Die wir ferner als die ungezählten Sterne
unsere Kreise zogen auf entlegenen Planetenbahnen –
O daß nicht ungehört
uns das Wort, das wir liebten, entgleite.
Vielleicht zeugt irgendwo
auf unzugänglichem Gelände
noch ein Fußabdruck, eine Narbe im Gras
von den Spuren derer, die hier gingen
und eure Lieder sangen.
– Editorische Nachbemerkung. –
Die Gedichte von Hans Sahl herauszugeben, muss als eine einmalige Gelegenheit angesehen werden. Dem Autor hat sich zu seinen Lebzeiten diese Chance nicht eröffnet – obwohl er am Ende seines langen Lebens die Anerkennung entgegengebracht bekam, die er schon viel früher verdient hätte. Dennoch wurde ihm diese Gelegenheit nicht eingeräumt, und auch nach seinem Tod hatten sich die weitreichenden Pläne einer Edition seines Werks, darunter auch seiner Gedichte, bald zerschlagen. Es hatte den Anschein, als würde der Schatz seiner Gedichte nie gehoben werden. Diese Chance aber bot sich mit dieser Ausgabe. Der ganze Reichtum von Sahls Gedichten kann endlich publiziert werden. Allerdings waren die Schwierigkeiten, dieses Projekt im Einzelnen zu realisieren, keineswegs gering.
Als Erstes mußten wir, Nils Kern, Kenner und engagierter Verwalter des Werks von Hans Sahl, und ich, uns eine genauere Vorstellung davon machen, welche Gedichte von Sahl bereits veröffentlicht waren und welche darüber hinaus das erste Mal zu veröffentlichen sind. Jeder von uns – und zwar unabhängig vom anderen – war in den Jahren zuvor auf Gedichte des Autors gestoßen, die Sahl publiziert hatte, die aber nicht in den beiden Bänden enthalten waren, die in dessen letzten Lebensjahren erschienen sind. Darüber hinaus waren wir an Gedichte des Autors gelangt, die bisher noch nirgendwo veröffentlicht worden waren. Diese Zufallsfunde bestärkten uns in unserer Ansicht, zusammen mit einer genaueren, aber noch nicht ins Detail gehenden Kenntnis von Sahls Nachlass in Marbach, daß es von Sahl über die Gedichte hinaus, die in den beiden Sammlungen Wir sind die Letzten und Der Maulwurf Eingang gefunden haben, noch viele andere Gedichte geben wird, die in diese Edition seiner Gedichte aufgenommen werden müssten.
Bei den ersten Nachforschungen stellte sich bei mir dann eine hartnäckig sich haltende Idee ein. Es müsste doch möglich sein, dachte ich, die Biographie von Hans Sahl anhand seiner Publikationen zu schreiben, und insbesondere die Veröffentlichung seiner Gedichtbände gäbe bestimmt einen geradezu intimen Aufschluß darüber, wie sein Leben verlaufen ist. Wenn es gelänge, nur genau genug auf die jeweilige Auswahl der Gedichte, auf den Verlag, den Ort, die Zeit und die Begleitumstände der Publikation einzugehen und dann davon zu sprechen, wer an diesen Publikationen beteiligt war und sie überhaupt erst ermöglicht hat und welches Verhältnis Hans Sahl zu alledem hatte, dann müsste sich Sahls Biographie von einem wichtigen und zugleich hochproblematischen Aspekt seines Lebens entschlüsseln lassen…
Diese Idee übte, wie gesagt, einige Zeit eine gewisse Faszination auf mich aus, und als ich sie probeweise etwas näher zu verfolgen begann und mir überlegte, wie sie realisiert werden könnte, stellte ich fest, dass sich auf diese Weise nicht nur viel Erhellendes über Hans Sahls Leben herausfinden ließ. Vor allem, und für die Herausgabe dieses Bandes außerordentlich hilfreich war, daß auf diesem Weg eine Menge darüber in Erfahrung gebracht werden konnte, wie Hans Sahl an Gedichten arbeitete und auf welche Weise er mit sich bietenden Veröffentlichungsmöglichkeiten umging.
