Ingo Irsigler: Zu Jan Wagners Gedicht „dobermann“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jan Wagners Gedicht „dobermann“ aus Jan Wagner: Achtzehn Pasteten.

 

 

 

 

JAN WAGNER

dobermann
für Ron Winkler

dies ist das dorf, und dies am waldesrand
die wasenmeisterei, von deren dach
ein dünner rauch sich in den himmel stiehlt.

die leeren felle an der wand. der korb
mit welpen, ihre augen noch vernäht
von blindheit: so beschnüffeln sie die welt.

noch ist es früh, und in den städten schlafen
die landvermesser und die kartographen.
im garten jener brunnen voller durst.

apolda, thüringen: die tote kuh
am feldrand, ein gestrandeter ballon,
von seuche aufgebläht. sie wird

dort liegenbleiben: unter einem kleingeld
von sternen schreitet er, an dessen seite
zwei schwarze klingen durch die landschaft schneiden.

 

Poetische Landvermessung

Jan Wagners Essay-Sammlung Die Sandale des Propheten (2011) beginnt mit dem Prolog „Hundstage“, in dem neben Chow-Chow, Mops, Barsoi, Neufundländer auch der Dobermann erwähnt wird. Wagner erzählt, wie er in die „World Dog Show“ in Bratislava geraten war, die parallel zum Poesiefestival Ars Poetica, an dem Wagner teilgenommen hatte, stattfand. Beide Veranstaltungen, so ist zumindest zwischen den Zeilen zu lesen, haben markante Gemeinsamkeiten: Denn in der Hundeshow werde öffentlich eine eigene Kreation zur Schau gestellt, sie sei ein „Wettbewerb“ in einer „Arena“, in der die „Punktrichter“ die „unangefochtene Autorität“ darstellten. Der Hundewettbewerb ist also einer Literaturmesse nicht unähnlich:

Je länger wir durch die Hallen gehen, uns durch die engen Gänge zwängen, desto bewußter wird uns, daß tatsächlich die ganze Welt hier versammelt ist, man die Sprachen aller Länder, aller Kontinente vernehmen kann, mehr noch: Für alle Anwesenden ist dies hier die Welt – eine seltsame, eine verwirrende Parallelwelt, die ein unergründlicher Gott sich ausgedacht haben muß […]1

Der Verweis auf einen Schöpfergott wiederholt sich am Ende des Textes, diesmal bezieht er sich nicht auf den institutionellen Betrieb als einer Art Parallelwelt, sondern auf das Kunstwerk, wobei die Idee vom Künstler als quasi gottgleichen Schöpfer (,second maker‘) anklingt.

Und doch ist da plötzlich dieser winzige Moment des Verstehens, glaubt man, fast ergriffen, einem Verwandten, einem Bruder zu begegnen, als eine von uns zum Abschluß jenen prächtigen und bis zur Perfektion gestriegelten Riesenschnauzer fotografieren möchte und sein Besitzer mit Anmut und Bescheidenheit beiseite tritt, in seinem Gesicht das feine Lächeln dessen, der weiß, daß es gut ist, daß es gelungen ist, der den Betrachtern die Frucht all seiner Mühen mit der freundlichen Geste des Schöpfers überläßt: Seht das Werk ist fertig, erfreut euch daran.2

Spätestens hier werden Hundezucht und Dichten als strukturanaloge Praktiken kenntlich gemacht, was prinzipiell auch auf das Gedicht „dobermann“ zutrifft: Sein Titel verweist sowohl auf den Schöpfer Friedrich Louis Dobermann (1834–1894) als auch auf seine Schöpfung, die Hunderasse Dobermann, womit der Titel eine zweifache Bedeutung indiziert. Zum einen lenkt er den Blick des Lesers auf das (historische) Thema ,Dobermann‘, d.h. auf jene Hunderasse, die den Namen ihres aus Apolda stammenden Erfinders trägt; zum anderen auf das Gedicht „dobermann“ als Ergebnis einer kulturell-kreativen Schöpfung.

