Heinz Czechowski: Ich und die Folgen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Heinz Czechowski: Ich und die Folgen

Czechowski-Ich und die Folgen

ABSICHTEN

Mit Taschenspielertricks
Erwerbe ich mir
Die täglich notwendigen Dinge.

Weil ich entbehrlich bin,
Thronen die, die sich für unentbehrlich halten,
Vor mir.

Ab und zu
Bekomm ich die Abrechnung zugeschickt
Und entziffere
Meine Aussichten.

Meine Absichten
Sind nicht gefragt. Meine Fragen
Warten schon lange nicht mehr
Auf ihre Antworten.

Ich hege in mir den Verdacht,
Daß der kleine Mann
Wieder im Kommen ist.

Ich würde gern
Auf mich verzichten, sähe ich nicht,
Daß der Unterschied zwischen arm und reich,

Zwischen Ohnmacht und Macht
Nicht geringer ist. Also
Schreib ich zwischen Angel und Tür

Meine Gedichte über die Sprachlosigkeit derer,
Die ihre Stimme
Abgeben, wenn es gewünscht wird.

 

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Beiträge zu diesem Buch:

Konrad Franke: Sprachlos geworden
Süddeutsche Zeitung, 7.10.1987

Andreas Kilb: Ach ach mein Ach
Die Zeit, 4.12.1987

Wulf Segebrecht: Im Niemandsland
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.3.1988

Jürgen P. Wallmann: Gedichte vom Alltäglichen
Deutschland Archiv, Heft 4, 1988

Beatrice von Matt: Ein Dichter im Vergleich mit sich selbst
Neue Zürcher Zeitung, 8.7.1988

 

Die Zukunft liegt noch hinter uns

Es gibt heute wohl kaum einen deutschsprachigen Lyriker von Rang, der sich mit den Fehlschlägen der jüngeren Geschichte und ihrer schleichenden Selbstabschaffung „durch Vergeßlichkeit“ derart intensiv auseinandersetzt, wie dies der 1935 in Dresden geborene, jetzt in Leipzig lebende Heinz Czechowski tut. Dessen poetisches Werk gewinnt seit einigen Jahren, im stillen zwar, aber beharrlich, um so mehr politisches Profil und dichterische Aussagekraft, als das Interesse der Mitlebenden für historische Entwicklungen stetig abnimmt und ein übergreifendes gesellschaftliches Zielbewußtsein erlischt.
Nach Herkunft, Alter und künstlerischem Werdegang gehört Czechowski zu der Gruppe kritischer DDR-Autoren, die Adolf Endler einmal als „Sächsische Dichterschule“ bezeichnet hat. Schriftsteller wie Volker Braun, Bernd Jentzsch, Sarah Kirsch, Rainer Kunze oder Karl Mickel etwa, deren literarische Anfänge nicht zuletzt von der „Landschaft als soziokulturellem Erfahrungsraum“ (W. Emmerich), dem sie entstammen, geprägt wurden. Diese prononcierte und gleichermaßen verletzliche Beziehung zur landschaftlichen Umgebung halten die Gedichte Heinz Czechowskis unverändert aufrecht, wie sein jetzt im Westen erschienener Band Ich und die Folgen aufs neue belegt. Landschaft, wohlgemerkt, nicht als Sujet einer rührseligen Feld-, Wald- und Wiesendichtung, sondern immer als Erinnerungsland, in dem die Blutspuren der Vergangenheit sich kreuzen mit den falschen Fährten, die ein von technischer Fortschrittsgläubigkeit verhexter Zeitgeist auf die Zukunft hin legt.
Über sein Schaffen gab Czechowski in einem Interview zu Protokoll:

Ein nicht geringer Teil des von mir Geschriebenen resultiert aus Erfahrungen meiner Kindheit und Jugend, die ich in Dresden verbracht habe. Die Bombennacht des 13. Februar 1945 ist für mich zu einem Grunderlebnis geworden, das meine Weltsicht wesentlich mitbestimmt hat. (…) Wenn ich so etwas wie ein Fazit aus meinen Jugendjahren zu ziehen versuche, dann könnte dies lauten: die existentiellen und politischen Erfahrungen jener Jahre haben mich gelehrt, die Geschichte illusionsloser zu sehen. Das wiederum könnte meinen Arbeiten – nach einigen Irrwegen – dadurch zugute kommen, das ich kompromißloser als bisher das einlöse, was im Gedicht als erfahrene und erlebte Wirklichkeit zur Sprache gebracht werden sollte.

Was sich da als komprimiertes Programm kundtut, erfordert in der literarischen Praxis doppelte Anstrengung, Gedächtnisarbeit nämlich und Wahrnehmungstraining, die Fähigkeit also, sich selbst rückwärts zu lesen (wie Walter Benjamin das nannte) und zeitgleich die Welt ringsum nicht aus den Augen zu lassen.
Diese Ineinanderblendung von wachgerufener Erinnerung und alltäglichem Erleben schließlich schärft jenen eigenwilligen, von keiner Ideologie getrübten Blick für die reale Abnutzung gesellschaftlicher Verheißungen, mit dem Czechowski sich zunehmend radikaler, aber auch verbitterter in die Schar der Unbequemen schreibt.
Schon der vorläufig letzte von insgesamt vier in der DDR publizierten Gedichtbänden, Was mich betrifft (1981), manifestierte sein Verhältnis zum eigenen Land als „So, wie es sein soll: ganz unsentimental.“ Offene, bisweilen mokante Kritik am sozialistischen Leerlauf und an der drohenden Zerstörung der Landschaft und ihrer Menschen wechselt mit tiefer Skepsis angesichts der Gleichgültigkeit der Nachgeborenen gegenüber den Toten. Anklage und verhaltene Trauer grundieren auch die unter dem (Klopstock entliehenen) Titel An Freund und Feind vorgelegten Gedichte, mit denen Czechowski 1983 in der Bundesrepublik debütierte.
Nicht nur die Wiederaufnahme einer Reihe von Texten aus den beiden genannten Publikationen in Ich und die Folgen (u.a. das Titelgedicht) indizieren die künstlerische Kontinuität des Autors. Abermals wird das allen Parolen und Trugbildern trotzende, auf sich selbst zurückgeworfene Subjekt zum unbestechlichen Beobachter einer letzthin ir-rationalen wie festgefahrenen Wirklichkeit. „Ich schreibe keine Lehrgedichte, / Das überlaß ich andern, die das auch nicht können“, heißt es einmal mit sarkastischer Absage an jede Form naiver Welterklärung. Das Gedicht kolportiert weder Wahrheiten noch monologisiert es mit sich selbst, sondern bleibt ein Widerstandsnest inmitten des „Chaos, das mich umgibt.“ Lyrisches Schreiben als Einspruch und Anamnese:

meine Schwester
Nennt sich Vergeblichkeit, ihre Botschaft
Trage ich dem Vergessen entgegen,
Wie der Fluß seine Phenole
Und die sterbenden Fische,
Die keine Namen mehr haben.

Czechowski, der auch als Essayist und Übersetzer Bemerkenswertes geleistet hat, ist ein Kenner der Tradition, ihrer Techniken und Stilrichtungen. Seine Arbeit gewinnt dadurch, mehr noch: sie erobert auch die vergessene Literaturgeschichte zu einem guten Teil zurück, wovon nicht nur das schöne Dichterporträt Jessenins („Wer ihn lesen wird dereinst? Wer weiß…“) oder „In memoriam Tibor Déry“ zeugen.
Eine oftmals eigentümliche Balance zwischen elegisch-gezügelter Sprachmelodie und lakonisch-trockenem Ausdruck verleiht den Poemen einen Effet, der die prägnanten, mitunter absurden Bilder („Ich sah drei erlöschende Sonnen“) weit ins Hirn des Lesers trägt. Allein, es sind, ungleich häufiger als früher, Bilder der Ernüchterung und des Kummers, wo nicht Zynismen des blanken Entsetzens:

Die Zukunft liegt noch hinter uns,
Denn es ist dafür gesorgt,
Daß uns nichts überholt, es sei denn
Herr Kafka aus Prag,
Als Landarzt verkleidet,
Um im Blockhaus in Dresden
Einen Vortrag zu halten
Über die Folgen
Nicht wiedergutzumachender
Erfolge.

