berücksichtigt, daß das maß an unwahrscheinlichkeit mit der zunehmenden sprachlichen faßlichkeit abnimmt und also auch der schwierigkeitsgrad bei der ausführung des formulierten sich verringert, wenn man schon beim formulieren keine mühe gescheut hat, mag es auf den ersten blick verwirrend unübersichtlich, ja was schlimmer scheint, uneindeutig in der bestimmung der subjekte bzw. in der koordination der grammatischen und der realen subjekte erscheinen, weil nur von den ausgewiesenen grammatischen auf reale subjekte geschlossen werden kann, nicht umgekehrt, so schwer es einen auch ankommt.

Daß „nur von den ausgewiesenen grammatischen auf reale subjekte geschlossen werden kann, nicht umgekehrt“, das bezeichnet vielleicht den Kern dieses Werks. „So schwer es einen auch ankommt“: das bedeutet, daß es nicht selbstverständlich, daß es schon garnicht Willkür oder sich wichtig tuende Außenseiterei ist, die dazu geführt hat, sondern der Zwang der historischen Situation, der Zwang des Ausdruckswillens, der sich nicht mit nachahmender Selbsttäuschung zufrieden geben mag wie fast alles, was im Bereich der bundesdeutschen Literatur noch immer als repräsentativ gilt. Und wenn einmal einer der Einpeitscher solch repräsentativen Scheins als Einpeitscher bezeichnet wird, verteidigt ihn unmittelbar der Verleger, dessen geschäftliches Interesse am Einpeitschen der Scheinrepräsentativität nicht nur hängt, sondern auch noch darin blüht.
herzzero ist 1968 erschienen, Ergebnis einer zehnjährigen Arbeit. Es bezeichnet ziemlich genau eine Wendestelle. Aber Buch wie Erfahrung der Wende sind bis heute nicht in die Diskussion eingegangen. Die Diskussion, die öffentlich hörbar wird. Aber gibt es nicht noch eine andere, verborgenere, eine, die ich, über dieses Buch schreibend, in Gang zu halten versuche? Das Problem der Fortbewegung und der Strukturierung von Textmengen aus ihren eigenen textlichen Voraussetzungen heraus erweist sich als Entwurf einer praktisch sprachlichen Einsicht in die Voraussetzung der aktuellen historischen Situation. Eine Situation, in der, wie Ludwig Wittgenstein am Ende angedeutet hat, möglicherweise die einzige und wahre Transzendenz allein in der Sprache zu suchen ist, und von der Sprache her allein ist die Verlagerung des Horizonts möglich.
Gegen Ende von herzzero heißt es:

ich weiß, ich weiß es. ich weiß es ja.
ich weiß es ja längst. ich weiß es ja längst schon. ich weiß es
ja längst auch schon. ich weiß es ja längst auch schon selbst
was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß
nichts ist so heiß, wie es gegessen wird

wird erst gekaut, ist ein anfang gemacht, wie man so schön sagt:
fang an, hör auf, das ist der schönste lauf.

Das ist Antwort und Echo auf das Motto am Anfang des Buches:

weiß. ich weiß
ich weiß nicht
ich weiß: ich weiß nichts
weißt dus nicht, machts nichts
machst dus nicht, machts ein anderer
man vergißt das nicht so leicht
selbst wenn man es vergißt, kann man es sich leicht wieder ins gedächtnis
zurückrufen.

In der Vorbemerkung fordert der Autor Franz Mon den Leser auf, aktiv an der Endgestaltung des Textverlaufs mitzuwirken, zu streichen, zu verbessern, zu erfinden. In der möglichen eingreifenden Veränderung dessen, was der Autor als Textvorschlag anbietet, findet das Problem des Textfortgangs eine weitere Dimension und seine letzte, nun tatsächlich soziale Funktion.