I.
Der Prolog des Essay-Bandes Die Sandale des Propheten sensibilisiert den Rezipienten für produktionsästhetische Aspekte, die dem Gedicht „dobermann“ zugrunde liegen und die sich durch eine Paratextanalyse genauer bestimmen lassen: Im Jahr 2006 wurde das Gedicht in Zwischen den Zeilen. Eine Zeitschrift für Gedichte und ihre Poetik gemeinsam mit dem Essay „Lob der Unschärfe“ veröffentlicht, weshalb sich der Essay als programmatischer Kommentar zu „dobermann“ verstehen lässt.
Ausgangspunkt von „Lob der Unschärfe“ bildet die Beschreibung eines „Naturschauspiel[s]“ in Irland,3 für das es eine recht profane Erklärung gab: Wagner glaubte einen spektakulären Mondaufgang zu beobachten; bei näherer Betrachtung und Zuhilfenahme seiner Brille entpuppte sich das Naturspektakel allerdings als Scheinwerferlicht eines alten Campingwagens. Für Wagner steckt das poetische Potenzial dieser Beobachtung in der Überlagerung zweier Bilder:

[D]er Mond, obwohl er verschwand, sobald ich meine Brille aus dem Etui geholt hatte, und der Campingwagen, der so ernüchternd an seine Stelle trat – ohne daß sich dadurch das Gefühl, die Ahnung des Erhabenen verflüchtigte. Beide überlagern einander […].4

Poesie ergibt sich also aus (Sprach-)Bildern und ihrer Überblendung, aus der sich etwas Neues, ein „gemeinsames Drittes“ herstellen lässt. Dieses Dritte konfrontiert den teilnehmenden Beobachter (und damit den Leser) mit einer verfremdeten Wirklichkeit:

Wenn die Kurzsichtigkeit es schlicht mit sich bringt, daß ein Mangel an Klarsicht durch Imagination ausgeglichen wird, so löst die Poesie die Dinge und Begriffe mit Bedacht und voller Absicht aus ihren gewohnten Zusammenhängen – und erlaubt so das Erstellen neuer, überraschender und dabei im besten Fall doch augenblicklich naheliegend erscheinender Verknüpfungen. Was immer das Gedicht sonst noch sein mag, Sprachreflexion, Unterhaltung oder schlicht ein Gefäß für ein Thema, es ist doch immer auch dies: die Einladung, vermeintliche Selbstverständlichkeiten neu zu sehen, im Gewöhnlichen das Außergewöhnliche, im Großen das Kleine zu entdecken, und umgekehrt. […] Im Gegensatz zu denen, die allzu klar zu sehen behaupten, hinterfragt das Gedicht die Dinge und rückt sie ins Ungewisse. Es unterwirft sie einer gezielten Unschärfe, um sie danach mit Präzision neu zu entdecken, neu zu denken.5

Der Poet gleicht also den Mangel an Klarsicht durch Imagination aus, was sich für die Poesie als fruchtbares Verfahren erweist, um Alt-Bekanntes mit anderen Augen zu sehen: Das Selbstverständliche „rückt ins Ungewisse“ – es wird, metaphorisch gesprochen, unscharf. Diese Unschärfe ergibt sich aus dem „Zusammenführen gegensätzlichster Dinge, banaler wie erhabener, räumlich und zeitlich weit auseinanderliegender“.6 Das Gedicht bildet auf diese Weise eine poetisch transformierte Wirklichkeit ab, die sich dennoch auf die Alltagswirklichkeit bezieht: Es bewahrt, so Wagner, „einen Ausschnitt von Wirklichkeit, wie winzig oder unbedeutend er auch erscheinen mag, vor dem Vergessen, indem es ihn so verändert, daß er sich einprägt; und indem es sich verändert, schenkt es dieser Wirklichkeit etwas Neues.“7