Tod und Verfall werden zu immer wiederkehrenden Motiven, die der reimlose, freirhythmische Fluß der meist düster-visionären Verse mit sich schwemmt. Denn „Der Himmel darüber / Verkündet ein großes Verhängnis / Das kommen wird“ – poetische Kassandrarufe, hineingeschickt in das „Einerlei von Geschichte“, um manchmal, ganz schwach noch, den Widerhall von „Hoffnung“, nicht Zuversicht!, zu vernehmen.
Czechowskis zu Kunst gewordene Sensualität ist die des Melancholikers, dessen wachem Auge zuallererst die – mehr oder minder – virulente Vergänglichkeit entgegenspringt, die in den Dingen hockt, und die sein Bewußtsein jeweils als Sinnbild reflektiert:

Alles ist metaphorisch, sagt K., und ich
Widerspreche ihm nicht

 

(„Deutschland, 1986“).

Und doch, so sehr sich die Welt ihm als „perspektivlose“ aufdrängt, Fatalismus wird man diesem Dichter nicht nachsagen können, wenn er seinem Zähneknirschen noch Zeilen wie die aus „Der schöne Tag“ entlockt:

Die Sinnlosigkeit dieser Welt
Begriffen zu haben, nennt einer Gnade.
Da streit ich mich lieber mit Gott,
Während sein Atem ums Haus geht,
In dem ich liege und wart auf die Nacht:
Unermüdliche Arbeit.

Heinz Czechowskis „unermüdliche Arbeit“, kein Zweifel, verdient Beachtung. Solange jedenfalls, wie die Erinnerung an die Leiden und Gefährdungen – nicht nur früherer Epochen – ihren festen Platz in den deutsch-deutschen Gedächtnislücken hat.

Michael Kohtes in Neue Deutsche Hefte, Heft 199, 3. Quartal 1988
auch in die horen, Heft 167, 3. Quartal 1992

 

Gespräch mit Heinz Czechowski

– Im Frühjahr 1984 sprachen Marieluise de Waijer-Wilke und Gerd Labroisse mit Heinz Czechowski. –

Marieluise de Waijer-Wilke und Gerd Labroisse: Wie ist Ihr Weg als Schriftsteller, auf dem die Gedichtbände wichtige Etappen markieren, verlaufen? Was sind Ihre „Grunderfahrungen“ mit der Wirklichkeit und der Kunst?

Heinz Czechowski: Um die Mitte der fünfziger Jahre begann ich mit ersten Schreibversuchen. Ich lebte damals noch in Dresden, meiner Heimatstadt. Neben den betörenden Reizen der Lößnitz oder der Elblandschaft bei Loschwitz erlebte ich die Stadt noch als das, was der Maler Wilhelm Rudolph „Dresden als Landschaft“ genannt hat: als eine Landschaft der von den Opfern der Luftangriffe bewohnten Trümmer, der einplanierten Flächen, auf denen die ersten Neubauten entstanden. Man darf nicht vergessen, daß seit der Nacht des 13./14. Februar 1945 erst zehn Jahre vergangen waren. Aber in dieser zerstörten Stadt gab es ein für damalige Begriffe außergewöhnliches kulturelles Leben: Ich erinnere nur an die Staatskapelle. Nicht zu vergessen die Dresdner Malerei: Wilhelm, Rudolph, Paul Wilhelm, Curt Querner, Hans Grundig, um nur einige Namen zu nennen. Und natürlich die weiterwirkende Kraft der Brücke, Kokoschkas oder Otto Dix’. In meine Lehrzeit als Graphischer Zeichner und Reklamemaler fiel der Tod Stalins. Ich erinnere mich an eine kalte und düstere Zeit, unfreundlich, voller Ängste, die teilweise bereits der Geschichte angehören oder abgelöst worden sind von noch schlimmeren, globalen Bedrohungen. Damals suchte ich für mich nach einem Ausweg aus der platten Misere des Alltags. Dieser Ausweg schien mir die Flucht in die Kunst, wie ich es rückblickend nennen würde. Allerdings war mein Wissen um das, was Kunst ausmacht, was sie zu leisten vermag und was sie einem abverlangt, beschämend gering. Ich schrieb Verse, fand mich mit ein paar gleichgesinnten Freunden zusammen, unter ihnen der Dichter und Regisseur B.K. Tragelehn, und verschwor mich mit ihnen dem Dresdner Jazz, der damals noch keine offizielle Anerkennung genoß. 1956 schickte ich einige Gedichte an Peter Huchel; zwei davon nannte er in einem Brief an mich „starke Talentproben“. Das war eine ungeheure Ermutigung für mich. Ich wurde Mitglied der Arbeitsgemeinschaft junger Autoren im Dresdner Schriftstellerverband und bewarb mich mit Unterstützung des Verbandes um einen Studienplatz am damals gerade gegründeten Literaturinstitut in Leipzig. Aus dem überschwenglichen Ausbruchversuch ins Reich des schönen Scheins wurde durch das Studium dort etwas Ernsthafteres. Dafür danke ich vor allem Georg Maurer. Er vermochte als einer der wenigen schöpferischen Lehrer des Institutes nicht nur Begabungen zu erkennen, sondern auch zu fördern. Daher war es nicht seine Art, einzelne Schüler herauszuheben oder zu bevorzugen. Er betrachtete das Lyrikseminar als ein Kollektiv, in dem der einzelne unter seiner unautoritären Leitung selbst herausfinden sollte, was er vermochte oder nicht.

Waijer-Wilke und Labroisse: Kann man sagen, daß Maurer eine ähnliche Bedeutung wie für Sie auch für die anderen DDR-Autoren der mittleren Generation hatte?

Czechowski: Nicht für alle, aber in meiner Generation zumindest für einige, und nicht nur unmittelbar für seine Schüler. Es gab einen Freundeskreis um Georg Maurer mit Lyrikern meiner Generation, zu dem Karl Mickel, Volker Braun, Sarah Kirsch, Rainer Kirsch, der Syrer Adel Karasholi, Bernd Jentzsch , Andreas Reimann, später auch Wulf Kirsten gehörten, Leute, die über das Schüler-Lehrer-Verhältnis hinaus bei Maurer freundschaftlich partizipierten, nicht nur poetisch, sondern auch theoretisch. Aber auch andere, die ich hier nicht genannt habe, wie Adolf Endler, sind Maurer verpflichtet. Maurer gehört zu den damals wie heute seltenen Dichtern, deren Lyrik von einem essayistischen Werk begleitet wird…

Waijer-Wilke und Labroisse: Welche Essays von Maurer lagen zur Zeit Ihres Literaturstudiums am Leipziger Institut schon vor? Und was machte Maurer zu dem großen Lehrer, der er war?

