CAFE FLORE
Apéritif, Picasso,
Seltsame Dame in Grün,
Moderato con basso,
Dächer am Himmel ziehn.
Abendblätter-Désastre,
Allez-y à Berlin,
Bäume auf glühendem Pflaster,
Boulevard St. Germain.
Obdachlose Talente,
Exhibition d’amour,
Fern auf dem Kontinente
Läuft eine blutige Spur.
Von vier Menschen weiß ich, daß sie Hans Sahls Gedichtzyklus Die hellen Nächte besitzen, für dessen Erscheinen 1942 im New Yorker Verlag von Barthold Fles 250 Subskribenten nötig waren. Einige Exemplare dieses ergreifenden Dokuments poetischer Selbstbehauptung sind darüber hinaus in öffentlichem Besitz. Hie und da wurden dann einzelne Gedichte aus den Hellen Nächten gedruckt.
Was einer unserer Schriftsteller fühlte im Exil, wofür er damals Worte fand und gar genügend Leser für eine Publikation der Gedichtsammlung, kann nunmehr, heute, wieder ein größeres Publikum erreichen und berühren und ergreifen.
Hans Sahl, 1902 in Dresden geboren, 1989, uns so beschämend spät, aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrt und 1993 in Tübingen gestorben, blieb ein skeptisch-freundlicher Zeitzeuge in der ideologisch festgefahrenen Parteien- und Kunstlandschaft im Nachkriegsdeutschland: ein herausragender Schriftsteller, ein herzlicher Erzähler, der seine Gefährten nicht schonte, sondern – wenn nötig – sie auch zurechtwies. Ein Ankömmling in Tübingen, weise, mit leuchtend rotem Schal, mit dem er den Abscheu vor aller Parteibuchgesinnung konterkarierte.
Wer seine Verzweiflung im Exil, von seinem Trotz gepaart mit Humor und Esprit, aber auch die bedingungslose Geradlinigkeit erfuhr, war ins Mark getroffen. Das war Hans Sahl: ein allseits wacher und deshalb auch tief verletzbarer Mensch – ein Steuermann in den Untiefen des zu Ende gehenden Jahrhunderts.
„Man braucht mich nicht“, sagte er 1993 am Ende eines Gesprächs mit dem Literaturchef des Saarländischen Rundfunks, Ralph Schock. Das war keine Koketterie. Und dennoch: Nun, mit mangelnder Sehkraft, wie eingebüßt in den Irrlichtern eines grauenvollen Jahrhunderts, hörte er um so genauer in die Welt. Und er sprach unermüdlich, gerade auch mit jungen Menschen darüber. Wir vermissen diesen Hans Sahl und seine Kunst. Und nötiger denn je: sein kompromißloses Eintreten für den „Bruder Mensch“.
Burkhard Baltzer, Vorwort
– Wie Die hellen Nächte gelesen wurden. –
Als nach 1933 die ernstzunehmende deutsche Literatur nur mehr in Amsterdam und Zürich, London, Moskau und Stockholm, Mexiko und New York erschien, hatten es die Lyriker unter den Schriftstellern besonders schwer, ihre Werke an die Öffentlichkeit zu bringen. Zwar waren einzelne Gedichte Zeitungs- und Zeitschriften-Redaktionen durchaus willkommen – doch meist nur als Lückenbüßer. Ganze Anthologien hingegen herauszubringen, dieses Wagnis scheuten die Verleger für gewöhnlich, es sei denn, schon der Name des Autors versprach einen gewissen Verkaufserfolg oder sie leiteten einen hochsubventionierten Staatsverlag. Fürwahr Schlechte Zeiten für Lyrik, um es hier in Anlehnung an den Titel eines berühmten Brecht-Gedichts zu sagen! Schätzungen des Exilforschers Jan Hans zufolge wurden „annähernd 60% der im Exil entstandenen Lyrikbände erst nach 1945 verlegt“.
Vor diesem Hintergrund mutet es fast wie ein Wunder an, daß Hans Sahls Gedichtsammlung Die hellen Nächte mitten im Krieg erscheinen konnte, zudem im fernen New York und ausgerechnet auf deutsch! Freilich war auch sein Verleger Barthold Fles mit dieser Publikation kein wirkliches Risiko eingegangen. Vielmehr sorgte der Autor selbst dafür, daß eine ausreichende Zahl von Abnehmern zusammenkam, die wenigstens die Druckkosten des Werkes abdeckte: durch eine Subskriptionskampagne.