II.
„Lob der Unschärfe“ lenkt das Augenmerk auf visuelle Konstruktionsformen, die in „dobermann“ tatsächlich eine wichtige Rolle spielen: Das Gedicht besteht aus 5 Strophen, die jeweils eine Bild-Beobachtung ins Zentrum stellen. Die erste Strophe fokussiert die Wasenmeisterei am Waldesrand, „von deren dach / ein dünner rauch sich in den himmel stiehlt.“ (Vers 2f.) Mit Strophe 2 wechselt der Beobachter den Standpunkt. Er befindet sich nun offensichtlich im Inneren des Hauses, wo er leere Felle an der Wand und die neugeborenen Welpen sieht. Strophe 3 – hier erfolgt ein Ortswechsel in die Städte – entwirft das Bild von schlafenden Kartographen und Landvermessern. Strophe 4 enthält mit dem Hinweis auf die Stadt Apolda (in Thüringen) eine eindeutige Ortsangabe, im selben Vers wird dann das Bild einer toten, von Seuche aufgeblähten Kuh mit der Stadt in Verbindung gebracht. In der Schlussstrophe beobachtet der Sprecher eine Person (,er‘), die nachts mit zwei schwarzen Klingen „durch die landschaft“ geht (Strophe 5, Vers 3). Das ,er‘ lässt sich im Zusammenhang mit dem Titel als Bildimagination des Sprechers verstehen, der dem Hundezüchter und Wasenmeister Friedrich Louis Dobermann von Ferne zusieht, wie er mit seinen Hunden umher spaziert.
Das Gedicht verknüpft also heterogene Bilder. Zu Beginn sind die Bildwahrnehmungen noch recht präzise: Durch die Demonstrativpronomen im Auftaktvers der ersten Strophe („dies ist das dorf, und dies am waldesrand / die wasenmeisterei“) erfolgt ein Einstieg in medias res. Das Gedicht erweckt den Eindruck, als würden Sprecher und Adressat den Blick auf ein ganz bestimmtes Dorf bzw. die Wasenmeisterei richten; dieses Bild ist durch die bestimmten Artikel sowie die Pronomen als klares bzw. scharfes Bild markiert. In Kontrast zur Schärfe des Eingangsbildes steht das letzte Bild des Textes:

unter einem kleingeld
von sternen schreitet er, an dessen Seite
zwei schwarze klingen durch die Landschaft schneiden
(Strophe 5, Vers 1–3).

Die Wahrnehmung des Sprechers ist hier augenscheinlich unscharf: Die Sterne verlieren, aus der Ferne betrachtet, ihre charakteristische Kontur und erscheinen als Münzen, während die Hunde als Klingen wahrgenommen werden.
Neben unscharfen Bildern findet sich in „dobermann“ auch jene Technik der Bild-Überblendung, die in „Lob der Unschärfe“ als produktives Formelement von Lyrik benannt wird. Wie im Eingangsbeispiel des Essays, wo sich der Mond schließlich als Scheinwerfer entpuppt, überlagern sich auch in „dobermann“ Natur- und Kulturbilder.
Dass das Gedicht beide Bereiche grundsätzlich eng miteinander verflechtet, ergibt sich bereits aus der zeichenhaften Dimension der Gedicht-Sujets ,Hundezucht‘ und ,Tierverwertung‘. Im Beruf des Wasenmeisters manifestiert sich die kulturelle Nutzbarmachung der Natur: Der Wasenmeister arbeitet am „waldesrand“, also im Grenzbereich von Natur- und Sozialraum, und sorgt dort für die Verwertung und Restbeseitigung von Tierkadavern (die „leeren felle an der wand“ (Strophe 2, Vers 1) verweisen auf diese Tätigkeit). Im Gedicht wird Naturhaftes und Kulturelles ständig zueinander in Beziehung gesetzt: Im vierten Vers wird die Transformation eines Tieres in ein Kunstprodukt (das Fell wird dekorativ an die Wand gehängt) unmittelbar mit der Entstehung neuen Lebens, die sich im Bild der Welpen präsentiert, die neugierig die Welt „beschnüffeln“, kontrastiert (Strophe 2, Vers 3). Das Resultat des vermeintlich natürlichen Prozesses der Geburt erweist sich allerdings bei näherem Hinsehen als kulturell initiiert,8 steht er doch durch den Titelbezug in direktem Zusammenhang zur Züchtung. Ein Seitenblick auf die Literaturgeschichte belegt ganz generell, dass der Hund zwar einerseits die „Differenz von Natur und Kultur“ symbolisiert, jedoch andererseits diese Grenze gleichzeitig immer auch infrage stellt.9 Genau dieses Verschwimmen der Grenze illustriert die letzte Strophe des Gedichts: Die metaphorische Bezeichnung der Hunde als Klingen verweist zum einen auf die „kulturelle Zurichtung“ des Hundes, die „in den Raum einer sozialen oder polit[ischen] Gewalt“ führt.10
Zum anderen verdeutlicht die Metaphorik, wie im Gedicht Naturformen von kulturellen Wahrnehmungsmustern überlagert sind. Dieser kulturelle Blick auf die Landschaft zeigt sich auch an anderen Stellen: So werden die Sterne als ,Kleingeld‘ beschrieben; und eine ganz ähnliche Überblendung von Natur und Kultur findet in der vierten Strophe statt, wo der Sprecher die tote Kuh durch die kulturelle Brille wahrnimmt: Sie erscheint gleichzeitig als Kuh und als gestrandeter Ballon („apolda, thüringen: die tote kuh / am feldrand, ein gestrandeter ballon, / von seuche aufgebläht.“ (Strophe 4, Vers 1–3)). Auch das Bild des zum Himmel aufsteigenden Rauchs scheint kulturell vorgeprägt zu sein: Es erinnert zumindest stark an die romantisch-religiöse Sehnsucht einer Verbindung von Himmel und Erde, wie sie sich etwa in Joseph von Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“ finden lässt:

Es war als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt.
11

Die Formulierung des Sich-Davon-Stehlens relativiert freilich das romantisch-metaphysische Sehnsuchtsbild einer Einheit von Mensch und Natur (bzw. Gott). In der Verknüpfung der Sterne mit Geld wird schließlich der Himmel gänzlich entmystifiziert und der Sphäre des Kulturell-Materiellen zugeordnet.

III.
Das Gedicht besteht aus (teilweise unscharfen) Bildern sowie Überblendungen von Natur- und Kulturbildern, was die abgebildete Landschaft als kulturell geformte Landschaft kenntlich macht. Was durch die Verknüpfungen der Bilder insgesamt entsteht, ist ein heterogenes Bild der Wirklichkeit, das in semantischer Hinsicht nicht eindeutig bestimmbar ist. Dass der Text genau diese Unbestimmtheit poetisch erzeugen möchte, thematisiert das Gedicht über eine selbstreferentielle Ebene, die über die Themen ,Tierverwertung‘ und ,künstliche Schöpfung (bzw. Züchtung)‘ bereits anklingt. Noch deutlicher wird sie, wenn das Gedicht die Wahrnehmung des lyrischen Sprechers vom naturwissenschaftlichen Erfassen der Welt streng unterscheidet. In der dritten Strophe ist von den schlafenden „landvermessern“ und „kartographen“ die Rede; noch ist es früh, / und in den städten schlafen / die landvermesser und die kartographen / im garten jener brunnen voller durst“ (Strophe 3, Vers 1–3). Die Landvermesser werden über das Symbol des Brunnens mit dem Bereich dichterischer Inspiration in Verbindung gebracht,12 allerdings wird im Anthropomorphismus „brunnen voller durst“ gerade das Fehlen eines kreativen Potenzials angezeigt. Dadurch entsteht ein Kontrast zwischen den Landvermessern und dem wahrnehmenden Ich, d.h. der Sprecherinstanz des Textes. Den ,schlafenden‘ Naturvermessern bleibt offensichtlich genau jene poetische Weltsicht vorenthalten, über die der Beobachter verfügt. Der Kontrast zwischen diesen Weltsichten wird auch formal betont: Die ersten beiden Verse der dritten Strophe sind als einzige Verse des Gedichts im Paarreim gestaltet.13 Die naturwissenschaftliche Beschreibung der Landschaft, so lässt sich folgern, erzeugt keine Widerstände, während die Widersprüche und Ambivalenzen der poetischen Wirklichkeit in der formalen Abweichung vom Harmonischen ihren Ausdruck finden, die die reimlose Form des Gedichts ansonsten prägt.
Das Gedicht stellt also dem rationalen Erfassen und der umfänglichen Beschreibung der Wirklichkeit eine alternative, genuin poetische Form der Wirklichkeitsvermessung an die Seite. Diese Sichtweise auf die Welt findet Ausdruck in einer beinahe filmisch anmutenden Sprechsituation. Der Sprecher gibt den „Blick“ vor, den wir „unter dem Zwang der Kamera teilen“ müssen.14 Der Anfang des Gedichts ist fast im Stile eines rätselhaften (Horror-)Thrillers konzipiert: Es erfolgt ein Establishing Shot (,dies ist das dorf‘), danach verengt sich der Bildraum: Zunächst wird die ,Wasenmeisterei am Waldesrand‘ fokussiert, bevor in der zweiten Strophe die Felle an der Wand ins Bild rücken, die auf den Prozess der Tierkadaververwertung verweisen.15 Der Auftakt wirft beim Leser Fragen auf: Wer wohnt am Waldesrand und was genau geht dort vor sich? Nebulös bleibt auch das Ende des Textes, das gerade nicht zur Klärung des rätselhaften Einstiegs führt. Vielmehr bleibt der Text seinem anfangs angedeuteten Bedrohungsszenario treu: Die schwarzen Klingen verheißen, wie schon der aufsteigende Rauch und die ,leeren Felle‘, nichts Gutes. In dieses semantische Muster passt die Wahrnehmung der toten Kuh in der vorletzten Strophe, die mit einem aufgeblähten Ballon assoziiert wird. Die tote Kuh korrespondiert mit den ,leeren Fellen‘ (als Indiz für den Tod) an der Wand, beide Bilder stehen allerdings in Kontrast zur Geburt der Welpen, sodass sich insgesamt keine klare Deutungsperspektive ergibt.