Czechowski: Erreichbar war damals das 1956 erschienene Buch Der Dichter und seine Zeit. Essays wie „Über das Bleibende in der Dichtung“, „Zur deutschen Lyrik der Gegenwart“ oder „Zum Problem der Heimatdichtung“ waren für uns wichtige, weil unorthodoxe Klärungsversuche. Sie öffneten den Blick auf das Wesentliche der deutschen Klassik, aber auch auf die Lyrik der Welt und auf jene, die man damals als „spätbürgerliche“ bezeichnete. Übrigens hat Georg Maurer die Gabelung der modernen Lyrik in spätbürgerliche und sozialistische auch gesehen, etwa die Unterschiede zwischen Heym und Becher oder zwischen dem jungen Becher und Rilke. Aber er hat keine Zensuren verteilt und solche Unterschiede nicht dogmatisch festgeschrieben. Wenn es heute innerhalb der Kulturpolitik der DDR eine nicht übersehbare Flexibilität im Verhältnis zur Moderne gibt, so ist das auch ein Verdienst Georg Maurers, der in seinen Essays um eine Erweiterung des Erbe-Begriffs gerungen hat.
Wie gesagt: Maurers Autorität bestand nicht darin, fertige Urteile vorzulegen. Er nahm die Arbeiten seiner Schüler zum Anlaß, jedes Gedicht zu prüfen, indem er Vergleichbares zu Rate zog. Dabei stellte sich oft heraus, daß das, was in dem Gedicht gesagt wurde, vor hundert, fünfhundert oder gar tausend Jahren schon einmal besser gesagt worden war. Aber Maurer erkannte auch die Ansätze zu etwas Neuem in einem im ganzen vielleicht mißglückten Gebilde: Ein Wort, das einen neuen Platz gefunden hatte, oder gar ein Bild, eine Metapher, die sich als neu oder auch nur in einem neuen Zusammenhang befindlich herausstellte, beglückte ihn. In solchen Momenten sah er sich dann auch in seinem Amt als Lehrer, an dem er oft zweifelte, bestätigt.

Waijer-Wilke und Labroisse: Ich kann mir vorstellen, daß dies zur Herausbildung und Ausbildung von jungen Schriftstellern und Dichtern fruchtbar ist, vor allem, weil sich dann auch der Horizont weitete durch die Heranziehung von Weltliteratur. Aber ergab diese Methode dann Maßstäbe, bleibende Maßstäbe auch für jetzt?

Czechowski: Obwohl Georg Maurer in seinem Essay „Über das Bleibende in der Dichtung“ versucht hat, derartige Maßstäbe zu nennen, würde ich es nicht als ein Merkmal seiner Arbeit betrachten, immer und in jedem Fall das Endgültige präpariert zu haben. Gerade Maurer war ja gegen jedes Dogma, Kunstregeln waren nicht seine Sache. Maurer wandte sich gegen falsche, dekretierte Maßstäbe, indem er in seinen Essays auf solche Gedichte und Dichter hinwies, die ihre Gültigkeit über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte bewahrt haben. Er vollzog damit eine dialektische Bewegung. Maurer, der ja von Haus aus Kunstwissenschaftler war, bevorzugte den Vergleich. Indem er das Unechte mit dem Echten, das Gelungene mit dem Mißlungenen verglich, gewann er Maßstäbe für die Gegenwart. An das Ewige, für alle Zeiten Maßstab setzende, glaubte er wohl nicht. Seine Fragen richteten sich eher an das, was an einem Gedicht vergänglich ist, als an das, was unvergänglich ist. Aber gerade durch diese Methode gewann er die Fähigkeit, auf das Maßstabsetzende hinzuweisen. Und durch diese Methode selbst hat Maurer Maßstäbe gesetzt. Eine der Chancen der Lyrik, wie sie Maurer verstand, ist es, die bohrende Frage nach dem Sinn unserer, Existenz wachzuhalten, nicht zuletzt, weil sie im Alltag verdrängt wird von Patentantworten. Vielleicht hatte Maurer noch den Vorzug, die Welt ganzheitlicher sehen zu können, als das uns heute möglich ist. So gesehen war sein Weltbild noch fähig, Maßstäbe setzen zu können, Werte anzuerkennen, die wir heute in Frage stellen…

Waijer-Wilke und Labroisse: Auch Ihre Dichtung stellt wiederholt die Sinnfrage nach der Existenz…

Czechowski: Diese Frage stellt Dichtung meiner Ansicht nach immer. Da aber ein Gedicht bekanntlich nicht bis zuletzt auflösbar ist, bleibt in ihm immer ein Rest von Unbekanntem, Unauflöslichem. Die Maxime „Man halte sich ans fortschreitende Leben“ ist in diesem Sinn ebenso platt wie wahr. Das fortschreitende Leben ist aber leider nicht mit dem Fortschritt identisch. Die immer mehr zunehmende Bedrohung des ökologischen Gleichgewichts, die Potenzierung der Rüstung, der Hunger – all das ist ja unaufhebbar mit jeder einzelnen Existenz verbunden. Wäre man sich all dieser Probleme ständig bewußt, wäre es unmöglich, ein Gedicht zu schreiben. Andererseits kann man der Sinnfrage des Lebens nicht ausweichen, man schreibt gegen sie an, um sie zu ermitteln. Aber ich kann Ihnen nicht verschweigen, daß es mir in letzter Zeit immer schwerer fällt, Gedichte zu schreiben. Wenn es mir früher genügte, den Vers Bechers „Laßt uns bewahren die Landschaft im Lied“ zu einer Art Maxime zu machen, so sah ich in den letzten Jahren meine Aufgabe eher darin, meiner Skepsis Ausdruck zu geben, und dies ohne jede didaktische Absicht, wie sie den sogenannten „Warngedichten“ eigen ist. Heute glaube ich, daß keine noch so gute Absicht, sondern nur die Identität des Schreibers mit dem Geschriebenen Gedichte hervorbringt, die etwas zu sagen haben.

Waijer-Wilke und Labroisse: Ist daher Dresden für Sie, der als Kind die Zerstörung dieser Stadt miterlebt hat, eine Art Topos in Ihrem Werk, ein Topos für Zerstörbarkeit überhaupt?

Czechowski: Wahrscheinlich beziehen Sie sich auf eine Antwort von mir, die in dem Interview mit den Hartingers vorkommt. Wenn ich dort die Zerstörung Dresdens als mein Grunderlebnis bezeichne, das für mich ein Jahrzehnt später zum Schreibanlaß wurde, dann meine ich natürlich nicht, daß man auf eine derartige Katastrophe angewiesen ist, um schreiben zu können. Allerdings vermute ich, daß ein Schriftsteller ein prägendes Grunderlebnis benötigt, dessen Bewußtwerdung ihn aus sich heraustreten läßt. Die geschichtliche Situation, der ich als Zehnjähriger gegenüberstand, war die einer Katastrophe, eines totalen Zusammenbruchs. Daß dieser Zusammenbruch historisch gesehen auch eine Befreiung war, begriff ich erst später. Als ich von Auschwitz und Buchenwald hörte oder im Kino den Rauchpilz von Hiroshima sah, verstand ich auch die Bilder, die sich mir bereits in meiner Kindheit eingeprägt hatten: die Kolonnen zur Arbeit gepreßter russischer Frauen, die Gesichter der Gefangenen hinter einem Stacheldrahtzaun, die Männer und Frauen mit dem gelben Stern am Mantel, die einem hin und wieder in den Straßen Dresdens begegneten. Und eben das Bild der brennenden Stadt, die Toten unter der Bahnunterführung des Neustädter Bahnhofs, die Fotos der brennenden Leichen auf dem Altmarkt, die Panjewagen, die in ununterbrochenen Zügen die Toten in die Massengräber des Heidefriedhofes brachten. Durch die historische Wende wurden diese Bilder zu einer inneren Realität, die mehr und mehr an geschichtlicher Tiefe gewann.
Vielleicht gehört es zum Wesen des Dichters, schlechter als andere vergessen zu können, Allerdings glaube ich heute, daß die Auseinandersetzung, die ich bisher in meinen Gedichten und in einigen Prosastücken mit diesem Grunderlebnis geführt habe, zu einem gewissen Abschluß gelangt ist. Aber auch, wenn die Zeit andere Gegenstände auf die Tagesordnung setzt, wird das Grunderlebnis, das meine Schreiberfahrungen geprägt hat, fortwirken. Wir müssen uns mit dem Gedanken auseinandersetzen, daß der Krieg noch immer nachwirkt und die gesellschaftlich bedingten Veränderungen Folgen zeitigen, die wir nicht erwartet und erhofft haben – Ausdruck einer furchtbaren Dialektik, zu deren Wirkungen gehört, daß, wie Brecht sagt, der Frieden möglicherweise vernichtet, was der Krieg verschont hat.