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Im zweiten Band seiner Erinnerungen, Das Exil im Exil, hat Sahl die Publikationsgeschichte seiner Anthologie in groben Zügen nacherzählt. Demnach hatte er eines Tages Joseph („Joe“) Blumenthal von der Spiral Press kennengelernt, der den Neuankömmling in Amerika bei Gelegenheit eines gemeinsamen Essens fragte, wovon er fortan zu leben gedenke. Sahls Erwiderung, er wolle zunächst einmal eine Sammlung eigener Gedichte herausbringen, verschlug seinem Gegenüber die Sprache. Das sei das Kurioseste, was er seit langem gehört habe. Es herrsche Krieg in der Welt, und da komme einer, der ausgerechnet deutsche Gedichte in New York veröffentlichen wolle! Gleichwohl machte diese Antwort einen derartigen Eindruck auf Blumenthal, daß er Sahl den Druck von tausend Subskriptionsprospekten zusagte und versprach, das Buch zu drucken, sobald eine ausreichende Zahl von Bestellungen eingegangen sei.
Überwiegend unveröffentlichten Tagebucheintragungen und Korrespondenzen Sahls sind weitere Details dieser Publikationsgeschichte zu entnehmen. So schreibt er etwa Thomas Mann unter dem Datum des 1. Dezember 1941, daß „in wenigen Wochen mehr als 130 Bestellungen“ eingegangen seien. Nachdem schließlich 250 Subskribenten gefunden waren, ging das Werk in den ersten Monaten des Jahres 1942 in Druck – in welcher Auflagenhöhe, darüber schweigen sich die Quellen leider aus, aber es dürften weit weniger als tausend Exemplare gewesen sein. Als »feindlicher Ausländer- („enemy alien“) konnte Sahl sein Werk nicht, wie ursprünglich geplant, im Selbstverlag erscheinen lassen. Deshalb wandte er sich an den niederländischen Literaturagenten Fles, der sich gelegentlich auch als Verleger betätigte. Möglich, daß ihm diese Verbindung durch zwei Lyrikbände nahegelegt worden war, an deren Veröffentlichung Fles ebenfalls beteiligt war und deren Publikation sich einem ähnlichen „Geschäftsmodell“ (Subskription und anschließende „In-Verlag-Nahme“) verdankte: Die Rede ist hier von den noch im Jahre 1941 erschienenen neuen Gedichten Berthold Viertels (Fürchte dich nicht!, New York) und den aus dem Nachlaß stammenden Letzten Gedichten Max Herrmann-Neißes (London/New York).
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Die Rezeptionsgeschichte der Hellen Nächte ist insofern eng mit ihrer Entstehungs- und Publikationsgeschichte verknüpft, als die ersten Kommentare zur Anthologie bereits vorlagen, als sie noch nicht einmal gedruckt war, ja, als der Autor hier und da sogar noch am Werk herumfeilte. „Veröffentlicht“ wurden diese frühesten Einschätzungen im Subskriptionsprospekt, auf dessen Formulierung und Zusammenstellung Sahl besondere Sorgfalt verwandte. Das vierseitige Faltblatt enthielt neben dem Bestellformular eine Kurzcharakteristik von Autor und Werk, das vorläufige Inhaltsverzeichnis, den Vorabdruck der Gedichte „Schlaflied“ und „Die hölzernen Kreuze“ sowie eben „Die ersten Urteile“ zur Anthologie, für die mit dem Religionsphilosophen Paul Tillich, dem Schriftsteller Bruno Frank, dem Regisseur Erwin Piscator sowie dem Kultursoziologen Erich von Kahler Personen aus dem engeren Freundes- und Bekanntenkreis Sahls verantwortlich zeichneten. Er hatte ihnen Einblick in das noch unabgeschlossene Manuskript gewährt, um sich zunächst einmal zu vergewissern, daß eine Veröffentlichung dieser Gedichte in ihrer noch unvollkommenen, noch nicht „gültige[n] Form“, wie es in einem weiteren Brief an Thomas Mann (vom 23. Oktober 1941) heißt, auch zu verantworten sei. Ihre Reaktionen fielen, für ihn überraschend, ermutigend aus, so daß er wesentliche Passagen ihrer Bemerkungen in die Werbe-Broschüre einarbeitete.
Bruno Frank meinte, wie es in Sahls Zusammenfassung von dessen spontanen Eindrücken in dem eben zitierten Brief an Thomas Mann heißt, der „gelegentlich tagebuchartige, skizzenhafte Charakter der Gedichte“ werte diese Sammlung nur auf. In der Version des Subskriptionsprospektes liest sich das dann so:
Unter diesen Dichtungen Hans Sahls gibt es vollendete, ganz ausgewogene Gebilde, die rein schweben in ihrem Element einer männlichen Trauer und Sehnsucht. Andere wirken wie hingeschleuderte Notizen des Gefühls, entstanden in der Hast und Not des Augenblicks. Je nach Anlage und Lebensstimmung wird einen die rauhe Unmittelbarkeit stärker bewegen oder die schöne Reife des ausgeformten Gedichts. Wenn aber einmal die Blut- und Schlammflut dieses finstern Jahrzehnts sich verlaufen hat, dann wird dies Tagebuch in Strophen als ein Ganzes stehen bleiben, als ein wahrhaftiges und erschütterndes Memento.