Helmut Heißenbüttel, aus: Text + Kritik: Franz Mon – Heft 60, edition text+kritik, Oktober 1978

Antigrammatische Poetik und Poesie

– Zu neuen Büchern von Helmut Heissenbüttel und Franz Mon. –

I
Jene Tendenz, die das Nonkonforme dem Etablierten einverleiben möchte, ereilt um so heimtückischer den, der vermeint, ein für allemal der Konformität abgesagt zu haben. Das Festhalten und Verfolgen einer nichtkonventionellen Position erscheint über die Jahre hinweg selber als Konvention, erhält die Würde dessen, das immer schon da war. Über die wirkliche Rezeption ist damit noch nichts gesagt. Das Moment des Beunruhigenden wird vielmehr unter gängigen Kennmarken wie denen des ,mutigen Experiments‘ verbucht. Daß die sogenannten Experimentellen sich selbst gegen diese Klassifikation verwahren, hilft ihnen nicht, solange sie nicht erkannt haben, welche Macht der Integration gerade hinter dieser Bezeichnung steht. Als die Devise lautete ,keine Experimente!‘ durften sich ,abstrakte’ Maler und ,konkrete‘ Poeten des Anscheins von Radikalität erfreuen. So harmlos sind die Zeiten nicht mehr. Ähnlich der abstrakten Kunst verlor die experimentelle Poesie ihre Schrecken, seitdem Unbehagen und Irritation an handfesteren Inhalten sich entzünden konnten. Nachdrängende Autoren, ein Schwall von Pop- und Polit-Lyrik, ein neuer Realismus tun ein übriges. Äußerlichkeiten sind ein Indiz: gegenüber der kruden Buntheit aktueller Formen und Verlautbarungen entspricht die Aufmachung und Typographie von Heissenbüttels Textbüchern einem gewissermaßen zeitlosen Ideal von Modernität. Solche quasi klassischen Züge täuschen nicht darüber hinweg, daß zur kritischen Rezeption dieser Literatur erst Anfänge gemacht sind, welche die Neutralisierungen durch den literarischen Betrieb aufheben.
In dieser Situation ist es von Interesse, daß zwei der bedeutendsten Exponenten experimenteller Dichtung in jüngster Zeit einige zusammenfassende, wenn nicht gar abschließende Bücher vorgelegt haben. Helmut Heissenbüttel publizierte eine Auswahl seiner essayistischen und theoretischen Arbeiten unter dem so lapidaren wie anspruchsvollen Titel Über Literatur und ließ sein Textbuch 6 folgen: das letzte, das er veröffentlichen will. Franz Mon tritt mit zwei Büchern vor ein größeres Publikum, mit der Sammlung Lesebuch und seinem ersten umfangreicheren Text herzzero. Die Positionen sind deutlich geworden, die Gegenpositionen könnten an ihnen sich differenzieren. Begründete Entschiedenheit ist selten. Erich von Kahler nennt die heutige Avantgarde den „tristen Nachtrab der Kunst“ und sieht die Autoren dieser „grundstürzenden Theorien und Programme“ an die tradierten Kategorien von Sprache und Kunst gebunden; Elisabeth Endres dagegen meint von Heissenbüttels Essaybuch, es handele sich „um nichts Geringeres als um eine neue Theorie der Literatur, um eine Standortbestimmung, die, mit äußerster Sachlichkeit vorgenommen, für unsere Zeit typisch und wichtig ist“. Einig ist man sich darin, daß ein Zug zur Innovation und zur Theorie den Arbeiten Heißenbüttels wie der anderen experimentellen Autoren von Anfang an gemeinsam ist und daß diese Autoren über die obligate Werkstattreflexion noch hinausgehen: Theorie ist nicht bloß Voraussetzung, sondern immanenter Bestandteil der poetischen Praxis. Die Konvergenz von Theorie und Praxis, die auf ihre schließliche Identität zielen kann, muß reflektiert werden; dazu gibt Heissenbüttels Über Literatur erwünschte Gelegenheit.