Waijer-Wilke und Labroisse: Können Gedichte genügend von diesem Stoff: von Geschichte und dem „Konfliktstoff“, der in der Gegenwart liegt, um mit Ihrem eigenen Ausdruck zu sprechen, aufgreifen, ohne die Wahrheit zu beschädigen?

Czechowski: Es besteht vielleicht die Gefahr, daß eine Antwort auf Ihre Frage zunächst von der Poesie wegführt. Andererseits ist ein Dichter apriori nicht ein besonderer Mensch, aber er reagiert spezifisch auf die Geschichte und die Konflikte seiner Zeit, der Gesellschaft, in der er lebt. Insofern ist der Stoff „Geschichte“, von dem Sie sprechen, für mich immer der eigentliche „Inhalt“ des Gedichts. Als Mitteilung eines Ichs wird es gesellschaftlich wichtig, ja schon während seiner Entstehung richtet es sich – mehr oder weniger bewußt – an einen Adressaten. Poesie entsteht, so meine ich, aus dem Zusammenprall von Ich und Wirklichkeit, von Ich und Gesellschaft. Ich übersehe jedoch nicht die Zeiten, in denen die Gesellschaft, in der ich lebe, oder deren Vertreter daran interessiert sind, der Poesie ein gesellschaftliches Mitspracherecht abzusprechen. Immer wieder werden dann bestimmte Bücher nicht erscheinen, bestimmte Gedichtbände nicht gedruckt werden. Derartige Reaktionen bestätigen eigentlich die Wirkung des Stoffs Geschichte und der Konflikte der Gegenwart, wenn sie durch Literatur fixiert werden. Sie wissen jedoch so gut wie ich: kein Gedicht, kein Buch, das geschrieben werden muß, kann auf die Dauer verhindert werden.

Waijer-Wilke und Labroisse: Ihre Generation wurde von der älteren Generation der Schreibenden gefördert. Wie ist das Verhältnis heute zu den jungen Lyrikern, gibt es da Persönlichkeiten, die der Maurers als Förderer vergleichbar wären?

Czechowski: Nein, die Verbindungen zwischen den verschiedenen Generationen haben sich, so scheint es mir, gelockert. Etwa in meinem jetzigen Alter war Maurer eine Autorität, die von den meisten der damals jungen Lyriker akzeptiert wurde, als Dichter, als Persönlichkeit. Ich kenne heute außer Franz Fühmann niemanden, der eine solche unumstrittene Anerkennung genießt. Aber anders als bei Maurer steht hinter Fühmann keine Institution. Fühmanns Engagement für Uwe Kolbe oder Wolfgang Hilbig hat diese Dichter hier bei uns durchgesetzt. Innerhalb meiner Generation wüßte ich zur Zeit keinen, dessen Stimme so weit reicht wie die Fühmanns. Ob man freilich immer und überall auf ihn hört, das ist, leider, eine andere Frage…

Waijer-Wilke und Labroisse: Sie wenden sich mit der Gedichtform, in der Sie schreiben und die Sie selbst benennen als „Gelegenheitsgedicht“, gegen die Formen, die durch Maurer und auch durch einige Vertreter Ihrer Generation wie Endler und Mickel propagiert wurden: das große Weltanschauungsgedicht.

Czechowski: Eigentlich wollte ich ja mit dem Begriff „Gelegenheitsgedicht“ zunächst nur meine poetische Methode kennzeichnen: das Gedicht als Reaktion auf den erlebten Moment, den Kreuzungspunkt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in dem geschichtliche Erfahrung bewußt wird, notierbar. Goethe, auf dessen Begriff vom „Gelegenheitsgedicht“ ja unsere heutige Verwendung fußt, erwähnt ihn zunächst im Zusammenhang mit Johann Christian Günther, wenn er dessen große Leichtigkeit rühmt, mit der er „alle Zustände durch Gefühle zu erhöhen“ wußte. Er selbst, Goethe, hat später bekannt, alle seine Gedichte seien Gelegenheitsgedichte, also der Wirklichkeit entnommen und dieser verpflichtet.
Die Gedichte der Anthologie In diesem besseren Land, die Sie hier erwähnt haben und deren Lektor ich übrigens war, versammelte tatsächlich in ihrer Tendenz Gedichte, die sich als in sich verzahnte Gebilde und weitangelegte Entwürfe darstellten, wozu sich die Herausgeber übrigens ausdrücklich bekannten. Das waren Gedichte, die sich teilweise geradezu ekstatisch einer sozialistischen Weltanschauung zuwandten; man hätte annehmen dürfen, diese Bilanz der damals bisherigen DDR-Lyrik hätte nichts als Gegenliebe hervorgerufen. Dem war jedoch nicht so. Die Amtswächter der offiziellen Literaturkritik, insofern sie es nicht vorzogen, das Buch zu verschweigen, reagierten, wie nicht wenige Germanisten, ablehnend. Die schwierigeren Gebilde der Anthologie, die sich unverkennbar – wenn auch mitunter sehr vermittelt – auf Hölderlin oder Klopstock beriefen, gerieten offenbar in den Verdacht, nicht genügend „volkstümlich“ zu sein, während das „Liedhafte“ und „Eingängige“ vermißt wurde. Während die Gruppe der etwa um 1935 geborenen Lyriker dieses Buches sich treu blieben und weitermachten, ergab die Ablehnung des Buches auch einen Rückfall in jene lyrischen Tändeleien, wie sie heute noch an der Tagesordnung sind. Das große Weltanschauungsgedicht, also jenes einer inneren Tektonik und Sprachstrategie folgende Gebilde, das die gesellschaftlichen Widersprüche in sich austrägt und damit nach außen richtet, geriet bei den jüngeren zunächst in Vergessenheit, wurde jedoch von Dichtern wie Steffen Mensching, Uwe Kolbe oder Wolfgang Hilbig wiederentdeckt.
Nach diesem kleinen historischen Exkurs werden Sie vielleicht verstehen, daß ich mich mit meinem Bekenntnis zum „Gelegenheitsgedicht“ nicht im Gegensatz zum „Weltanschauungsgedicht“ sehe. Zunächst entscheidet über ein Gedicht, daß es ein Gedicht ist. Ich gehe von dem Moment des erfahrenen Lebens aus, das mich zum Schreiben anregt. Die „reinen“ Weltanschauungsgedichte in meinen früheren Gedichtbänden konnten sich vielleicht einer gewissen Sinnlichkeit erfreuen, waren jedoch belastet mit allerlei Unschärfen, rhetorischen Klärungsversuchen…

Waijer-Wilke und Labroisse: An welchen Band denken Sie?

Czechowski: Besonders an Wasserfahrt, hier besonders an Gedichte vom Typ „Ode an eine Motorradfahrt“, Gedichte, die mit stilistischen und gedanklichen Schlacken versehen waren, die es abzustoßen galt. Heute weiß ich: Gedichte dieser Art waren gewissermaßen „sozialistische Umstülpungsversuche“ von Texten Ingeborg Bachmanns, wie „An die Sonne“ oder „Große Ebene bei Wien“, denen ihr Mißlingen sozusagen in die Wiege gelegt war. Diese Schlacken erwiesen sich im Kern als jene Illusionen, mit denen die Welt des Sozialismus automatisch als eine bessere und vollkommenere besungen wurde. Damit fielen entscheidende Widersprüche unter den Tisch, die es durch Gedichte eigentlich zu treffen galt. Erst allmählich wurden diese Illusionen durch eine lakonische Nüchternheit verdrängt, die den Gedichten meines letzten Bandes Was mich betrifft, wie ich hoffe, eigen ist. Sich auch dem Absurden auszusetzen, ihm standzuhalten – das halte ich für eine Möglichkeit, meinen Einsichten in den gegenwärtigen Weltzustand zu folgen, um Gedichte zu schreiben, jedenfalls im Moment.