Ähnlich fiel das Urteil Erwin Piscators aus. Ihm schien aus diesen ebenso schlichten wie formvollendeten Versen ein wahrer Dichter zu sprechen. Paul Tillich hingegen hob die schöpferische Einbildungskraft und Ausdrucksstärke dieser Gedichte hervor – er sprach von „creative imagination and power of expression“ – und meinte, sie stellten Sahl weit über den Durchschnitt seiner dichtenden Kollegen. Erich von Kahler schließlich sah „in nicht wenigen […] Gedichte[n]“ den Ausdruck „bis zu einer ergreifenden Intensität“ gesteigert und empfand diese Gedichte als eine wahrhaft ,lyrische‘ Lyrik im Sinne Goethes, die „leibhaftig oder seelisch die Not unserer Zeit“ gespürt und Bild hat werden lassen.
„Die ersten Urteile“ enthalten schon fast alle Stichworte, an die sich, mutatis mutandis, die Kritik auch nach Drucklegung der Anthologie halten sollte. So heißt es etwa in Manfred Georges Besprechung der Hellen Nächte vom 6. März 1942 im New Yorker Aufbau:
Schlichte Verse, manchmal nicht ganz fertig gefeilte Gedichte, nicht ganz ausgetragene Erinnerungen. Aber sie sind trotzdem voll von dem Weh der Zeit und von dem Verlangen großer und einfacher Gefühle, voll von Sehnsucht und Traurigkeit. Und sie greifen ans Herz. Hier ist ein Bündel guter deutsch-sprachiger Lyrik aufbewahrt worden.
Max Jakob hingegen greift in seiner in der Chicagoer Zeitschrift Poetry erschienenen Besprechung das Stichwort vom Tagebuch in Gedichtform – er bezeichnet es als „a sort of verse diary“ – wieder auf und bezeichnet den Lyriker Sahl als jemanden, dem der Herrgott gegeben habe zu sagen, was ihn leiden lasse („to whom a God gave to say what he is suffering“). Dramatisch gestaltete, farbenreiche Visionen wechselten sich ab mit „absolutely unsentimental pen-and-ink drawings“. Allein der Schriftsteller Franz Carl Weiskopf ließ der Gedichtsammlung in den Books Abroad (Heft 3/1942) eine etwas lieblose Besprechung angedeihen, was sicher nicht nur der ungewohnten englischen Sprache geschuldet war:
At times Sahl is conventional, at times careless. But unimportant occasional verses alternate with reallyric gems, which may some day be quoted as significant contributions to the lyric product of the German emigration.
Sahls Gedichtsammlung ist kaum mehr als ein halbes Dutzend Mal rezensiert worden. Neben den hier zitierten Besprechungen erschienen noch die der Schriftstellerin Marianne Hauser im Saturday Review of Literature (Nr. 35 vom 29.8.1942), eine anonyme im New Yorker Referate-Organ In re: Germany (Heft 2/1942) sowie eine vermutlich im August-Heft 1943 der Zeitschrift Solidarity gedruckte des österreichischen Dichters Ernst Waldinger, der „den ausgesprochenen Reiz des unmittelbar Erlebten“ hervorhob und der Tatsache, daß „vieles in diesem Buch“ improvisiert klinge, keine weitere Bedeutung beimessen wollte. Das mag alles in allem als nicht allzu viel erscheinen. Doch in Anbetracht der weltpolitischen Ereignisse konnte sich ein Dichter in damaliger Zeit wohl kaum mehr erhoffen.