Historisches
Als erstes Buch veröffentlichte er 1942 den Gedichtband Die hellen Nächte. Daß dieser Gedichtband erscheinen konnte, muß, von heute aus gesehen, als etwas Einzigartiges betrachtet werden. Sahl hatte bereits 1933 Deutschland verlassen. Nach einem längeren Aufenthalt in Frankreich kam er nach Amerika – ein Fluchtweg, den außer ihm auch andere Emigranten genommen hatten. In New York hätte er froh sein können, daß ihm die Flucht geglückt war und er sein Leben in Sicherheit bringen konnte. Das war viel und nicht allen zur Emigration gezwungenen Autoren vergönnt gewesen. An Publikationen zu denken und dazu noch an das Veröffentlichen von Gedichten und dies darüberhinaus in deutscher Sprache war ein Luxus, dem man sich besser nicht hingab. Dieses Nachdenken spielte mit Möglichkeiten, die es im Prinzip nicht gab.
Dennoch, Hans Sahl begnügte sich keineswegs damit, sich die Ausweglosigkeit seiner Lage vor Augen zu führen und auf alle weiterführenden Überlegungen zu verzichten, ob er nicht doch vielleicht einen Verlag für seine Gedichte finden könnte. Der Autor gehörte zu den Beweglichen unter den Emigranten. Er versteckte sich keineswegs mit seinen Arbeiten, sondern setzte sich für sie ein und fand auch Mitstreiter, die von seinen Versen ebenfalls angetan waren und das Abenteuer in Gang setzten, ein Buch daraus zu machen. Sahl konnte in der Emigration seine Arbeitsfähigkeit bewahren und auch die Entschlossenheit, mit seinen Gedichten an die Öffentlichkeit treten zu wollen. Darin bewies er eine eigene und unter den exilierten Autoren nicht häufig zu beobachtende Stärke.
Gleichwohl ging der Verlag ein Wagnis ein, als er sich dazu entschied, Sahls Gedichte in sein Programm aufzunehmen. Dieses Wagnis wurde auch dadurch nicht wesentlich geringer, daß sich zu dieser Zeit in New York ein größerer Kreis von Deutsch sprechenden Emigranten aufhielt. Immerhin konnte davon ausgegangen werden, daß sich unter diesen Emigranten prozentual mehr Personen für Literatur interessierten, als das in anderen Bevölkerungsgruppen in Amerika der Fall war. Diejenigen, die sich in dieser deutschsprachigen Minderheit dann noch für Gedichte interessierten, mußten nochmals als eine Minderheit in diesem ohnehin schon kleinen Kreis angesehen werden. Auch von dieser Seite her zeigt sich, welches große Glück Hans Sahl mit der Publikation seines Gedichtbands Die hellen Nächte zuteil wurde.
Allerdings, und das zeigt dieser Band auch, hatte er mit dessen Veröffentlichung nicht einfach nur Glück. Seine Gedichte waren als Gedichte überzeugend. Barthold Fles, der Verleger dieses Buches, wurde nicht zu dessen Publikation gezwungen. Er hat sich für Sahls Gedichte entschieden, und er hat das getan, obwohl es Gedichte waren und er sich darüber im Klaren war, dass er mit deren Veröffentlichung ein größeres Risiko eingehen würde, als wenn er den Roman eines begabten und nur mit Feuilletons und einzelner Prosa in der fernen Heimat hervorgetretenen Emigranten herausgebracht hätte. Er kam zu seiner Entscheidung aus literarischer Überzeugung heraus.
Nun könnten wir uns weiter in die Details von Sahls erster Buchpublikation vertiefen, für die Herausgabe seiner Gedichte ist es aber wichtig, auf einen anderen Aspekt einzugehen: was diese Publikation über die Schreibsituation von Hans Sahl preiszugeben in der Lage ist. Wenn wir von 1942 aus bis 1902, Sahls Geburtsjahr, zurückrechnen, dann kommen wir zu dem Ergebnis, Sahl war bei Erscheinen seines ersten Buchs bereits 40 Jahre alt. Sicher ist auch davon auszugehen, dass Sahl seine Gedichte bestimmt gerne viel früher publiziert hätte – und daran ändert auch eine andere Sichtweise auf Sahl nichts: er gehörte zu den skrupulös schreibenden Autoren. Gemeint ist damit: Der Autor muß langsam und zusätzlich durch Zweifel an seinem Schreiben verzögert gearbeitet haben. Eindrucksvoll beschreibt er in den Memoiren eines Moralisten, welche Mühe ihm gelegentlich die Arbeit an Filmkritiken bereitete. Noch im Taxi überarbeitete er letzte Passagen und war manchmal damit noch nicht zum Ende gekommen, als er die Redaktionen der Zeitungen betrat, die diese Texte bei ihm bestellt hatten. Anfang der 1940er Jahre wird er dennoch über mehr als Gedichte für einen einzigen Band verfügt haben.