Waijer-Wilke und Labroisse: Gegen die Vergeblichkeit?

Czechowski: Ja, auch gegen die Vergeblichkeit und, wie Christa Wolf gesagt hat, auf Hoffnung hin. „Gegen die Vergeblichkeit“ – das ist die Minimal-Definition dessen, was möglich ist, das, was man überhaupt noch tun kann, nämlich: gegen die Vergeblichkeit anzuschreiben. Das ist viel; und insofern ist es vielleicht auch eine Maximal-Definition… Wenn man versucht, gegen die Vergeblichkeit anzuschreiben, also gegen das Absurde, gegen den Tod, negiert man ja nicht die gegen das Individuum wirkenden Widersprüche, aber man nimmt sie zur Kenntnis und versucht, sie schreibend zu überwinden. Die aus einer solchen Haltung gewonnene Hoffnung ist ein Gewinn an täglicher Zukunft, eine Zukunft, die freilich nicht bis ins Jahr Zweitausend reicht. Unsere persönlichen Möglichkeiten, also auch die des „Dichtens und Denkens“, übertragen sich nicht ohne weiteres auf die gesellschaftliche Praxis. Die geht ihren eigenen Weg und wird bestimmt von Machtstrukturen, die unabhängig von der Literatur existieren und diese kaum oder gar nicht zur Kenntnis nehmen. Wenn man erkennt, daß die persönliche Freiheit sehr eng begrenzt ist, bleibt die Hoffnung, sich innerhalb dieser Grenzen schreibend zu verwirklichen, im nächsten Schritt, auf den nächsten Tag zu.

Waijer-Wilke und Labroisse: Es ist uns aufgefallen, daß in keinem Ihrer beiden Auswahlbände, weder in Ich, beispielsweise noch in An Freund und Feind, die Landschafts- und Naturgedichte aufgenommen sind, die ganz stark die ökologische Problematik mittragen, wie z.B. „Diät“, „Landschaftsschutzgebiet“, „Das Elbtal“ (alle in Was mich betrifft).

Czechowski: Ich habe bei beiden Bänden meinen Herausgebern vertraut. Natürlich konnte ich in einigen Fällen meine Wünsche, mir gemäße Kompromisse durchsetzen. Aber Sie mögen recht haben, wenn Sie meinen, der von Ihnen genannte Akzent sei zu kurz gekommen, ein Akzent, der vor allem meinen letzten Gedichtband Was mich betrifft mitbestimmt.

Waijer-Wilke und Labroisse: Aber Sie bestätigen, daß gerade diese Gedichte das Augenmerk des Lesers richten wollen auf diese Probleme?

Czechowski: Wenn diese Gedichte den Leser mit ihren Möglichkeiten auf die dramatische Zuspitzung der ökologischen Situation aufmerksam machen würden, wäre ich nicht unglücklich. Aber geschrieben habe ich derartige Texte zunächst aus dem Bedürfnis, mich selbst mit dieser Problematik auseinanderzusetzen. Es gibt ja bereits in dem Gedichtband Wasserfahrt Texte, in denen ich meinen Blick auf die Natur als etwas durch den Menschen Bedrohtes gelenkt habe, obwohl mir diese Problematik damals in ihrer Schärfe noch gar nicht bewußt war.

Waijer-Wilke und Labroisse: Ja, im Titelgedicht wird die Fragwürdigkeit des Fortschritts angesprochen:

Aber
Es muß doch etwas sein,
Das den Fortschritt befiehlt,
Dieses Gleiten auf sanften Gewässern,
Auf Schienen, Elektronengehirnen, Systemen,
Kalkulierbaren: Rückkopplung
Auf die Erscheinung des Menschen.

 

Aber wenn da etwas verlorenging
Vom Liebesgeflüster, von
Der Fahrt auf dem Fluß, vom Grün
Und der Wölbung des Bergs, was
Blieb?

Czechowski: Auch dieses Erlebnis der bedrohten Natur hängt möglicherweise mit meinem „Grunderlebnis“ zusammen, Die unbeschädigte Natur, wie ich sie in den frühen Gedichten Peter Huchels bewunderte, habe ich ja nie erfahren; sie befand sich zur Realität meiner Kindheit und Jugend in einem diametralen Gegensatz, was sie für mich so anziehend machte. Meinen existenziellen Erfahrungen näher kamen die Gedichte eines anderen von mir damals wie heute bewunderten Dichters: Ich meine Günter Eich mit seinen Botschaften des Regens. Aber schon früher habe ich, ohne die Begriffe „Umwelt“ und „Ökologie“ überhaupt reflektiert zu haben, bereits in meinem ersten Gedichtband Nachmittag eines Liebespaares, meine damals nur sehr persönlichen Erfahrungen mitbedacht, etwa in dem Gedicht „Frühe“. „Wasserfahrt“, das Sie erwähnt haben, ist eines jener „Weltanschauungsgedichte“ der frühen sechziger Jahre, in dem der allgemeine Optimismus sich skeptisch einzufärben beginnt, was nicht irgendeinem modischen Trend, sondern einer neuen Erfahrung entsprach.

Waijer-Wilke und Labroisse: Ich gebe zu, daß der Titel An Freund und Feind für eine West-Ausgabe eines DDR-Autors ,griffig‘ ist, doch erfährt die Bandauswahl, wenn man sie kulminieren läßt in diesem dann auch den Titel abgebenden Gedicht, eine starke Reduktion. Wie kam es zu dieser Titel-Wahl?

Czechowski: Bekanntlich beruft sich dieser Titel ja auf eine gleichnamige Ode Klopstocks. Es handelt sich also bei dem Gedichttitel um eine Entlehnung. Als wir für den Hanser-Band einen Titel suchten, stellte ich eine Liste mit möglichen Vorschlägen zusammen, darunter auch „An Freund und Feind“. Als sich der Verlag dann dafür entschied, hatte ich nichts dagegen einzuwenden. Einer meiner Rezensenten in der BRD hat mich übrigens unter Bezugnahme auf diesen Titel als „Freund vieler Dichter“ bezeichnet, dem diese Freunde aber leider nicht helfen konnten, zu einer eigenen Stimme zu kommen, Aber es stimmt schon: ich habe das Spiel mit Entlehnungen und Zitaten mitunter weit getrieben. Insofern mag der Titel „An Freund und Feind“ ehrlich sein und etwas kennzeichnen, das der Hanser-Auswahl entspricht.

Waijer-Wilke und Labroisse: In dem Gedicht heißt es: „Die goldenen Stühle / Längst schon besetzt / Von Kopien nach Originalen“. Steht hier die Autorposition in Opposition zu einer anderen, schon besetzten?

Czechowski: Das Gedicht ist eine Collage aus Gedichtband-Titeln der DDR-Lyrik der siebziger Jahre. Mit diesem Text versuchte ich, oft weit Auseinanderliegendes zusammenzubringen, oder besser: noch einmal zusammenzubringen. Die von Ihnen zitierten Verse versuchen ironisch auf das Abseits zu regieren, in das einige wichtige Dichter durch die offizielle Kultur- und Literaturpolitik gebracht worden sind, indem man ihre Bücher, obwohl sie in der DDR erschienen waren, verschwieg oder unangemessen kritisierte. Erinnert wird u.a. an Brechts Gedicht „Die Literatur wird durchforscht werden“ und an ein Prosabändchen Rainer Kirschs mit eben dem doppelsinnigen Titel Kopien nach Originalen. Das ganze Beziehungsgeflecht verschweigt nicht, daß hier die Autorenpositionen in Opposition zu jenen stehen, die die goldenen Stühle besetzt halten. Von heute gesehen, wirkt dieses Gedicht freilich wie eine Idylle…

Waijer-Wilke und Labroisse: Sarah Kirsch ist vertreten mit „Zaubersprüche“, Sie selbst mit „Schafe und Sterne“ in dieser Collage…

Czechowski: Das ist alles aufschließbar.