Ihre umfassendste Würdigung erfuhren die Hellen Nächte noch vor ihrer Drucklegung durch den Publizisten Goetz Mayer in der New Yorker Neuen Volks-Zeitung. Dabei war sein am 29. November 1941 erschienener Artikel „Der Lyriker Hans Sahl“ zunächst nur als Plädoyer für die Subskription des Werkes gedacht, sei es doch „schlimm genug, daß solche Umwege notwendig geworden sind, damit Verse eines Dichters gedruckt werden können“. Mayers Beitrag ist in gleich mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen durch seinen Hinweis darauf, daß hier etwas thematisch Neues dichterisch gestaltet worden sei: In diesen Gedichten sei „der Leidensweg eines jener besseren Europäer nachgezeichnet, der Frankreich während des Zusammenbruchs hat erleben müssen; einer von denen, noch dazu, die trotz Enttäuschung und Scham vor den Geschehnissen die Zärtlichkeit, die sie für Frankreich einmal empfunden hatten, in sich nicht haben ersticken können.“ Sahls „Gedichtzyklus“ sei, so Mayer, „die erste abgeschlossene lyrische Arbeit eines Deutschschreibenden, der sich mit diesem Thema“ befasse. Zum anderen werden die Hellen Nächte in diesem Artikel nicht isoliert betrachtet. Vielmehr bettet Mayer seine Ausführungen dazu in den Gesamtzusammenhang von Sahls bisherigem dichterischen Schaffen ein, vor allem in das seines 1938 in Zürich uraufgeführten Oratoriums Jemand. Damit kommt gar nicht erst der Gedanke auf, mit dieser Anthologie lege der Autor sein lyrisches Erstlingswerk vor. Schließlich kommt Mayer in seinen Betrachtungen über die Einflüsse, die in Sahls Dichtung auszumachen seien, vor allem auch auf dessen Ureigenstes zu sprechen: Zwar könnten „die Einflüsse Brechts, des ,Klassikers‘ einer Generation, deren beste Köpfe sich von ihm weg entwickelt haben, nicht geleugnet werden“. Aber Sahls Dichtung sei doch „einfacher, reiner und wärmer und menschlicher als die (politischen) Dichtungen Brechts“.
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Wenn Die hellen Nächte über die Jahre nicht gänzlich in Vergessenheit gerieten, so dankten sie dies nicht zuletzt den gelegentlichen Nachdrucken einzelner Gedichte daraus in Zeitschriften wie dem Aufbau, dem Jerusalemer Orient oder den in Santiago de Chile publizierten Deutschen Blättern, die meist mit pflichtschuldigen Hinweisen auf die Quelle versehen waren. Als am 5. April 1946 ein – freilich entstellter – Nachdruck des Gedichts „De Profundis“ in der Berlin-Münchner Neuen Zeitung erschien, erfuhren, knapp ein Jahr nach Kriegsende, sogar Leser in Deutschland von der Existenz dieser Anthologie – wenigstens die in den Besatzungszonen der Westalliierten lebenden. Denn in der, wie es damals noch hieß, SBZ oder sowjetisch besetzten Zone Deutschlands war Sahl eine persona non grata, da er mit den Kommunisten, denen er einst sehr nahe gestanden, im Zuge der Moskauer Prozesse und spezifischer Ereignisse im Pariser Exil gebrochen hatte. Damit war er in den Augen derjenigen, die in der späteren DDR den politischen Ton angaben, einfach nur ein Renegat. Und mit welcher Akribie man Abtrünnige strafte, das mag eine kleine, Die hellen Nächte nur am Rande streifende Episode belegen.
1945 gab der Marx-Forscher und Bibliothekar Bruno Kaiser unter dem Pseudonym Oswald Mohr eine umfangreiche Anthologie mit Gedichten, Prosatexten, Briefen und Aufrufen deutscher Flüchtlinge von Heine bis Thomas Mann unter dem Titel Das Wort der Verfolgten im Basler Mundus-Verlag heraus. Sie enthielt insgesamt vier Gedichte Sahls, drei davon aus seinen Hellen Nächten. Nachdem die Sammlung noch in der Schweiz eine zweite Auflage erlebt hatte, erschien sie in einer neuen Ausgabe 1948 im Ostberliner Verlag Volk und Welt. In ihr sucht man Sahls Gedichte freilich vergebens! (Erst 1968, im Jahr des Prager Frühlings, wurden im Rahmen einer von Heinz Seydel herausgegebenen Anthologie zur „Judenverfolgung des Dritten Reiches im deutschen Gedicht“ – so der Untertitel der im Verlag der Nation erschienenen Sammlung Welch Wort in die Kälte gerufen – auch DDR-Leser mit Sahl-Gedichten bekanntgemacht: unter den gerade einmal fünf auch das „Meine Mutter“ überschriebene aus den Hellen Nächten.)
