DIE LETZTEN
Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.
Wir tragen den Zettelkasten
mit den Steckbriefen unserer Freunde
wie einen Bauchladen vor uns her.
Forschungsinstitute bewerben sich
um Wäscherechnungen Verschollener,
Museen bewahren die Stichworte unserer Agonie
wie Reliquien unter Glas auf.
Wir, die wir unsre Zeit vertrödelten,
aus begreiflichen Gründen,
sind zu Trödlern des Unbegreiflichen geworden.
Unser Schicksal steht unter Denkmalschutz.
Unser bester Kunde ist das
schlechte Gewissen der Nachwelt.
Greift zu, bedient euch.
Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.
Es gibt einen Schriftsteller wiederzuentdecken, dessen Fähigkeit zu erhellenden Momentaufnahmen ohnegleichen ist, einen literarischen Brennspiegelschleifer: knapp bis zur Lakonie, ungeschminkte Portraits von Zeitzeugen vorführend, die sich zu einer „Galerie des Jahrhunderts“ fügen, dessen Zeuge er ist.
Fritz J. Raddatz
Ausgeleuchtet wird nur der Raum des Privaten, doch gezeigt wird die Weltgeschichte. Die Darstellung ist ganz distanziert, ein wenig melancholisch, ohne eine Spur von Haß oder Zorn. Es dominieren Schmerz und Trauer und grenzenlose Verwunderung.
Marcel Reich-Ranicki
Wer nach den Gründen für die Isolation dieses Autors sucht, kommt seiner Heiterkeit auf die Spur.
Michael Rohrwasser
Es war Liebe auf den ersten Blick: Ich habe eine Melodie zu diesen Worten, die ich eine Ballade nennen müßte, geschrieben.
Wolf Biermann
Sein ganzes Schaffen ist gebündelt zu härtester Substanz, spröde verdichtet in seiner Lyrik. Man ist versucht zu zitieren, Gedicht für Gedicht. Klänge der Elegie in den Nachrufen und Widmungen; Maximen in versgewordenen Reflexionen; Appell und Postulat. Der Sahl Ton. Ton von Vermächtnis als Verpflichtung.
Peter Wapnewski
Formalismus, Hermetik, abstrakte Ästhetik oder besondere Artistik ist dem Schaffen dieses zeitlebens moralisch wie politisch hochbeteiligten Bekenntnis-Lyrikers nicht zuzuordnen. Wohl aber bilderreichste, fast sinnlich greifbare Metaphorik – und immer seine Omnipräsenz der Aufrichtigkeit und der Unbestechlichkeit. Es scheint, als wäre Sahl einfach alles zu Lyrik geronnen, was ihm an Biographischem zugestoßen ist – Poesie als lebenslängliche Konstante…
Walter Eigenmann
MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2012
Wie eine letzte Stimme. Wie ein Ton, der um sein Verebben weiß. Diese Stimme, wenn Stimmen das können – lächelt. Ja, es ist das Lächeln einer Verabschiedung, und es gibt ein Lächeln des Abschieds, das so begütigend wie traurig wirkt. Eher begütigend als traurig – weil das Bittere nun zu Ende geht.
Unser bester Kunde ist das
schlechte Gewissen der Nachwelt.
Greift zu, bedient euch.
Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.
Hans Sahl. Dem Schriftsteller, der 1902 in Dresden geboren wurde, ins US-amerikanische Exil ging, 1953 erstmalig wieder nach Deutschland kam, erst 1989 endgültig zurückkehrte, nach Tübingen, wo er 1993 starb – ihm ist jetzt ein Heft in der Reihe Poesiealbum gewidmet. Es sind Gedichte eines sehr leisen Klopfezeichengebers, Sahl ist noch in berechtigter Anklage ein Bittender um Gehör, und in bleibender Furcht ist er doch stetig ein Dankbarer:
Stärke schwindet, Ruhm der Strenge,
Amt und Ordnung früher Tage,
Und wir sind oft wunderbar
Eingehüllt in Nacht und Klage.
So schreibt er über das Alter, und alt geworden ist dieser Feuilletonist, in dem spät der Dichter entdeckt wurde, über den Gräben und Gräbern der Finsterzeit.
Es ist das Erstaunliche an diesen Gedichten, und es darf nicht zur Beruhigung führen: Die Zuneigung fürs Leben erwächst aus den Bedingungen, die es schänden; die Kraft erwächst aus der Erfahrung der Schwäche. Das redet beileibe keiner Schwere das Wort, die nötig sei, um einer Existenz das Kostbare bewusst zu machen, es ist eher ein schlimmes Paradoxon – aber zu reden ist bei Hans Sahl sehr wohl über die Sprengkräfte des Unscheinbaren und darüber, dass sie sich verschleißen mussten an unhaltbaren Zuständen. Und doch haltbar blieben in dem, was doch eigentlich nicht durchhaltbar schien.
Das macht zornig, das weckt auf, das mischt der Lektüre dieser erzählenden Verse einen so ungeheuren Willen bei, gegen die deutsche Schande zu schreien. Gerade weil dieser Dichter so behutsam strahlt. Seit 1995 gibt es den Hans-Sahl-Preis, es ist ein Preis für, ja, so muss man sagen: Tapferkeit.
Diese Lyrik sucht nicht Metapher und Verschlüsselung, sie steht gleichsam am offenen Fenster zur Nacht und betet in klaren Worten zum wach gebliebenen Herzen.
Bewahre dich, bis deine Stunde schlägt.
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Hans Sahl
Hanns-Josef Ortheil: Klaus Siblewski wird siebzig
Börsenblatt, 16.10.2020
Christian Lindner: Der Exilschriftsteller Hans Sahl
deutschlandfunk, 27.4.2018
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