Waijer-Wilke und Labroisse: Steht hinter jeder Zeile ein Zitat?

Czechowski: Nicht hinter jeder, aber mehr oder minder versteckt zitiere ich Zeilen aus Gedichten bzw. Gedichttitel oder Gedichtbandtitel von Volker Braun, Reiner Kunze, Adolf Endler, Georg Maurer oder Karl Mickel. Es ist vielleicht so etwas wie ein Insider-Gedichtchen. Aber das Publikum in der DDR hat diese Anspielungen verstanden, jedenfalls dort, wo ich das kontrollieren konnte: auf Lesungen.
Ihre Frage nach den Positionen versammelt noch einmal eine ganze Situation der DDR-Lyrik, nämlich jene, daß die genannten Gedichtbände jener Dichter in der DDR erschienen und von den Lesern auch gekauft worden sind, in der offiziellen Kritik jedoch kaum Beachtung fanden oder von ihr verschwiegen worden sind. Das diesbezügliche Unbehagen der Lyriker hat sich ja immer wieder Stimme verschafft, nicht zuletzt in den Lyrik-Diskussionen im Forum und in Sinn und Form. Möglicherweise wollte ich mit diesem kleinen Gedicht nicht mehr und nicht weniger sagen als: Seht her, da ist ein Angebot, nehmt es zur Kenntnis, ihr, die ihr auf die goldenen Stühle gesetzt seid, ihr, die ihr ja auch nicht mehr Originale seid, sondern Kopien nach Originalen. Das spricht, glaube ich, für sich, und man muß dieses kleine Gedicht ja auch nicht überinterpretieren.
In dem Gedicht vertrete ich die Positionen der Lyriker. Insofern wird schon, wie Sie sagen, „polarisiert“. Aber das Gedicht enthält auch ein Angebot „an alle“. Vielleicht könnte man den Gedichtband-Titel auch so verstehen. Aber ich will nicht verschweigen, daß der Titel des Gedichtbandes auch gewissen Kommunikationsschwierigkeiten zwischen dem Verlag und mir geschuldet ist. Mit anderen Worten: Hätte ich mich mit meinem Lektor, Herrn Buchwald, zusammensetzen können, so hätten wir vielleicht doch noch einen besseren, will sagen: treffenderen Titel finden können.

Waijer-Wilke und Labroisse: Sie sind ein Autor, der häufig seine Texte verändert, – wenn Einzelpublikationen in einen Gedichtband aufgenommen werden oder unlängst bei der Zusammenstellung Ihrer Auswahlbände für den Reclam– bzw. Hanser-Verlag. Hier betrifft es besonders den frühen Band Wasserfahrt (1967). Daß Sie vom Gedicht „Widerruf“ die beiden letzten strophischen Abschnitte gestrichen haben, ist wohl eine Ausnahme, allerdings sind die sprachlichen Veränderungen in den Gedichten „Wasserstück“ und „Brief“ (dessen letzte Zeile „In diesem besseren Land“ der von Mickel/Endler herausgegebenen und 1966 so diskutierten Anthologie den Titel gab) größer als bei den Gedichten aus späterer Zeit. Hat das bei Ihnen – wie bei Braun – zu tun mit einer veränderten Position, mit einem Weiter-Denken oder vorwiegend mit dem Streben nach sprachlicher ,Genauigkeit‘?

Czechowski: Als ich beispielsweise die Gedichte, die Sie erwähnt haben, wieder las, fragte ich mich, inwieweit ich meine neueren Einsichten oder einen neugewonnenen Standpunkt in sie einarbeiten könnte. Solche Korrekturen wollte ich nicht im Sinne einer falschen Aktualisierung vornehmen, sondern nur in dem Maße, wie sie von den vor Jahren geschriebenen Texten mitgetragen werden. So ergaben sich Kürzungen oder Zuspitzungen oder sprachliche Präzisierungen.

Waijer-Wilke und Labroisse: Manchmal ist aber ein Widerruf in dem, was dann neu formuliert ist, wenn Sie in dem Gedicht „Unvollendeter Brief“ aus Schafe und Sterne dann beim Wiederabdruck im Reclambändchen Was mich betrifft in die letzte Gedichtzeile einfügen: „nichts“.

Das alles
Um nichts zu beweisen.

Czechowski: Sie haben recht: das ist ein Widerruf! Aber eben nicht im Sinne einer Aktualisierung, sondern einer Präzisierung. Er entspricht meiner inzwischen gewonnenen Einsicht, daß Poesie weder etwas beweisen kann noch etwas beweisen will. Eine solche Wendung um 1800 könnte mir freilich den Vorwurf der Charakterlosigkeit eintragen…

Waijer-Wilke und Labroisse: – sicher nicht, dann hätten Sie es ja so stehen lassen können, wenn es Ihnen egal wäre.

Czechowski: Nein, ich habe bei der Arbeit an den beiden Auswahlbänden gemerkt, daß mir manche der früher geschriebenen Gedichte nicht gleichgültig geworden sind. Um so mehr fühlte ich mich zu behutsamen Korrekturen verpflichtet, die ja nicht alle so weit gehen wie die in dem Gedicht „Unvollendeter Brief“. Ich halte solche Korrekturen für legitim und könnte mich dabei auch auf Hölderlin, Brecht, Erich Arendt oder Volker Braun berufen, wenn diese Änderungen sich nicht schon aus sich selbst legitimieren würden, einfach durch die Tatsache, daß sie für jeden, den es interessiert, kontrollierbar sind, da ja die ,alten‘ Fassungen einsehbar sind.

Waijer-Wilke und Labroisse: Akkuraterweise müßte auf solche Neufassungen – vielleicht vom Herausgeber – hingewiesen werden.

Czechowski: Es handelt sich nicht um Neufassungen, sondern um einzelne Änderungen. Aber abgesehen davon: es sind meine Gedichte, mit deren Änderungen ich dem Leser ein neues Angebot mache, das meinem Selbstverständnis entspricht.

Waijer-Wilke und Labroisse: Mehrere Ihrer Gedichte habe ich als Liebesgedichte gelesen: „Und da standen die Männer mit Zeitungen unter dem Arm“; „Zwei Frauen“; „Testament“, alle in Was mich betrifft. Wie sehen Sie Ihren Beitrag zu dem Genre der Liebeslyrik in der DDR, das sich ja eigentlich erst seit Ende der sechziger Jahre entwickelte?

Czechowski: Es hat in den sechziger Jahren innerhalb der DDR-Lyrik eine Richtung gegeben, die eine forcierte Emanzipation der Sinnlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Wenn auch viele dieser Gedichte heute vergessen sein mögen, so hatte sich doch ein Durchbruch gegen Prüderie und Tändelei vollzogen. Obwohl ich mich dieser forcierten Richtung nie angeschlossen habe, mögen meine Liebesgedichte von ihr profitiert haben. Aber eigentlich betrachte ich fast jedes meiner Gedichte als „Liebesgedicht“: als mehr oder weniger von Erfahrungen berührt, zu denen eben auch die der Liebe gehört. Insofern bin ich Ihnen dankbar, daß Sie bestimmte Gedichte als Liebesgedichte gelesen haben, denn es hat auch nicht an kritischen Hinweisen gefehlt, in meiner Lyrik mangele es an solchen Gedichten. Es fällt mir übrigens schwer, meine Gedichte so gegeneinander abzugrenzen, um sagen zu können: dies ist ein Liebesgedicht, das nicht undsoweiter. Mir kam es eher darauf an, das Thema „Liebe“ in vielen Gedichten mitzubenennen, ohne den Anspruch zu erheben, „Liebeslyrik“ zu schreiben. Die Dimension des großen Liebesgedichtes weist immer über das eigentlich Genrehafte hinaus, erweitert sich zur Menschheitsdichtung, hinter der aber…

Waijer-Wilke und Labroisse: … eine Gestalt steht, die angesprochen wird?