Vermutlich auch in der Absicht, noch einmal auf seine während der Kriegsjahre erschienenen Gedichte hinzuweisen, verfaßte Sahl 1954 ein Radiofeature – als „literarisches Hörbild“ wurde es in den Programmzeitschriften angekündigt –, in dem er unter Zitierung zahlreicher Gedichte aus den Hellen Nächten noch einmal die Chronik dieses Buches von seiner Entstehung in Frankreich bis zur Rettung des Manuskripts nach Amerika Revue passieren ließ. Die zunächst vom Nordwestdeutschen Rundfunk, wenig später auch vom Sender Freies Berlin ausgestrahlte Sendung fand wenigstens in Berlin eine gewisse Resonanz, erschienen doch mehr oder minder umfangreiche Rezensionen dazu im Berliner Telegraf, im Tagesspiegel und im Kurier. In ihnen fallen noch einmal einige der bereits bekannten Stichworte. Eine Gesamtbeurteilung freilich mußten sich die Rezensenten aus verständlichen Gründen versagen. Wo hätten sie denn auch Einblick in ein Werk nehmen können, von dessen geringer Auflage ganz gewiß noch kein Exemplar seinen Weg in eine deutsche Bibliothek gefunden hatte? Nicht von ungefähr mündet daher die Besprechung des Tagesspiegel in den Wunsch ein, „diese Verse, in denen das Musikalische sich mit dem Spirituellen zu einem tief anrührenden, unverwechselbaren Klang verbindet, alle zu lesen und sie zu besitzen“. Uns „dazu zu verhelfen“, so schloß der Rezensent seine Ausführungen, sei die „Aufgabe für einen deutschen Verleger“.
Weit über ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis es dazu kam!
Momme Brodersen, Nachwort
sind der erste Gedichtband von Hans Sahl. Stefan Weidle, der sich um Neuauflagen von Werken exilierter, häufig vergessener Schriftsteller verdient gemacht hat, bringt zum erstenmal seit der Erstausgabe von 1942 diese Lyrik von Hans Sahl wieder auf den Büchermarkt. Hans Sahl (1902–1993) flüchtete als jüdischer Autor 1933 von Berlin (wo er mit Else Lasker-Schüler befreundet war) über Prag nach Frankreich. Der linke Schriftsteller und Journalist brach mit den stalintreuen Genossen im Exil. Er war mit etwa 20 Kollegen Mitbegründer des Bundes Freie Presse und Literatur. Von Marseille aus organisierte er mit dem Amerikaner Varian Frey die Flucht von 2.400 Intellektuellen vor den Nazis, ehe er selbst über Portugal in die USA entkam. Dort arbeitete er als Journalist, Schriftsteller und Übersetzer (etwa von Tennessee Williams und Thornton Wilder). Einmal kehrte er nach der Befreiung zurück nach (West-)Deutschland. Hier fühlte er sich unwillkommen, selbst bei der Gruppe 47. So ging er ein zweites Mal ins Exil, kehrte jedoch 1989 endgültig auf Wunsch seiner Frau Ute zurück. Sie las die Texte des fast blinden Autors am 9. November 1992, mit denen Hans Sahl an den Dichterlesungen in Asylbewerberheimen gegen Rechtsextremismus und für Solidarität mit den Asylanten teilnahm. Mit dieser Aktion wurde die ELS-Gesellschaft bekannt und Hans Sahl ihr erstes Ehrenmitglied.
Jan Kuhlbrodt: Helle Nächte
fixpoetry.com, 28.6.2013
Zum ersten Mal begegnete ich ihm im Frühjahr 1977 auf einer literarischen Veranstaltung auf der Westseite Manhattans, und zwar beim sogenannten „Authors Afternoon“, zu welchem die Social Scientific Society for Intercultural Relations eingeladen hatte. Die Leitung dieser 1870 von Carl Schurz und dem mit ihm befreundeten Arzt Dr. Abraham Jacobi gegründeten Organisation lag zu meiner New Yorker Zeit in den Händen von Theodora Lindt, Witwe des Autors Peter M. Lindt. Außer Hans Sahl, der aus seinem zu dem Zeitpunkt gerade bei Goverts (Frankfurt am Main) neuaufgelegten Roman Die Wenigen und die Vielen sowie aus dem ein Jahr zuvor bei Lambert Schneider (Heidelberg) veröffentlichten Lyrikband Wir sind die Letzten lesen ließ, kamen an diesem bunten Literaturnachmittag Friedrich Bergammer, Mimi Grossberg, Margarete Kollisch, Vera Lachmann und – als einzige Nachkriegseinwanderin – Margot Scharpenberg zu Wort. Ich brachte einen kleinen Artikel über die Veranstaltung in der New Yorker-Staats-Zeitung (Ausgabe vom 9./10. April 1977).