Daraus lassen sich klare Rückschlüsse auf die Schreibsituation von Hans Sahl ziehen. Er schrieb Gedichte für die Schublade, und das war der Fall, seit er Deutschland verlassen hatte. Wie genau es sich in den Jahren zuvor verhalten hatte, läßt sich nicht sagen. In dieser Zeit konnte er Gedichte veröffentlichen, tat das auch und vermochte sich mit diesen wenigen Veröffentlichungen in der großen Menge der damals aktiven Autoren rasch einen Ruf als bedeutender Lyriker erwerben. Dennoch konnte er sich trotz des Erfolgs nicht die Position eines Autors aufbauen, der alle seine Gedichte gedruckt bekam. Er arbeitete also auch in den Anfängen bereits auf Vorrat hin, von dem er nicht wußte, wann er davon Gebrauch machen würde, und nachdem er sich im Ausland aufhielt, hatte sich diese Schreiben auf vollkommen ungewisse Publikationsmöglichkeiten hin noch weiter verschärft. Wann je eines seiner Gedichte gedruckt werden würde, war nicht abzusehen.
Dennoch war für Sahl das Schreiben von Gedichten von derart großem Gewicht, daß er sich durch das Fehlen von Publikationsmöglichkeiten nicht davon abhalten ließ, Kraft und Energie in das Schreiben von Versen zu stecken. Er tat das und, ohne seine Lage zynisch beschreiben zu wollen, fand er für das Schreiben von Gedichten eine gute Arbeitssituation vor: Er konnte das schreiben, was er schreiben wollte, und er mußte sich dabei keinem von außen kommenden Druck ausgesetzt fühlen. Was er schrieb, war seinem Belieben und seinen poetischen Vorstellungen überlassen.
Keine Frage, die Beschreibung von Sahls Arbeitssituation klingt besser, als sie faktisch war. Es darf nicht vergessen werden, Sahl mußte für sein Überleben sorgen und das Schreiben von Gedichten konnte ihm dabei wenig Hilfe bieten. Er gestattete es sich trotz der Zwänge, denen er sich ausgesetzt sah, wenn er auf Dauer in New York überleben wollte…
Bevor wir aber genauer auf den Zustand der Manuskripte eingehen, die im Nachlaß zu finden waren, wollen wir uns die Lage vergegenwärtigen, in der sich Sahl bei Erscheinen seines zweiten Gedichtbands befunden hat. 1976 erschien das Buch Wir sind die Letzten, und zu dieser Zeit war Sahl bereits in einem Alter, in dem andere Autoren von seinem Rang bestimmt nicht erst dem Erscheinen ihres zweiten Gedichtbands entgegen gesehen, sondern auf ein publiziertes Werk von erheblich größerem Umfang hätte zurückschauen können. Hans Sahl war damals aber bereits 74 Jahre alt und hätte eigentlich kein unbekannter Autor mehr sein dürfen. Er war ein renommierter Kulturkorrespondent in New York und hatte mit viel Applaus darüber hinaus Theaterstücke u.a. von Thornton Wilder, Tennessee Williams und John Osborne übersetzt. Dennoch blieb er als belletristischer Autor weitgehend unbekannt und war bis auf einen verschwindend kleinen Kreis, dem sein Name geläufig war, selbst von den Kennern der literarischen Emigranten-Szenen überhaupt erst zu entdecken. Diejenigen, die sich für die Veröffentlichung des Gedichtbands Wir sind die Letzten stark gemacht hatten, konnten ganz zu Recht von sich behaupten, sie hätten einem bedeutenden Autor wieder zu Aufmerksamkeit im Literaturbetrieb verholfen – eine Pioniertat und literarische Leistung, auf die sie stolz waren.