Czechowski: Ja, das ist möglicherweise sogar ein Charakteristikum der eigentlichen Liebesdichtung: die Gestalt, sei es eine Beatrice oder eine Ulrike von Levetzow. Heute scheint mir allerdings nicht so sehr die Beschwörung einer Gestalt die Chance des Liebesgedichtes zu sein, sondern vielmehr die Benennung des Weltzustandes, in dem Liebe stattfindet, an dem sie leidet.

Waijer-Wilke und Labroisse: Ein besonderes Beispiel von Liebeslyrik ist das Gedicht „Zwei Frauen“, das Sie selbst auch als Liebesgedicht bezeichnen würden. Es bringt auch Natureindrücke ein, die Jahreszeit spielt eine Rolle und, was auffällig ist und ich so besonders daran finde, daß das Ich auf Abstand steht. Es beobachtet ja nur:

Von meinem Fenster aus sehe ich:
Zwei Frauen sitzen…

Das ist ein wahrgenommenes Motiv, wie wir es aus der Malerei kennen.

Czechowski: Es ist das „schreibende Ich“, das hier – wie oft auch in den Prosatexten. die ich geschrieben habe – die Szene eröffnet. Das Ich bezieht sich ein, auch wenn es, wie Sie sagen, „nur“ wahrnimmt. Wahrscheinlich könnte ich auch keine Prosa schreiben, in der Figuren und Handlung fiktiv sind und in der sich das schreibende Ich weitgehend ausklammert. Mit anderen Worten: Es fällt mir schwer, von meinen eigenen Erfahrungen abzusehen, auf die Authentizität des Ichs zu verzichten, was sich ja in gewisser Weise für einen Lyriker von selbst versteht. Dieses Ich jedenfalls, das sich in diesem Gedicht als eine Figur versteht, die sieht, begreift…

Waijer-Wilke und Labroisse: – die sieht, aber auch fühlt, nicht nur als Beobachter vom Fenster aus…

Czechowski: Ja, die auch fühlt, die emotional beteiligt ist. Denn der Beobachter, wie Bobrowski sagt, sieht nichts. Ich begreife mich im übrigen auch nicht als Beobachter, sondern als Beteiligter, der in die Szene eingeschlossen ist und irgend wann auch eingreifen wird, eintreten wird in die Situation, die er beschreibt.

Waijer-Wilke und Labroisse: Dieses Bestehen auf der Authentizität des Ichs ist doch auch eine Position, die erst erschrieben worden ist und auch in den Lyrikdiskussionen der sechziger und siebziger Jahre errungen wurde?

Czechowski: Ja, das ist richtig. Dieses Erschreiben, wie Sie sagen, ist so etwas wie ein Prozeß der Selbstbewußtwerdung beim Schreiben, der dahin führt, daß man überhaupt uneingeschränkt „ich“ sagen kann. Ursula Heukenkamp hat über mich einmal geschrieben, ich sei wohl der Lyriker der DDR, der am häufigsten „ich“ sagt. Ich selbst würde das so prononciert von mir selbst nicht behaupten – aber wenn es jemand, der mir fern steht, so sieht, habe ich nichts dagegen einzuwenden. Ich übersehe jedoch nicht – und gerade jetzt nicht, wo ich weniger Gedichte schreibe –, daß diese Fast-Auschließlichkeit des Bestehens auf dem Ich auch negative Wirkungen haben kann. Anders gesagt: man kann sich so ausschließlich auf sich konzentrieren, daß vieles andere ausfällt. Andererseits muß man trainieren, so auf dem Ich zu bestehen, daß es stellvertretend für andere spricht, die aus vielen Gründen nicht imstande sind, ich sagen zu können, Man muß sozusagen viele andere Ichs in seinem Ich versammeln. Sozial gesehen: Man hat kein Recht, nur an sich zu leiden; wichtiger scheint mir die Fähigkeit, mit vielen anderen mitzuleiden (und sich auch mit ihnen zu freuen, das ist ja eine Wechselbeziehung). Nicht zufällig heißt die Reclam-Auswahl Ich, beispielsweise – in diesem Sinne würde ich die Ausschließlichkeit meines Ichs schon vertreten können.
Diese Positionen sind nicht mehr rückgängig zu machen. Sie haben auch ihre, wenn auch sehr vermittelte Wirkung auf jene unter den jüngeren Dichtern, die versuchen, ihre eigenen, nicht kulturpolitisch dirigierten Wege zu gehen. Genausowenig kann man Maurers Gedanken zurücknehmen: Ich-Verlust bedeutet Welt-Verlust und umgekehrt. Das ist für eine Lyrik, die bemüht ist, Realität in sich aufzunehmen, hier bereits selbstverständlich geworden. In diesem Zusammenhang haben Sie durchaus recht, wenn Sie die Lyrik-Diskussionen, die sich über Jahre hingezogen haben, nicht unerwähnt lassen. Diese Diskussionen haben die Lyrik in einer gewissen Weise mit ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gebracht. Aber die „Fragen der Lyrik“ erwiesen sich eben als Fragen der Öffentlichkeit: die kulturpolitischen Reaktionen, die negative Resonanz der Kritik und einiger Germanisten zeigte es an.

Waijer-Wilke und Labroisse: Wie sehen Sie die Funktion und Bedeutung der Lyrik-Diskussionen von 1966, 1972 und 1976? Geben sie evtl. nur literaturtheoretische, literaturpolitische Bestätigungen bzw. Einordnungen für das, was insbesondere von den Autoren „innovativ“ geleistet wurde?

Czechowski: Diese Lyrik-Diskussionen – sei es die von 1966 im Forum oder die Kontroverse zu einem Aufsatz des Germanisten Hans Richter von Adolf Endler in Sinn und Form und auch die von Andreas Reimann in der Auseinandersetzung mit jüngeren Lyrikern angeregte von 1974 – waren zum Teil hochbrisante Versuche von Lyrikern, die, wie Sie sagen, „innovative“ Kraft der DDR-Lyrik auch in ihrem Verhältnis zur Tradition richtigzustellen. Aber gerade dieser Versuch, bei dem die Lyriker ihr Selbstbewußtsein nicht unter den Scheffel stellten, rief bei einigen Sachwaltern der Literatur Widerspruch hervor. Ich finde es nach wie vor bedauerlich, daß das Angebot der Lyriker von den Kulturpolitikern nicht angenommen wurde, auch als Kritiker mehr an die Öffentlichkeit zu treten. Heute sind die Stimmen der namhaften DDR-Lyriker innerhalb der literaturkritischen Szene geradezu erloschen.

Waijer-Wilke und Labroisse: Haben die Lyrikdiskussionen, an denen Sie auch als Essayist teilgenommen haben, für Sie als Lyrik-Autor eine wichtige Bedeutung? Und hat Ihre literaturkritische Essayistik ursächlich mit dem gerügten Zustand der ,professionellen Kritik‘ zu tun, indem sie in diese Lücke springt, oder ist sie eine ganz anders einzuordnende Tätigkeit?