Nicht eindeutig zu bestimmen ist auch die Landschaft, die der Text poetisch vermisst. Unklar bleibt zum Beispiel, in welcher Verbindung die Orte und Räume im Gedicht stehen. Wo genau befindet sich das Dorf (Strophe 1) in Relation zur Stadt Apolda (Strophe 4)? Von welchen Städten ist in der dritten Strophe die Rede? Mit dem Verweis auf Thüringen (und der Stadt Apolda) gibt der Text dem Leser immerhin einen konkreten Anhaltspunkt. Die Semantik des Raumes lässt sich indes nur ungenau bestimmen: Apolda selbst wird mit ,Seuche‘, ,Tod‘ und ,Klingen‘ in Verbindung gebracht, was wiederum in Kontrast zur dritten Strophe steht: Der den Städten zugeordnete Garten mit den „brunnen voller durst“ (Vers 3) setzt dem Tod immerhin jenen Lebensdurst entgegen, den auch das Bild der schnüffelnden Hunde vermittelt. Dass Durst wiederum auch das Verdursten, also den Mangel an Wasser, impliziert, unterstreicht die semantische Ambivalenz, die den Text kennzeichnet.
Die Welt, die der Leser erblickt, bleibt also eine fremde, rätselhafte Wirklichkeit, die ihn – will er das Rätsel lösen – zum Denken herausfordert: Lyrik – so formulierte Wagner selbst – bedeute in Analogie zum Kriminalroman eben immer auch das Lösen einer „Denkaufgabe, die zugleich ganz Spiel ist“.16
Prägnant lässt sich das antirationalistische Konzept der poetischen Landvermessung in „dobermann“ verdeutlichen, wenn man das Verhältnis zwischen gegenwärtiger Beobachtung und historischen Referenzen genauer betrachtet. Dass im Gedicht „in Zeit und Raum weit Auseinanderliegendes zusammen findet“,17 wird bereits zu Beginn offensichtlich: Wie der Beruf des Wasenmeisters, so rekurriert auch der Titel „dobermann“ auf ein historisches Thema; indes verweisen die Widmung des Textes (für Ron Winkler),18 das durchgehend verwendete Präsens sowie die Begriffe Ballon oder Kleingeld auf eine Verortung des Sprechers in der Gegenwart. Wie einzelne Bilder, so scheinen sich im Gedicht auch gegenwärtig Wahrgenommenes, historisches Wissen und (historische) Imaginationen zu überlagern. Die Landschaft, die das Gedicht beschreibt, enthält eine (abstrakt-)geschichtliche Tiefendimension, die sich durch eine wissenschaftliche Landvermessung nicht erfassen ließe: So ist die Landschaft geprägt durch den Zyklus von Werden (Geburt der Welpen) und Vergehen (Tod der Kuh) sowie von (kultureller) Gewalt, die sich aus der literarischen Symbolik des Hundes ganz grundsätzlich ergibt und durch die den Text prägende Todessemantik (Tierkadaver, Rauch, Felle, Klingen) bestätigt wird.
Bedrohlich wirkt auch die Figureninszenierung der historischen Person Friedrich Louis Dobermann. Buchstäblich unscharf bleibt die Kontur des prominenten Bewohners Apoldas, dem (in der Wirklichkeit) im Stadtzentrum ein Denkmal gesetzt wurde. Wie das Denkmal, so erinnert auch das Gedicht an den Hundezüchter, allerdings auf seine ganz eigene Art und Weise: Aus dem Helden Apoldas wird eine zwielichtige Figur, die Leben (Geburt der Welpen) und Gewalt bzw. Tod gleichzeitig repräsentiert. Die Inszenierung der Figur als ambivalente Randexistenz (,waldesrand‘) setzt einen Kontrast zur offiziellen (Helden-)Inszenierung Dobermanns, wie sie sich im Denkmal in der Mitte der Stadt materialisiert. Das Gedicht „dobermann“ orientiert sich nicht an der historisch-faktischen Person, sondern erschafft vielmehr eine ,andere‘, nicht eindeutig bestimmbare und deshalb rätselhaft bleibende Figur.