(…)

IV
Wendet man sich den neuen Publikationen Franz Mons zu, wird die Berechtigung der gewiß fragwürdigen Kennmarke ,experimentelle Literatur‘ deutlich: Intentionen, Methoden und Resultate sind vergleichbar. Dabei ist Mon gelegentlich offener, ungeschützter als Heissenbüttel, aber eben darum auch faszinierender, liegen Abstrusität, Nonsens, sprachliche Spielwut deutlicher auf der Hand. Heissenbüttels Œuvre läßt sich, auch wo der Autor zurücktritt, immer noch unter so traditionellen Kategorien wie Autorschaft und Personalstil begreifen, Gemeinsamkeiten von Methoden, Stilmitteln wie persönlichen Vorlieben halten es zusammen. Franz Mon scheint darauf zu verzichten zugunsten eines gleichsam anonymen Feldes sprachlicher Versuche. Sein Lesebuch liest sich als Musterkarte aller experimentellen Tendenzen unseres Jahrhunderts, als Lesekompendium lettristischer, semantischer und syntaktischer Exerzitien samt ihren Mischformen.
Wie in Heissenbüttels ,Sprechwörtern‘ gibt es auch hier literarische ,minimal art‘:

veränderungen durch unauffällige hinweise durch geringfügige änderungen kumulation durch kleine änderungen.

Aber der Versuch, durch Manipulationen am Sprachmaterial, insbesondere den kleinsten Einheiten, Veränderungen des Bewußtseins deutlich zu machen, mißlingt immer dann, wenn diese Veränderungen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle dessen, was überhaupt relevant ist, liegen. Eine beliebige Irritation, ein winziges Knistern zwischen den Worten läßt sich mit einiger Anstrengung noch stets imaginieren, und sei’s am folgenden:

ein solcher mann
eines solchen mannes
einem solchen manne
einen solchen mann

solche männer
solcher männer
solchen männern
solche männer

Tritt die syntaktische Dimension ins Spiel, werden die Modelle komplexer und das Vexierspiel syntaktischer Verkehrungen und Verfilzungen ergibt differenziertere Resultate, gelegentlich auch Reminiszenzen an die Tradition. Beispiel dafür sind die „Sätze aus einem Satz“, eine Suite von sechs Texten mit gemeinsamem hypotaktischen Satzmodell, das variiert wird. Was Kafka in der Parabel „Auf der Galerie“ als zweischichtiges dialektisches Modell vorführte, wird bei Mon in einen eindimensionalen Sprachraum hineingenommen, in dem die Frage nach Schein und Sein gar nicht mehr auftaucht. In Text I verschlingt sich der Satz kettenhaft in sich selbst, ohne zur Lösung zu gelangen, und bildet einen Vorgang ab, der sich syntaktischer Überordnung entzieht und Realität und Potentialität ungeschieden nebeneinanderstellt. So stellen sich Interferenzen von Mikrorealismus und schwarzem Humor ein:

… dann leuchtet jedem ein, wie zweckmäßig es war, einen Draht durch die Zunge zu ziehen, dessen Ende dem Toten im Knopfloch hakt, so daß, wenn einer durch jenes schlechte Beispiel verführt, plötzlich den Rücken krümmen und die Beine an den Leib raffen sollte, um wie ein Ball zwischen den Kreuzen aus Sandstein und Gußeisen hangab und über die niedrige Kirchhofsmauer zu entspringen, er den Abgeschiedenen in leichtem, waagrechtem Flug hinter sich herzöge, ja die ganze trauernde Freundschaft zur Begleitung bekäme und alsbald schon von fröhlichem Aufhopsen keine Rede mehr sein könnte.

Nicht ohne Grund gehören wohl diese Texte, die ihren experimentellen Charakter weniger zur Schau als in sich tragen, zu den besten des Bandes. Um dem Zwang zur systembedingten Perspektive zu entgehen, muß man das grammatische System nicht unbedingt zerstören; wer es, wie Mon, überspielt, kommt augenscheinlich weiter. Die wuchernde Syntax gebiert Fabeln:

sätze als fabeln fabeln wegen der Sätze fabeln aus sätzen als ob fabeln im entstehen fabeln im vorbeigehen fabeln zum vergessen.