Czechowski: Soweit ich mich nicht polemisch in die genannten Diskussionen eingemischt habe, unterliegt das Überdenken und Formulieren poetisch-biographischer Vorgänge, wie ich sie in meinen Versuchen über Erich Arendt, Günter Kunert oder Wulf Kirsten unternahm, anderen Gesetzen. Ich würde meinen, hier überwiegt der ruhig-bedachte Stil, der dem Leser helfen soll, den dargestellten Dichter vielleicht besser zu begreifen. Allerdings hoffe ich, daß neben der Darstellung poetologischer und biographischer Phänomene möglicherweise auch etwas darüber Hinausweisendes nicht zu kurz gekommen ist: die Erklärung meines Standpunktes, der selbstverständlich auch etwas mit dem auf den Fortschritt der Lyrik verweisenden Aspekt meiner polemisierenden Kollegen, wie beispielsweise Adolf Endler, zu tun hat. Außerdem bringen derartige Studien ja auch einen persönlichen Gewinn: Auseinandersetzung, Horizonterweiterung, Theoretisierung der Praxis – Dinge, die auch dem eigenen Schreiben zugute kommen. Der politisch-poetologische Gehalt der von Ihnen erwähnten Lyrik-Diskussionen, um noch einmal auf diese zurückzukommen, machte diese interessant und lebendig und wirkte wiederum auf die Lyrik zurück. Um 1966 – das waren die fruchtbaren Jahre, Gedichte waren nicht mehr verlängerte Sprachrohre, sondern sie begannen, sich auf ihre Autonomie zu besinnen – waren bisher ungehörte Klänge zu hören: die „Plejade“ (Adolf Endler) der DDR-Lyrik begann über die Grenzen der DDR hinaus zu wirken. Aber gerade das Bestehen auf „Innovation“ mag die Mehrzahl der Kritiker, die sich am Alten, längst Überhörten festhielten, beunruhigt haben. Seitdem sind auch weiterhin wichtige Gedichtbände dieser Lyriker hier erschienen, aber die Kritik hat kaum darauf reagiert. Von dem Verlust wichtiger Dichter wie Sarah Kirsch oder Günter Kunert will ich in diesem Zusammenhang gar nicht erst reden, aber er hat sicher etwas mit dieser Atmosphäre zu tun. Daraus ergibt sich geradezu von selbst, daß das, was Sie „professionelle Kritik“ nennen, gar nicht auf der Höhe der poetischen Praxis sein kann. Auch der „Abbruch der Beziehungen“ zwischen den Poeten und der publizierenden Germanistik, von der Adolf Endler einmal sprach, ist – von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen – existent. Was mich betrifft, so habe ich – abgesehen von Nachworten zu Ausgaben von Klopstock, Wilhelm Lehmann, Marie Luise Kaschnitz – kaum noch Gelegenheit gehabt, mich publizistisch zur Lyrik, geschweige denn zu jener der DDR-Gegenwart zu äußern.

Deutsche Bücher, Heft 4, 1984

DDR-Schriftsteller sprechen in der Zeit

Labroisse/Wallace: Wie schätzen Sie aus heutiger Sicht Ihre Äußerungen im früheren Interview ein und wie würden Sie dort angeschnittene Fragen ergänzen wollen?

Heinz Czechowski: Ich betrachte das Interview als ein Dokument und sehe keinen Anlaß, es aus heutiger Sicht zu ergänzen.

Labroisse/Wallace: Welche Chancen sehen Sie für sich als Autor in den wesentlich veränderten Verhältnissen seit der Wende? Erfahren Sie die neuen literarisch-gesellschaftlichen Verhältnisse (auch in bezug auf die Distribution) als Erleichterung, vielleicht auch als kreative Herausforderung, oder eher als Bedrohung?

Czechowski: Jede neue gesellschaftliche Situation ist für einen Schriftsteller – jedenfalls in meinem Verständnis – eine Herausforderung. Anstatt zu klagen, sollte man diese Herausforderung annehmen. Es gilt, auch weiterhin gegen das anzuschreiben, was mich beunruhigt.

Labroisse/Wallace: Meinen Sie, daß ,DDR-Literatur‘ eine abgeschlossene Epoche ist oder halten Sie es für möglich, daß von dieser Literatur bzw. von Ihnen selbst etwas DDR-Spezifisches in die deutschsprachige Literatur weiterhin eingebracht werden kann?

Czechowski: Meine Erfahrungen basieren auf meinem bisherigen Leben, von dem ich den größten Teil in der DDR verbracht habe. Sollte das, was ich bisher geschrieben habe, diese Erfahrungen unverstellt wiedergeben, was ich hoffe, so wird es auch außerhalb der räumlichen und zeitlichen Grenzen der ehemaligen DDR fortwirken. Das, was ich weiterhin schreiben werde, wird ein Versuch sein, diese Erfahrungen zu vertiefen. Der Wegfall der inneren Zensur bedeutet jedoch nicht automatisch, daß jene Kunsterfahrungen, die ich mir im Umgang mit der DDR-Gesellschaft erworben habe, wegfallen oder ungültig werden. Mein bisheriges Schreiben ist mitgeprägt von der Gültigkeit und den Grenzen einer Literatur, in der gewisse Spielregeln eingehalten werden mußten, wenn man, gedruckt, d.h. wirksam werden wollte. Das hat bis in die Wortwahl hinein den Stil meiner Arbeiten mitgeprägt und einen disziplinierten Umgang mit der Sprache gezeitigt. Ich hoffe, daß sich meine bisherigen Schreiberfahrungen auch unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen bewähren werden. Eine opportunistische Anpassung an den neuen Markt wäre für einen Lyriker sicher tödlich. Auch in der Nötigung, sich eine neue Lebens- und Überlebensstrategie zurechtzulegen, sehe ich eine Herausforderung. Ob diese zum Verstummen oder zu einer neuen Produktivität führen wird, kann ich freilich nicht voraussagen.

Labroisse/Wallace: Sehen Sie für sich im vereinten Deutschland eine politische Aufgabe als Autor, oder hat (jetzt) Schreiben eine rein bzw. weitgehend ästhetische Funktion?

Czechowski: Ich habe mich als Schriftsteller immer mehr oder weniger in der Rolle eines Chronisten gesehen. Das, was jetzt und in naher Zukunft in der ehemaligen DDR geschieht, wird u.a. auch meinen Widerspruch herausfordern. Eine rein ästhetische Funktion der Literatur kann und wird es für mich nicht geben.

Labroisse/Wallace: Haben Sie in der Zeit der Wende überhaupt schreiben können? Haben Sie sich schriftstellerisch mit den Ereignissen der letzten anderthalb Jahre auseinandergesetzt? Werden Sie sich in Zukunft mit dieser Thematik beschäftigen?

Czechowski: Ich beschäftige mich zur Zeit damit, das, was ich seit der Zeit der „Wende“ sozusagen kommentierend geschrieben und oft beiseite gelegt habe, zu sichten und, teilweise, zu überarbeiten. Dazu gehören Gedichte ebenso wie publizistische Arbeiten. Ich hoffe, daraus könnte ein Buch entstehen, das – ähnlich wie Mein Venedig – in Lyrik: und Prosa mein, wenn auch sehr vermittelter, Kommentar zu den letzten drei Jahren ist.
Da für mich Schreiben immer eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Gegenwart ist, werde ich auch weiterhin versuchen, mich am Benennen dessen zu beteiligen, was mich geprägt, aber auch verändert hat.

Gerd Labroisse und Ian Wallace (Hrsg.): DDR-Schriftsteller sprechen in der Zeit. Eine Dokumentation, Rodopi, 1991

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Jens Bisky: Vom Nichts begleitet
Süddeutsche Zeitung, 7.2.2005

Beatrix Langner: Schreiben im eigenen Schatten
Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2005

Hans-Dieter Schütt: Rückwende
Neues Deutschland, 7.2.2005

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + InstagramIMDbKLGArchiv + IZAKalliope
Porträtgalerie: akg-images + Brigitte Friedrich Autorenfotosdeutsche FOTOTHEK + IMAGOKeystone-SDA
Nachrufe auf Heinz Czechowski: Berliner ZeitungDeutschlandfunk ✝ Der SpiegelDer TagesspiegelDie WeltFreitag ✝ poetenladenSüddeutsche Zeitung ✝ titelmagazin

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Czechowski“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Heinz Czechowski

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„Suppe Lehm Antikes im Pelz tickte o Gott Lotte"

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