Hier schnell ein Wort über diese älteste deutschsprachige Zeitung New Yorks, die heute gar nicht mehr im Big Apple, sondern in Florida produziert wird. Gegründet wurde sie 1834 in Downtown Manhattan. Der Name Staats-Zeitung wurde gewählt, um anzuzeigen, dass es sich um eine Zeitung handelt, die sich mit Staatsangelegenheiten, d.h. mit Politik, befasst. Ich habe mir sagen lassen, dass dort sogar von Karl Marx ein Artikel erschienen sei, und zwar durch Vermittlung einer Agentur. Viel, viel später gehörten auch deutsch-jüdische Emigranten der NS-Zeit zu den festangestellten Redakteuren und freien Mitarbeitern. Während meiner Tätigkeit bei diesem Blatt (1973–78), dessen Redaktionsstube sich zu jener Zeit in Astoria (Queens) befand, stieß ich eines Tages beim Öffnen eines Aktenschranks auf Rezensionsexemplare von Büchern deutschsprachiger Autoren, vorwiegend Emigranten, die ich alle nicht kannte, aber bald kennenlernen würde. Zwei Wochen später brachte ich eine – mit einer Kollegin verfasste – kurze Rezension der beiden oben genannten Bände Hans Sahls (mit Foto des Autors): mehr Lesehinweis als literarische Kritik, aber mein Interesse an diesem Autor war geweckt.
Bereits ein Jahr später fand ich mich mit Hans Sahl, Friedrich Bergammer, Maria Berl-Lee, Margarete Kollisch und Vera Lachmann auf dem Programm des Autorennachmittags derselben Gesellschaft, und am 30. März 1980 übernahm ich – diesmal im Deutschen Haus der Columbia University – die Lesung für Hans Sahl, der zwar zugegen war, aber wegen zunehmender Sehbehinderung nicht mehr selbst vortrug.
Zu dem Zeitpunkt arbeitete ich beim New Yorker Aufbau, weil mir diese deutschjüdische Wochenzeitung, ihre Mitarbeiter und ihre Leser wichtiger erschienen. Bei der Staats-Zeitung konnte ich ohnehin nichts mehr lernen. Hans Steinitz war damals Chefredakteur des Aufbau, Hans Sahl so etwas wie ein Hausheiliger, der zwar keine Artikel beisteuerte, dessen literarische Laufbahn jedoch mit Anteilnahme beziehungsweise mit Rezensionen verfolgt wurde. Außer Hans Sahl (wie ich in Dresden geboren) und den bereits erwähnten Exilautoren machte ich die Bekanntschaft von Frederick Brainin, Otto Fürth, Robert Breuer, Ludwig Wronkow, Guy Stern, Claude Hill, Tino von Eckardt, Richard Plant, Gertrude Urzidil, Peter M. Lindt, Will Schaber, John F. Oppenheimer, Fred B. Stern und anderen. Wronkow und Schaber schlugen mich 1979 zur Aufnahme in das PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland vor.
Irgendwie und irgendwann fand ich mich dann auch im Apartment von Hans Sahl (800 West End Avenue) wieder, wo oft jüngere Leute – darunter Angehörige der deutschen Nachkriegsgeneration – zu Gast waren. Als Übersetzer führender amerikanischer Dramatiker hielt Sahl engen Kontakt zum New Yorker Theatergeschehen, und als promovierter Kunsthistoriker hatte er oft auch Künstler zu Gast. Auf einer seiner Partys stellte er mich seinen Gästen als den „Schabbesdiener des Aufbaus“ vor: eine ironische Charakterisierung, die ich mir gefallen ließ, denn oft war es so, dass an den hohen jüdischen Feiertagen nur die nichtjüdischen Mitarbeiter in der Redaktion erschienen, und als Chef vom Dienst trug ich die Verantwortung dafür, dass die Setzerei mit Manuskripten versorgt wurde, Seiten umbrochen wurden, Korrektur gelesen wurde etc., damit wir mit der Produktion nicht in Verzug gerieten und womöglich die termingerechte Auslieferung der Zeitung gefährdeten. Ab 1985 teilte ich die Chefredaktion mit Henry Marx, einem Angehörigen der Emigrantengeneration und jahrelang Redakteur bei der oben genannten Staats-Zeitung.
Die frühen 1980er Jahre waren beruflich keine leichte Zeit für Hans Sahl. Zwar nagte er in New York nicht am Hungertuch, aber die Querelen um die Veröffentlichung seiner Arbeiten machten ihm doch zu schaffen. Er klagte einmal, dass die deutschen Verleger mit seinen Manuskripten Fußball spielten. Bei Amman in Zürich erschienen dann – in sehr guter Aufmachung – einige seiner Werke, aber keine Gesamtausgabe. Später legte Luchterhand (an wechselnden Standorten) alle größeren Werke von Hans Sahl auf. Zu dem Zeitpunkt ging es dann bergauf, und die deutschen Medien entdeckten Hans Sahl Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre.