Dem Programm entspricht die Praxis. Zwischen Satz und Fabel besteht Interdependenz.
Der Schritt vom Wort zum Satz, vom Satz zur Fabel verlangt nach Fortsetzung in einer sprachlichen Großform. Eine Art Epik wird denkbar, die sich nicht auf die reale, sondern auf die sprachliche Zeit richtet. Unter der Prämisse der Ausdehnung des sprachlichen Materials wird die Frage nach den Organisationsprinzipien akut. Franz Mon hat in herzzero nicht bloß die Konsequenz aus seinen syntaktischen Versuchen gezogen, sondern nach diesem Formprinzip gesucht. Seinem Ansatz entsprechend sucht er es nicht im epischen Stoff, sondern in den Bedingungen der Sprache. Die Idee eines Romans ganz aus Sprache ist, wie man weiß, nicht neu; neu ist die Wendung, die Mon ihr gibt.
Herzzero bietet sich als Text in zwei parallel laufenden Fassungen an, die in Analogie zur Musik fugenhaft versetzt sind. Beide Stränge gelten als gleichberechtigte Versionen eines ,idealen‘ Textes, den der Autor nicht liefern konnte oder wollte. Seine Mutmaßungstechnik bezieht sich nicht auf die vorfindliche Wirklichkeit, sondern auf das Instrument Sprache. Dieses Dilemma sprachlichen Erkenntnisvermögens möchte Mon als sokratisches „Schweben zwischen Wissen und Nichtwissen“ verstanden sehen. Er geht so weit, dem Leser die Ergänzung des Textes anzuvertrauen, indem er ihn ermuntert, mit Kugelschreiber und Filzstift darin herumzukorrigieren. Diese Offenheit zum Leser erklärt auch, warum Mon auf das Zusammenkomponieren beider Stränge verzichtet hat. Ihre Simultaneität ist nicht dem Kalkül unterworfen, sondern lebt von Zufallsreizen.
Herzzero ist kein Roman, oder ein solcher, dessen ,Held‘ die Sprache ist. Während die epische Selbstentzündung, jener Geist der Erzählung, der die Glocken läutet, eine epische Welt aufbaut, deren fiktiver Charakter aufgehoben werden soll, läßt es Mon zur fingierten Realität gar nicht mehr kommen. Der Realitätsgehalt einer jeden Szene wird durch wuchernde Assoziation und Verkettung der Sprachmotive sogleich aufgehoben. Der Autor tastet sich an Worten weiter, und was er in der Hand hat, ist nicht Welt, es sind immer nur neue Worte. „Wer hätte gedacht, daß / es so viele Wörter gibt“, ruft uns der Autor zu, und seine Verwunderung soll auch die des Lesers werden. Alles ist Anlaß, den Wortfluß weiterzubewegen, literarische, redensartliche, historische Anspielungen, der Bismarck-Hering, das Goethezitat, der Schlieffenplan; die Aura von Bedeutung, die den Worten aus ihrer Geschichte her anhängt, wird freigesetzt und disponibel für die Zwecke eines absoluten Wort-, Bild- und Satzballetts. Ein sprachlicher Exzess, dessen Spielwut alles übertrifft, was in der deutschen Literatur seit Arno Holz möglich schien. Die Totalität der Möglichkeiten läßt jede einzelne kaum zur Geltung kommen. So ist das Zitieren einzelner Partien fragwürdig, weil Kategorien wie Repräsentanz oder Signifikanz kaum noch anwendbar sind. Zeitgeschichtliche Anspielungen liegen auf der gleichen Ebene wie Kinderreime :

spielen wir was
(…)
dann wie wärs mit hindenburch
vorneburch
wie geht denn das
also einer macht die beine breit und
guckt hindurch, der andere kommt
(…)
undsoweiter, bis einem die spucke
wegbleibt
und dann
kommt hiddler
wer ist das denn
auch so ein spiel
auch so schön
noch lustiger, so ähnlich wie haschen
in der grube.
(…)