Nun wäre es falsch, wenn wir davon ausgehen würden, daß Lyrikern die Texte aus der Hand gerissen werden und Hans Sahl von dieser Begeisterung für Gedichte ausgeschloßen gewesen wäre. Die Schreibisolation war aber in Hans Sahls Fall ausgeprägter als bei anderen Lyrikern. Mit Schreibisolation ist gemeint, daß er von Publikationsmöglichkeiten abgeschnitten war und Gedichte schrieb, ohne sich dabei eine konkrete Hoffnung auf Veröffentlichung machen zu können. Sicher wird ihm der erste Gedichtband und der eine oder andere kleinere Abdruck eines Gedichts in einer Zeitschrift Auftrieb gegeben und ihn in der Überzeugung bestätigt haben, daß sich vielleicht doch einmal die Chance ergeben wird und er seine Gedichte gesammelt erscheinen lassen kann. Wenn sich bei ihm aber die Idee zu einem neuen Gedicht einstellte und er an die Ausarbeitung dieser Idee ging, dann tat er das, ohne einen Abnehmer für das Gedicht zu haben. Diese Arbeit muß ihm als solche wertvoll erschienen sein, und das im Prinzip ein Leben lang. Genauer: 74 Jahre lang (wenn wir bis zum Erscheinen des Akademie-Bandes rechnen) und 34 Jahre nach seiner ersten Buchveröffentlichung – Zeitspannen, die, selbst wenn wir weniger großzügig rechnen und die Jahre der Kindheit und Jugend abziehen, die Dauer eines erwachsenen Lebens haben.
Das Reservoir
Natürlich könnten wir an die Publikation dieses Gedichtbands noch eine größere Anzahl weiterer Beobachtungen knüpfen. Beispielsweise die, daß Sahl allen Grund gehabt hätte, sich als doppeltes Opfer der Nazis zu sehen: Zuerst wurde er außer Landes gedrängt mit allen damit verbundenen Folgen. Dann hatte er nach 1945 ein zweites Mal das Nachsehen, weil die durch die historische Schuld diktierte Beschäftigung mit der Geschichte eine große Portion an Verdrängung und Aufmerksamkeitsverlust mit sich brachte und er als ein Autor der Emigration darunter ein zweites Mal litt. D.h. zunächst nicht wahrgenommen worden zu sein. Ein weiteres Mal hatte er Pech, als die emigrierten Autoren in den späten 1970er Jahren endlich entdeckt wurden: Damals paßte er nicht in das ideologische Wahrnehmungsspektrum… Wie auch immer die Verhältnisse im Einzelnen beschaffen waren, das äußerst zurückhaltende Interesse an seinen Arbeiten – und das über Jahrzehnte – ließ ihn einen speziellen Arbeitsstil kreieren. Er schrieb nicht nur für die Schublade, an einigen seiner Gedichte hat er die Arbeit auch nicht zu einem definitiven Ende gebracht, bzw. viele seiner Gedichte liegen in verschiedenen Fassungen vor.
Sahl kehrte immer wieder zu seinen Manuskripten zurück. Er verfolgte offenbar zwei Schreibstrategien: Wenn sich die Idee zu einem neuen Gedicht einstellte, dann begann er diese Idee weiter zu verfolgen und sich in einen Schreibprozess hineinzubegeben, der anscheinend länger dauerte. Er kehrte aber auch zu bereits existierenden Gedichten zurück und setzte entweder die Arbeit daran fort oder begann, selbst wenn er die Arbeit an einem Gedicht bereits als abgeschlossen sah und er von diesem Gedicht eine Reinschrift angefertigt hatte, doch nochmals mit dessen Umarbeitung und erstellte eine neue Fassung.
Wenn man so will, befand sich Sahl, wenn er Gedichte schrieb, tatsächlich in einer literarisch ausschließlich auf die Literatur bezogenen Position. Er mußte nicht daran denken, wie seine Gedichte in den jeweiligen politischen Situationen wirken könnten, weil er sich in vielen Fällen sicher sein konnte, daß die politische Situation eine andere sein wird, bevor eines seiner Gedichte erscheinen würde. Er konnte sich also darauf konzentrieren, den poetischen Ausdruck erreichen zu wollen, der ihm vorschwebte, und im Ausführen dieser Aufgabe das Ziel seiner Arbeit zu sehen.
Das hatte nicht nur zur Folge, daß es von einzelnen Gedichten mehrere Fassungen gibt. Im Ergebnis macht noch etwas große Schwierigkeiten: die Gedichte zu datieren. Damit ist nicht nur gemeint, daß sich gelegentlich nur schwer ein genaues Entstehungsjahr rekonstruieren läßt, damit soll auch auf eine andere Eigenart von Sahls Gedichten angespielt werden: Daß sich viele von ihnen lesen, als hätten sie überhaupt kein bestimmtes Entstehungsdatum.