Als 1988 eine österreichische Fernsehreporterin namens Birgit Kienzle in New York auftauchte, um einen Dokumentarfilm über den Aufbau und seine Leserschaft zu drehen, schlug ich vor, auch Hans Sahl zu Wort kommen zu lassen. Somit landeten wir beide in der TV-Reportage Leben als Nachlass, die vom Südwestfunk ausgestrahlt wurde. Die Regisseurin benutzte auch – sehr wirksam – zum Ausklang des Films Hans Sahls Gedicht „Exil“ aus Die hellen Nächte, von ihm selbst vorgetragen.
Trotzdem waren für Sahl auch die 1980er Jahre weitgehend noch Teil einer langen Periode fortgesetzten Wartens auf den Durchbruch als ernstzunehmender Vertreter der deutschen Nachkriegsliteratur (nicht nur der Exilliteratur). Immerhin waren Die Wenigen und die Vielen im selben Jahr erschienen wie Die Blechtrommel von Grass und Bölls Billard um halb zehn und brauchten den Vergleich mit diesen beiden bundesdeutschen Romanen nicht zu scheuen. Das war 1959. Wahrscheinlich wirkte sich die räumliche Distanz negativ auf Kommunikation und Rezeption aus. Man muss als Autor wohl in der Literaturszene eines Landes präsent sein, mitreden und im Gespräch bleiben. All das dürfte für einen Autor, der sich an den deutschen Buchmarkt wenden wollte, von Amerika aus nicht leicht gewesen sein.
Ein anderes Erschwernis war Sahls anhaltendes Augenproblem, das es ihm praktisch unmöglich machte, selbst etwas zu Papier zu bringen – sei es in handschriftlicher Fassung, sei es auf der Schreibmaschine. Er sprach deshalb seine Texte auf Tonband und ließ diese Tonbandaufnahmen abtippen. Natürlich ist es in New York nicht so einfach, jemanden zur druckreifen Transkription deutschsprachiger Diktate zu finden.
Als Autor setzte Hans Sahl auf eine spätere Generation und fühlte sich schließlich bestätigt, ihr etwas mitteilen zu können. In der Tat traten denn auch häufiger jüngere Besucher zu einem Interview an ihn heran, meistens freie Mitarbeiter von Zeitungen oder vom Rundfunk. Er glaubte auch, dass, nachdem die Sowjetunion mitsamt ihrer Ideologie zusammengebrochen war, der Wandel des Zeitgeistes seinem Werk günstig sei. Sahl hatte dem Kommunismus Stalinscher Prägung bereits lange vorher den Rücken gekehrt. Mit der Regierung Reagan schien auch für Hans Sahl zwar kein goldenes, aber doch ein neues Zeitalter angebrochen zu sein.
Etwa Mitte der Siebzigerjahre, noch bevor ich ihn persönlich kennenlernte, hatte ich von Hans Sahl in einem anderen Zusammenhang gehört. Ein Germanistikprofessor der Rutgers University in New Brunswick, New Jersey, bezeichnete ihn mir gegenüber als „minor author“ – als kleinen, unbedeutenden Schriftsteller. Der Professor war Claude Hill, selber Emigrant, allerdings Nichtjude. Da ich zu dem Zeitpunkt von Sahl weder etwas gehört noch gelesen hatte, maß ich dieser Bemerkung wenig Bedeutung bei, denn wer in Amerika auf Deutsch schreibt, hat ohnehin kaum Aussichten, als Autor groß herauszukommen.
Claude Hill war zu dem Zeitpunkt Graduate Director der Germanistikabteilung seiner Universität, an der ich später promovierte (allerdings nicht bei ihm). Ich unterhielt jedoch, auch nach meinem Studienabschluss, ein freundschaftliches Verhältnis zu Hill (der übrigens in Jena promoviert hatte). Eines Tages erfuhr ich von ihm, woher seine Abneigung gegen Hans Sahl rührte: Während der schlimmen McCarthy-Ära habe Hans Sahl auf einem Empfang oder bei einer Zusammenkunft in New York für die Umstehenden laut hörbar gefragt, ob Claude Hill immer noch Kommunist sei. Eine solche Unterstellung hätte während dieser Zeit der Hetzjagd auf Kommunisten den beruflichen Ruin bedeuten können. Hill war zutiefst empört und verunsichert.
Sahl hatte Hill persönlich gekannt. In Das Exil im Exil kann man nachlesen, dass Hans Sahl, Claude Hill und Louis Coser am selben Tisch saßen, um für die U.S. Air Force deutsche Konstruktionsunterlagen zu übersetzen. Im selben Band kann man auch nachlesen, dass sich Sahl der Umtriebe McCarthys und des House Committee on Un-American Activities wohl bewusst war.