Auf gelegentlich faszinierende Weise demonstriert Franz Mons herzzero die Möglichkeiten einer Literatur, die sich dem absoluten Sprachspiel verschreibt. Was bei Heissenbüttel skelettiert und reduziert erscheint, positivistisch und bürokratisch, erweckt hier den Eindruck der Fülle und Vitalität kraft eines einzigartigen Kombinationsvermögens und einer stupenden Sprachphantasie, durch seine Formlosigkeit aber auch den eines furiosen Quodlibets. Keine Frage, wo das Vergnügen des Lesers auf seine Kosten kommt. Wenn das Reservoir der Sprache dermaßen geplündert und zugleich bereichert wird, stellt sich die Frage nach den Konsequenzen dieses Tuns. Zunächst hat die Verfremdung der Wörter durch den absoluten, dislozierenden Gebrauch etwas Befreiendes und Erheiterndes. Wo aber diese Distanz zur Beladenheit und Beflecktheit der Wörter nicht zur Reflexion dieses Verhältnisses führt, wo das Spiel also den kritischen Impuls überlagert, wird das schlechte Gewissen, das die Wörter mit sich führen, in der Emphase eines ziellosen Staunens aufgelöst und das Spiel kulinarischer Selbstzweck.
Sprache und Welt, Kunst und Gesellschaft werden auch in den theoretischen Äußerungen als unvereinbar bestimmt. So spricht Mon von der „Unversöhnlichkeit zwischen einer experimentellen Kunst und einer Gesellschaft, die im ganzen konformistisch sein muß“, aber die Regung von Kritik wird sogleich zurückgenommen in der Behauptung, der theoretisch-praktische Realitätsvorgang verlaufe in seinem eigenen Problemgefüge und lasse eine Beeinflussung nicht zu. Was sich als realistische Einschätzung der Verhältnisse gibt, ist doch nichts anderes als eine Vorentscheidung, die es zur Probe auf die Theorie nicht erst kommen läßt. Es geht weniger um die Chancen realer Veränderung durch Kunst als darum, ob Poesie, die sich aufs Spiel zurückzieht, noch auf kritischer Unversöhnlichkeit bestehen kann. Das Idol eines durch Spiel „volldimensionierten Menschen“, wie es Franz Mon offeriert, verträgt sich jedenfalls nur zu gut mit dem praktischen Quietismus, der das Geschäft, die Wirklichkeit zu beeinflussen, ändern überläßt. Wenn sich Avantgarde solcherart als Appendix einer konformistischen Gesellschaft versteht, ist die Unversöhnlichkeit nur Pose, die die längst vollzogene Integration nicht verdeckt.

V
Dem Prozeß der Neutralisierung durch die Gesellschaft entspricht jener der Abnutzung der ästhetischen Impulse, das Altern der experimentellen Poesie. Die Reflexion der Grundlagen, die Abkehr vom traditionellen Formenkanon, das antisubjektive Moment – all das ist längst auch Konvention geworden, in die Lyrik der letzten Jahre eingegangen oder von ihr parallel dazu entwickelt worden. Was von den ,Experimentierern‘ zu lernen war, zeigt sich, paradox genug, am deutlichsten bei ihren Antipoden, den engagierten Lyrikern. Allerdings sind hier die Reduktionen, Rekapitulationen, Kombinationen nicht Zweck, sondern Mittel und haben dementsprechend eine diametral andere Funktion: den Bezug zur Praxis des Menschen herzustellen.
In den fünfziger Jahren war die Betonung der strukturellen Eigenbewegung der Sprache, wofür Heissenbüttels frühe Veröffentlichungen einstehen, ein Verdienst; 1961 etwa konnte die These, „daß Literatur aus Sprache besteht“, nur mehr als Banalität gelten, die zu Mißverständnissen einlud; heute hat dieser Satz seine provozierende Kraft eingebüsst und muß als Vorentscheidung gelten, die den Autismus des Sprachspiels vor den Interessen der Leser rechtfertigt. Freilich rechnet diese Literatur mit Lesern, die, gleich den Autoren, auf solches Interesse zu verzichten gelernt haben. Literatur, die „es mit nichts anderem als mit Sprache zu tun hat“, verzichtet auf Erkenntnisse, die ihr aus andern Quellen zufließen könnten. Heissenbüttel wie Mon setzen auf ihre Weise eine Tradition fort, die in der Verabsolutierung der Sprache den Wörtern alles Heil und Unheil der Menschheit auflastet. Diese Praxis ist um so mystischer, je mehr der aktuelle und reale Bezug der Wörter zu den Sachen aufgehoben wird. Das Mißverständnis, dem Karl Kraus auf durchaus direkte und engagierte Weise Tribut zollte, wiederholt sich unter avantgardistischen Vorzeichen. Der Glaube, man brauche eigentlich bloß die Wörter richtig zu setzen, um die Welt und den Menschen zu verändern, ist so ehrwürdig wie falsch. Heissenbüttel setzt ihn spekulierend fort:

Mein Einfall wäre die in der Wahrscheinlichkeitsrechnung der Jahrtausende Sprachgeschichte noch nicht vorgekommene neue Kombination, die, einmal an einer noch so nebensächlichen Stelle angebracht, die Vibration des ganzen Netzes beeinflußte. Dies allein (!) wäre die Folgerung, die aus der Feststellung gezogen werden müsste, daß Sprache allgemein und gesellschaftlich ist.

Aber das Netz vibriert nur dann, wenn Menschen in der Kombination von Wörtern etwas erkennen, das ihre substantiellen Interessen betrifft, wenn mit den Wörtern eine neue Sache benannt worden ist.
In solchen Kombinationen, die das Netz vibrieren lassen, und mehr als das, waren Marx oder Nietzsche den Dichtern wohl überlegen. Sprachliche Experimente bleiben als Experiment folgenlos, wenn sie Resultate bloßer Kombinatorik sind. Entgegen den Intentionen ihrer Benutzer führen absolut gesetzte Techniken nicht zu neuen Erfahrungen, sondern verhindern Erfahrung überhaupt. Die Verfügung über das Sprachmaterial läßt wohl den Rückgriff, die Wiederholung zu: aber im Zitat werden nur mehr die Wörter aufgerufen, nicht mehr die Erfahrungen, an die sie erinnern könnten. Emotionale Erfahrung denunziert sich als Sentimentalität, geschichtliche wird im Kindervers verspielt.
Ist also der Ansatz der experimentellen Poesie, wie man uns glauben machen will, irreversibel und derjenige, der gegen eine von Erfahrung und Leiden gereinigte Sprachwelt opponiert, ein Reaktionär? Soviel ist sicher, daß sich die Bücher vor den Menschen zu rechtfertigen haben und daß dort, wo Theorien zu Doktrinen werden, die Umkehr der erst Schritt nach vorn ist.

Harald Hartung, Neue Rundschau, Heft 3, 1968

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Ernst Jandl: „herzzero“
Wort und Wahrheit, 1968

Urs Widmer: Kein Meister ist von selbst in den Himmel gefallen
Die Zeit, 11. 5. 1968

Ludwig Harig: Wörter zum Festhalten
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 7. 1968

Franz Schöler: Destruktion durch Widersprüche
Echo der Zeit, 1. 9. 1968

Heinz Thiel: Aufruf zur Manipulation
Tages-Anzeiger, 10. 5. 1969

 

 

Franz Mon und der Zufall – „Ja, ich werde wach…“

Am 20.11.2012 war in der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik eine Legende der Avantgarde zu Gast in der Literaturwerkstatt Berlin: Franz Mon. Mit Michael Lentz sprach er über sein Werk.

 

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Karl Krolow: Orpheus ohne Leier
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.1986

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Jörg Drews: „Der Sprache schlaue Fallen stellen“
Stuttgarter Zeitung, 6.5.1996

Harald Hartung: Staunen über die vielen Wörter
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.1996

Karl Riha: MON ist sein NOM
Frankfurter Rundschau, 6.5.1996

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Sandra Kegel: Der Entfesselungskünstler
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.5.2016

Michael Lentz: Im Käfig der Freiheit
Süddeutsche Zeitung, 5.5.2016

JF: Wort-Feinkost zum 90. von Franz Mon
Buchmarkt, 25.5.2016

Zum 95. Geburtstag des Autors:

Claus-Jürgen Göpfert: Das Haus aus Sprache, an dem er lange baut
Frankfurter Rundschau, 3.5.2021

Christoph Schütte: Das Gras wies wächst
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.6.2021

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Franz Mon beim Festival PROPOSTA 2004 in Barcelona.

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