Das kann selbstverständlich nicht der Fall sein, aber anscheinend hat Sahl über Jahrzehnte einige seiner Manuskripte immer wieder hervorgezogen und die Arbeit daran fortgesetzt. Das Ergebnis ist insofern irritierend, als Motive aus frühesten Gedichten in späten Versionen wieder auftauchen und bei frühen Gedichten etwa der Eindruck entsteht, als hätte er beispielsweise bereits Erfahrungen in der Emigration gesammelt, bevor er sein Land überhaupt verlassen hatte. Und vielleicht ist in dem immer wieder neuen Bearbeiten seiner Gedichte der Grund dafür zu finden, daß einige von ihnen in gewissem Sinn einen universellen Eindruck verströmen. Durch das stete Zurückkehren zu den Manuskripten und das Fortsetzen der Arbeit daran, sind offenkundig Erfahrungen aus verschiedenen Lebensabschnitten in diese Gedichte eingearbeitet worden. Sie haben sich damit aus einem eindeutig beschreibbaren Entstehungszusammenhang gelöst und müßen mehreren Schreib- und Erfahrungssituationen zugeordnet werden.
Für die Herausgabe bedeutete diese Art des Arbeitens: Wir hatten es mit einem großen Reservoir von Gedichtmanuskripten zu tun – das der Autor glücklicherweise bereits benutzt hatte.
Dreimal hatte Hans Sahl diesem Reservoir Gedichte entnommen: als er die beiden Gedichtbände Die hellen Nächte (1942) und Wir sind die Letzten (1976) veröffentlichte und, 1992 kurz vor seinem Tod ein weiteres Mal. Damals wurde ihm von Luchterhand die Möglichkeit eingeräumt, zusammen mit der Neuveröffentlichung des Bands Wir sind die Letzten, einen zweiten Band mit Gedichten zusammenzustellen und mit dem zuerst bei der Akademie in Darmstadt erschienenen Band zu veröffentlichen. 1992 entstand der Band Der Maulwurf, der niemals eigenständig publiziert worden ist.
Grundsätzlich aber änderte sich durch diese Bücher nichts daran, daß in diesem Reservoir die Gedichte Sahls zu finden waren, die potentiell für eine Veröffentlichung infrage kamen. Es waren durch diese Veröffentlichungen nur weniger Gedichte geworden als in den 1970er Jahren noch in diesem Pool enthalten waren. Bei weitem waren aber noch nicht alle seine Gedichte veröffentlicht worden.
Zur vorliegenden Ausgabe
Darin sahen wir als Herausgeber auch eine Hauptaufgabe unserer Arbeit: jene Gedichte zu suchen und zu finden, die noch unveröffentlicht in Sahls Manuskript-Fundus lagerten. Dazu zählten auch die Gedichte, die als einzelne veröffentlicht wurden und zum großen Teil wieder in eine Vergessenheit zurückgefallen sind, als ob sie noch überhaupt nicht veröffentlicht worden wären. Dieser Vollständigkeitsgedanke ergab sich als naheliegende Konsequenz aus den gewaltigen Hindernissen, die Sahl beim Veröffentlichen seiner Gedichte in den Weg gelegt wurden, und dieser Gedanke ergab sich auch aus früheren, flüchtiger gebliebenen Einblicken in den Nachlaß von Hans Sahl. Relativ schnell stieß man selbst bei oberflächlich bleibenden Recherchen auf unveröffentlichte Texte des Autors und fühlte den Wunsch wachsen, das verborgene Leben dieser Texte im Archiv zu beenden.
Welche Gedichte aber veröffentlicht werden sollten und welche Texte sich zur Publikation in einer Lese-Ausgabe nicht eigneten, musste im Einzelfall entschieden werden. Welche speziellen Schwierigkeiten dabei zu lösen waren, ergab sich aus Sahls isolierter Schreibsituation und der Konsequenz daraus: daß er seine Texte sammelte und er Endfassungen von Texten erstellte, wenn sich dafür eine glückliche Stunde bot.
Auf die Suche machten wir uns zunächst nach Sahls veröffentlichten Gedichten. Die drei publizierten Gedichtbände bildeten dabei die Grundlage. Hinzukommen sollten aber auch die an anderen Stellen veröffentlichten Gedichte – und dann natürlich die unveröffentlichten Gedichte. In Sahls Marbacher Nachlaß konzentrierte sich die Suche nach diesen Gedichten auf zwei Fundstellen: Die Tagebücher des Autors und die Kästen mit Manuskripten.