IV.
Das Gedicht überblendet also verschiedene Zeit- und Wahrnehmungsebenen, wodurch jene Ambivalenzen entstehen, die Umberto Eco als Merkmal der modernen Literatur überhaupt bestimmt hat. Der Text folgt – mit Eco gesprochen – einer „Poetik des Andeutens“, mit der er sich „als offen gegenüber der freien Reaktion des Lesers“ präsentiert.

Ein Werk, das ,andeutet‘, nimmt bei jeder Interpretation das in sich auf, was der Leser an emotiven und imaginativen Elementen dazu bringt. […] In diesem Sinne beruht ein großer Teil der modernen Literatur auf der Verwendung des Symbols als Ausdruck des Unbestimmten, der für immer neue Reaktionen und Interpretationen offenbleibt.19

Die Konsequenz der semantischen Offenheit mit Blick auf den Leser lässt sich an einzelnen Bildern erläutern: Was genau bedeutet es etwa, wenn Apolda (Thüringen) im ersten Vers der vierten Strophe mit einer toten Kuh in Verbindung gebracht wird? Für die Beantwortung dieser Frage bietet der Text dem Leser zumindest assoziative Deutungsmöglichkeiten an, die sich aus der Kulturgeschichte ergeben: So könnte der Leser die Charakterisierung Apoldas, wie sie das Gedicht vornimmt, mit der Darstellung Johann Wolfgang Goethes in Verbindung bringen, der die Stadt im Jahre 1779 bereist. An Charlotte Stein schreibt er am 5. bzw. 6. März:

Hier ist ein bös Nest und lärmig, und ich bin aus aller Stimmung. Kinder und Hunde, alles lärmt durch einander […]. Hier will das Drama gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden als wenn kein Strumpfwürker in Apolde hungerte.20

Nur wenige Kilometer vom kulturellen Zentrum Weimar entfernt, lähmen die sozialen Missstände die Kreativität Goethes, steht das ihm vorschwebende Ideal mit der besehenen Wirklichkeit in deutlichem Widerspruch. Über die Gewalt- und Todessemantik schreibt das Gedicht die Wirklichkeitswahrnehmung Goethes der Gegenwart ein, es überblendet also gleichsam die Gegenwart mit der historischen Perspektive Goethes.21
Offene Verweisstrukturen finden sich auch auf der formal-ästhetischen Ebene von „dobermann“: Entsprechend der Kontrast- und Überblendungstechnik, die das Gedicht auf inhaltlicher Ebene prägt, enthält es lyrische Traditionsreste, denen freie lyrische Formen entgegenstehen. Traditionelle Elemente zeigen sich etwa in der angedeuteten Terzinen-Form, wobei die Verse – im Unterschied zur klassischen Form – in der Regel reimlos bleiben; oder in Assonanzen und lautlichen Ähnlichkeitsstrukturen, wie sie massiv in der letzten Strophe auftreten („bleiben“, „kleingeld“, „schreitet“, „seite“, „zwei“, „schneiden“). Solche klassisch-ästhetischen Elemente stehen erkennbar im Gegensatz zu Elementen der modernen Lyrik: Erinnert die dritte Strophe in ihrer formalen und inhaltlichen Gestaltung (Garten, Brunnen, das friedliche Bild schlafender Kartographen, der Paarreim und die klingenden Kadenzen im ersten und zweiten Vers) eher an traditionelle Lyrik, so bezieht sich das Bild der verwesenden Kuh offensichtlich auf die Lyriktradition der Moderne.22 Insgesamt macht das Gedicht demnach Angebote für eine literaturgeschichtliche Kontextualisierung, ohne dass sich insgesamt eine klare Traditionsverortung ergeben würde.
Form und Inhalt von „dobermann“ stehen damit in einem Verhältnis der Homologie: Auf beiden Ebenen geht es um die Erschaffung einer komplexen poetisch-kulturellen Landschaft, in der disparate Elemente aufeinander bezogen und in Spannung zueinander gesetzt sind: Geschichte und Gegenwart, Natur und Kultur, Leben und Tod, Tradition und Moderne.

Ingo Irsigler, aus: Christoph Jürgensen, Sonja Klimek (Hrsg.): Gedichte von Jan Wagner. Interpretationen, mentis Verlag, 2017

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