HERAKLES LOGOTHETIS. Ich wähle deinen Namen
unwillkürlich, von der späten Liste der Toten
des November 1973 im Griechenland der Junta.
Du hast die Nummer 48; und bei deinem Namen
steht: geboren 1952, Student.
Ich sehe keine Bilder mehr von den Kämpfen
jenes November, auch wenn ich sie gesehen habe,
empört, im Fernsehen. Bilder werden von neuen
unmenschlichen Bildern gelöscht. Ich habe dich
gewählt, nachsinnend; weil dein Name energisch
und beschämend mit meiner Bildung spielt, mit dem
stolzen Teil meiner Vergangenheit. Der gewaltige
Held, nun der Macht des Wortes und der Vernunft
verbündet. Unbesiegbar durch List; kein Opfer
wütender Scheiterhaufen! Dies und viele Mathematik-
stunden höre ich in deinem Namen: den Frieden
in den Bäumen, draußen.
Hugo Dittberner hat zwischen dem 30. und 35. Jahr sechs Bücher der „schönen Literatur“ veröffentlicht, Romane (Das Internat, Jacobs Sieg), Erzählungen (Kurzurlaub, Draussen im Dorf), Gedichte (Der Biss ins Gras, Ruhe hinter Gardinen). Hört man, er sei 1944 im niedersächsischen Gieboldehausen bei Duderstadt geboren worden, so verstummt doch der jeanpaulisch schwingende Vokalismus dieses Ortsnamenklangs sogleich unter dem Würgegriff eines finstern Jahrs. Mit einer gewichtigen Dissertation (Heinrich Mann. Eine kritische Einführung in die Forschung, 1974) hat Dittberner promoviert.
Vergleiche legen eine Spur und sind hilfreich; Vergleiche leiten irre und täuschen. Unter dieser zu Vorsicht mahnenden Voraussetzung kann man den Lyriker Dittberner in der Nähe von Nicolas Born oder Walter Helmut Fritz sehen (wobei die Namen auf weitere Nachbarschaften verweisen). Die prägende Wirkung von Brechts Gedichtwerk auf die Nachgeborenen, bei weitem nicht ausreichend geklärt und jedenfalls noch unterschätzt, liesse sich auch bei Born, bei Fritz, bei Dittberner zeigen.
Hugo Dittberners zweites Lyrikbuch heisst also Ruhe hinter Gardinen und enthält Gedichte des Jahrzehnts bis 1980. Der Titel scheint vorerst biedermeierlichen Frieden zu verheissen, stillen Selbstgenuss im Abseits. Im Weiterrücken erfasst der Leser indessen einen andern, den offenbar gemeinten Sinn: Hier tastet einer nach dem Archimedischen Punkt, seinem gedachten festen Angelpunkt, von dem aus er die Welt (das, was „für ihn der Fall ist“) in Sprache umsetzen und aufheben kann. Gardinen trennen und verbinden zugleich, sie trivialisieren so archaische Symbole (und Archetypen) wie Schwelle oder Bogen.
Wovon handeln nun diese Gedichte nicht? Weder von grossen Tathandlungen noch von grossen Gefühlen, noch von grossen Gebärden. Die Wörter und Worte leben hier nie über ihre Verhältnisse; sie schränken sich vielmehr ein und umgreifen und profilieren ausschliesslich jene Erfahrungen, denen sie entstammen und zugehören. Die Rede ist also von Beobachtungen eines Beobachters, von Gedanken eines Nachdenkenden, von Sensationen eines Sensiblen. Dessen Demut reicht aus, um sich vom Aussen und vom Innen auch freudig beschenken zu lassen. Das labile Gleichgewicht von Ja und Nein verweigert sich keiner Stimmung zwischen Lebensmut und Resignation. Die Verse „Vom Nutzen der Liebe“ zeigen das:
Es wäre schön, die Kinder studierten
das Lesen und Schreiben an den Liebesbriefen
ihrer Eltern.
Sie buchstabierten, sie schrieben ab,
sie hätten zum Lückentest Wörter
zu finden.
Es wäre schön, auch für die Eltern,
die bisher vergessen haben,
Liebesbriefe
zu schreiben und zu lesen, und die nun
um die Bildung ihrer Kinder
besorgt sind.
Die Wahrheit des Lyrikers Dittberner bleibt stets konkret: konkret nicht bloss im Sinn von „gegenständlich“, sondern vor allem auch von „präzis“. Der leichte Duktus der Rede transportiert hier manchmal Materialien von mehrfacher Schwerkraft; sie tauchen dann in den Leser ein wie Sonden oder Echolote. Sinnliche, gemüthafte und gedankliche Werte (in ihrem Zusammenwirken die Probe auf Qualität wie die Lackmus-Reaktion auf Säure oder Base) sind die konstitutiven Bestandteile dieser Gedichte.
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