Die Durchsicht der Tagebücher nach veröffentlichten und unveröffentlichten Gedichten gehörte zum unaufwendigeren Teil der Arbeit. In den Tagebüchern gediehen besonders gut Schreibanfänge. An diesem intimen Ort, an dem er von Appellen, die Sahl an sich selber richtete, endlich wieder Rechenschaft über das eigene Tun ablegen zu wollen, bis hin zu Todesanzeigen und Nachrufen auf befreundete Emigranten alles sammelte, was mit seiner Arbeit in Verbindung stand, notierte er auch vollständig durchgearbeitete Gedichte. Transkribiert fanden sie Aufnahme in dem vorliegenden Gedichtband.
Die zweite Quelle war das große Manuskript von Gedichten, das überraschenderweise alphabetisch geordnet war. In diesem hunderte von Seiten umfassenden Manuskript sich zu orientieren, war erheblich schwieriger. Es enthielt alles: unveröffentlichte und veröffentlichte Gedichte, Gedichte in Rohfassung und Gedichte in mehreren scheinbaren Schlußversionen. Zu finden waren Übersetzungen von Gedichten, an denen er sich wohl selber versucht hatte und vermutlich auch von anderen Übersetzern hergestellte Fassungen. Erkennbar wurden einige Manuskripte nicht von ihm getippt, waren aber von ihm per Hand in Details korrigiert worden usw. Alle diese Manuskripte, und das unterscheidet sie von vielen Tagebuch-Notaten, befanden sich auf einem Niveau, das sich deutlich erkennbar über dem von ersten Entwürfen bewegte. Die Arbeit an diesen Manuskripten mußte deswegen aber noch nicht in allen Fällen abgeschlossen sein, auch das war bei manchen Texten, ohne größere Einschätzungskomplikationen zu verursachen, leicht festzustellen.
Wer dieses Manuskript in Marbach erstellt hat, läßt sich nicht sagen, und von wem die alphabetische Ordnung dieser Gedichte stammt, ist ebenfalls unbekannt. Es ist anzunehmen, dass ein Mitarbeiter des Deutschen Literaturarchivs für Übersicht und für diese Anordnung der Manuskripte gesorgt hat. Auf jeden Fall verband Hans Sahl mit seinen Manuskripten stets die Chance, an ihnen weiterarbeiten zu können, und gelegentlich hielt er sich in Marbach auf und beschäftigte sich dort mit seinen Texten.
Naiv konnten wir aber mit diesem großen Manuskript nicht umgehen – und naiv hätte in diesem Fall bedeutet, alle vorhandenen Manuskripte ohne weitere Prüfung in diese Ausgabe zu übernehmen. Unfertige Gedichte mussten aussortiert werden, Entscheidungen waren zu treffen, welcher Version eines Gedichts der Vorzug geben werden sollte. Bei diesen Arbeiten haben wir uns als Herausgeber in einer ähnlichen Situation befunden wie Hans Sahl, als ihm die Gelegenheit zur Zusammenstellung eines Gedichtbands eingeräumt wurde – mit einer Ausnahme: Wir mußten nicht auswählen, in diesen Band hier konnten wir alle publizierbaren Gedichte von Hans Sahl aufnehmen.
Bei dem Abwägen, für welche Version eines Gedichtes wir uns entscheiden sollten – manchmal unterschieden sich die verschiedenen Fassungen nur in kleinen Nuancen – half uns eine Textstelle Sahls in den Memoiren eines Moralisten weiter. Dem Abdruck des Erinnerungsgedichts an einen Theaterregisseur stellt er voran:
Ich schrieb ein Gedicht zum Tode von Leopold Lindtberg, das bei einer Trauerfeier am Zürcher Schauspielhaus, wo er fünfzig Jahre lang als Regisseur tätig war, im Mai 1984 vorgetragen wurde. Es gibt, wie so häufig bei mir, mehrere Fassungen. Hier ist eine: (…).
Durch dieses Zitat sahen wir uns legitimiert, bei literarisch annähernd gleichen Gedichtfassungen uns für die Version zu entscheiden, die uns im Detail als gelungener erschien.