Ich hatte lange gezögert, Sahl auf diese Geschichte eines Denunziationsversuchs anzusprechen. Man kann ja nie genau wissen, was an solchen Erzählungen stimmt, was hinzuerfunden oder weggelassen wurde. Bis mir eines Tages bei einem Besuch in seinem Apartment der Wein die Zunge löste. In vino veritas. Als ich ihn fragte, was es mit der Affäre Hill auf sich habe und warum er einem anderen Emigranten in den Rücken gefallen sei, reagierte Hans Sahl keineswegs defensiv oder dementierend. Er erzählte in ruhigem, jovialem Ton, dass man mit den Kommunisten nichts mehr hätte zu tun haben wollen und sich folglich auch von Hill zu trennen wünschte. Es ging dann alles sehr schnell, auch mit meiner Geduld, ein Wort gab das andere, und Hans Sahl forderte mich auf zu gehen. Ich sagte noch trotzig, dass mir das nur recht sein könne, und stapfte davon, zu der U-Bahn-Haltestelle, die mich zur Pennsylvania Station brachte, von wo ich die Rückfahrt nach New Jersey antrat.
Am nächsten Vormittag rief ich meinen Gastgeber bangen Herzens an und bat ihn, mir zu rekonstruieren, was am letzten Nachmittag so total schiefgelaufen sei. Aber Hans Sahl war nicht nachtragend. Er riet mir nur, dem Alkohol zu entsagen. Ich versuchte, Abbitte zu leisten, indem ich zu seinem 86. Geburtstag den längsten Artikel schrieb, der je über ihn im Aufbau erschien: „Hans Sahl – Exildichter, Dichter des Exils“ (20. Mai 1988). Dem Alkohol habe ich nicht den Rücken gekehrt. Claude Hill, mein Mentor im amerikanischen Universitätsbetrieb, starb 1991 nach jahrelanger ärztlicher Fehlbehandlung. Auch ein Emigrantenschicksal.
Als schließlich im Frühjahr 1989 im Circle in the Square Theatre in New York Joshua Sobols umstrittenes Theaterstück Ghetto über die Bühne ging, protestierte Hans Sahl in einem Leserbrief an die New York Times (14. Mai 1989). Ich rezensierte die Aufführung für den Aufbau (2. Mai 1989). Auf einer Veranstaltung des Goethe House sagte mir Hans Sahl, er hätte seinen Brief nicht an die New York Times geschickt, wenn er zuvor meine Rezension gelesen hätte. Ein höheres Lob hätte mir schwerlich widerfahren können. Ich berichtete im Aufbau (12. August 1988) auch über die Neu- beziehungsweise Jubiläumsaufführung des Chorwerks Jemand in Zürich, zu dem Hans Sahl den Text geschrieben hatte (Musik: Tibor Kasics alias Viktor Haider, Bühnenbild: Frans Masereel, Uraufführung: 1938).
Noch während seiner New Yorker Zeit heiratete Sahl eine erheblich jüngere Frau aus Tübingen: Ute Veithusen, nichtjüdischer Herkunft. Ich erhielt eine Einladung zum Hochzeitsempfang, der am 3. Juni 1989 stattfand. Allerdings konnte ich nicht teilnehmen. Im selben Jahr ging der Exilautor mit seiner neuen Frau nach Deutschland zurück (es war nicht der erste Rückkehrversuch nach 1945 und auch nicht Sahls erste Ehe). Die Adresse lautete nun Primus-Truber-Straße 42, D-7400 Tübingen. Im Herbst 1989 nahm ich eben Lehrauftrag für Französisch am Ocean County College in New Jersey an, rezensierte aber weiterhin Exilliteratur und deutsche, später auch französische Gegenwartsliteratur. Meine Besprechung von Sahls Exil im Exil erschien in der Zeitschrift American Jewish Archives (Nr. 1, 1991).
Zu diesem Zeitpunkt war Hans Sahl auch literarisch in Deutschland angekommen – der letzte homme de lettres einer bewegten Epoche. Der Zusammenschluss der beiden deutschen Nachkriegsstaaten hatte stattgefunden, und der heimgekehrte Emigrant, der als 1902 geborener Zeitzeuge wie kaum ein anderer das zu Ende gehende Jahrhundert überschauen konnte, wurde von den deutschen Medien geradezu hofiert. Recht so – er hatte lange genug gewartet. Wir tauschten noch einige Briefe, und dann erhielt ich im Frühjahr 1993 das schwarz umrandete Kuvert mit der Nachricht seines Ablebens. Seine Witwe erlag bald danach einem Krebsleiden.
Gert Niers, aus Gabrielle Alioth und Hans-Christian Oeser (Hrsg.): Im Schnittpunkt der Zeiten. Autoren schreiben über Autoren. Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, 2012
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Hans Sahl
Christian Lindner: Der Exilschriftsteller Hans Sahl
deutschlandfunk, 27.4.2018
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