Und noch in einem unterschied sich unsere Position von der Hans Sahls auf grundlegende Weise, und das hatte Auswirkungen auf die Suche nach Gedichten für diesen Band. Wir konnten die Gedichte nicht korrigieren und durften deshalb nur, solche Gedichte in diesem Band hier aufnehmen, an denen Sahls Arbeit zum Abschluß gelangt war. Die Integrität der Texte war anzuerkennen, auch wenn uns, angeregt durch verschiedene unfertige Versionen, Varianten eingefallen wären, die den Text aus unserer Sicht verbessert hätten. Ohne Rücksprache mit dem Autor konnten derartige Änderungen in den Texten nicht vorgenommen werden, und insofern widerfuhr Hans Sahl auch in diesem Band nur in begrenztem Umfang Gerechtigkeit, als er einige seiner Gedichte nicht mehr weiter ausarbeiten konnte – was er vielleicht getan hätte, wenn sich ihm die Chance zu einer umfassenden Publikation seiner Texte geboten hätte. Hier war durch den Tod des Autors eine nicht überschreitbare Grenze gesetzt worden.
Erkennbar sollte in diesem Band bleiben, welche Gedichte Hans Sahl veröffentlicht hatte und welchen er bisher nur einen Platz in seinem Fundus an Gedichten einräumen konnte. Entsprechend wurden zwei Abteilungen gebildet.
Erhalten sollten aber auch die beiden letzten Gedichtbände (Wir sind die Letzten und Der Maulwurf) wegen der herausgeberischen Leistung des Autors bei der Zusammenstellung dieser Bücher bleiben. In der Konsequenz bedeutete das, Sahls erster Gedichtband Die hellen Nächte sollte als der Torso erhalten bleiben, als der er in den Band Wir sind die Letzten eingegangen war. Die anderen Gedichte aus diesem Gedichtband bilden den Mittelpunkt der an unterschiedlichen Orten veröffentlichten Gedichte. Die Gedichte, die vor dem Band Die hellen Nächte erschienen, folgen einer Auswahl, die kurz nach Sahls Tod im Rahmen eines noch gemeinsam mit ihm projektierten Dossiers erschienen. Die sich anschließenden Gedichte sind chronologisch nach ihrem Erscheinungsdatum angeordnet worden.
Bei den unveröffentlichten Gedichten wollten wir nicht den Eindruck erwecken, als könnten wir uns dem Autor Hans Sahl so stark anverwandeln, daß wir uns eine ähnlich ins Detail gehende Gliederung überlegen könnten, wie er das bei seinen Gedichtbänden getan hat. (Die Bände Die hellen Nächte und Wir sind die Letzten sind wie Werkschauen angelegt, die den Leser mit den jeweils verschiedenen Schwerpunkten seines Schreibens vertraut machen sollten.) Wir haben die unveröffentlichten Gedichte vorsichtig in eine Abfolge gebracht, die Assoziationen an Hans Sahls Biographie weckten und eine Ahnung von den Fragen nahelegte, die ihn in den verschiedenen Lebensabschnitten beschäftigt haben. Dabei tritt das Thema deutlich hervor, das ihn den großen Teil seines Lebens begleitet hat, die Auseinandersetzung mit der Frage: Was bleibt? Dieses Thema in ganzer Klarheit hervortreten zu lassen, war uns aber nicht nur wichtig, weil es wesentlich mit Sahls Schreiben zu tun hatte. Es gab dafür noch einen anderen Grund. Diese Ausgabe der Gedichte sollte auch insofern als eine Antwort auf Sahls lebensbewegende Frage gelesen werden können, als hier erstmals seine Gedichte als Ganzes veröffentlicht werden. Sein lyrisches Werk, also das, was bleibt.
Klaus Siblewski, März 2009, Nachwort
veröffentlichte Hans Sahl sein erstes Gedicht in der damals hoch angesehenen Weltbühne. Er war erst 21 Jahre alt, ein junger Mann aus bürgerlichem Haus, der seinen Weg in die Literatur und in das Leben suchte. 1942, in ungleich finstereren Zeiten, erschien in einem New Yorker Verlag ein Gedichtband von ihm: Die hellen Nächte – wiederum eine kleine Sensation! Einem Emigranten war es gelungen, in der Fremde einen Band mit Poesie zu veröffentlichen und das sogar in seiner Muttersprache, auf Deutsch.
Das Schreiben von Gedichten begleitete Hans Sahl durch sein langes Leben. Die Schrecken des 20. Jahrhunderts finden darin ihren Widerhall, aber Hans Sahl hat sich in seinen Versen auch die Freiheit genommen, sich auf sich selber zu besinnen. Gedichte waren sein Anker in einem unsteten Leben. Und sie begründeten zu Recht seinen literarischen Ruf als den eines Lyrikers, der auf kritische Distanz zu den intellektuellen Moden seiner Zeit gegangen ist.
Zu Hans Sahls Lebzeiten sind zuletzt zwei, von ihm selber zusammengestellte Bände mit gesammelten Gedichten erschienen: Wir sind die Letzten und Der Maulwurf. Sie sind in diesem Band enthalten. Dazu werden alle verstreut veröffentlichen Gedichte erstmals neu publiziert sowie bisher noch unveröffentlichte Gedichte aus seinem Nachlass. Weit über 80 Jahre nach dem Debüt dieses Autors schließt sich damit der Kreis. Mit dieser Ausgabe wird endlich sein lyrisches Werk als Ganzes zugänglich gemacht.
Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 2009
„Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig. …“ – diese berühmten Gedichtzeilen wurden oft zitiert. So lauten Anfang und Schluss des vielleicht bekanntesten Gedichts des Schriftstellers, Kritikers und Übersetzers Hans Sahl (1902–1993), der wie so viele jüdische Künstler 1933 ins amerikanische Exil gehen musste, wo er als Korrespondent für deutsche Presseorgane tätig war. Nach 1945 kehrte er nur langsam in Etappen nach Deutschland zurück, denn in seiner Heimat teilte er das Schicksal vieler Emigranten, indem er hier kaum wahrgenommen wurde. Erst in seinen letzten Lebensjahren hatte er die verspätete Anerkennung seines Lebenswerkes noch erfahren.
Der Luchterhand Verlag hat 2008 mit einer vierbändigen Werkausgabe von Hans Sahl begonnen, die jetzt durch einen umfangreichen Gedichtband abgeschlossen wird. Obwohl Hans Sahl zeit seines Lebens Gedichte geschrieben hat und sie gewissermaßen seinen Ruf begründeten, schrieb er meist Gedichte für die Schublade, zumindest seit er Deutschland verlassen hatte. Er arbeitete auf Vorrat hin, von dem er nicht wusste, wann es zu einer Veröffentlichung kam. Trotzdem ließ er sich durch das Fehlen von Publikationsmöglichkeiten nicht davon abhalten, immer wieder Kraft und Zeit in das Schreiben von Gedichten zu stecken.
Der vorliegende Band versammelt alle zu Lebzeiten des Dichters veröffentlichten Gedichtbände, von Die hellen Nächte (1942) bis zu den beiden Sammlungen Wir sind die Letzten und Der Maulwurf (1991), die kurz vor seinem Tod erschienen. Daneben sind die Herausgeber bei ihren umfangreichen Recherchen (z.B. im Marbacher Nachlass) auf zahlreiche unveröffentlichte Texte gestoßen, die selbstverständlich mit aufgenommen wurden.
Hans Sahl verstand sich zeitweise als politischer Schriftsteller, der besonders mit seinen Gedichten versuchte, nicht nur „Bekenntnisse abzulegen“, sondern auch in das politische Geschehen einzugreifen. In einigen Gedichten verteidigte er auch die Unschuldigen unter den Deutschen, die auf ihre Art Opfer gewesen seien.
Neben dem Ausgeschlossensein, dem Fremdsein und dem Stranden an irgendwelchen Ufern ist das „Zu spät“ ein weiterer Grundtenor seiner Gedichte, die Überzeugung, „dass Worte nichts mehr zu ändern vermögen, immer hinterher gesprochen sind“. In vielen seiner Gedichten tritt außerdem die Frage hervor, die ihn einen großen Teil des Lebens begleitet hat: Was bleibt? Dieses Thema in ganzer Klarheit hervortreten zu lassen, ist Anliegen des Gedichtbandes, das die Gelegenheit gibt, auf eine lyrische Entdeckungsreise zu gehen und einen der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts kennenzulernen.
Manfred Orlick
Walter Eigenmann: „… was sonst jeder Beschreibung spottet“
glarean-magazin.ch, 13.10.2009
Momme Brodersen: Eine etwas allzu lieblose Edition
fixpoetry.com, 19.12.2010
Friedhelm Lövenich: „Wir sind zuständig“
glanzundelend.de
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Hans Sahl
Hanns-Josef Ortheil: Klaus Siblewski wird siebzig
Börsenblatt, 16.10.2020
Christian Lindner: Der Exilschriftsteller Hans Sahl
deutschlandfunk, 27.4.2018
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