AM RADIO
Dann steh ich endlich auf in der Nacht,
Da ist’s doch manchmal still,
Denn am Tag ist’s immer wie in der Schlacht,
Und man mordet sich bloß mit Gebrüll.
Und ich dreh und wünsch, daß aus dem Loch
Eine Amsel schluchzend klagt,
Und daß eine helle Stimme mir noch
Ein bißchen Mut hinsagt.
Doch es stelzt bloß Lüge, Hohn und Spott,
Und die Musik krächzt sehr laut,
Und ich such nach der Stimme vom lieben Gott
Oder bloß einer kleinen Braut.
Doch kein Vater sucht den verlornen Sohn,
Und mich ruft kein fremder Stern,
Und des Herzens letzte Station
Wird nie einen Engel hörn…
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Nachwort
Jakob Haringer ist der bisher letzte große Vagant in der deutschen Dichtung. Ein Poet jenseits aller Schulen und Moden. Ein Mann, dessen Werke im „Dritten Reich“ verboten waren. Ein Emigrant, der das Kriegsende in der Schweiz erlebte, wo er geblieben und 1948 im Alter von 50 Jahren gestorben ist. Seine Liebe galt den kleinen Leuten, ihren Träumen, Wünschen, Witzen, ihrem Sentiment und ihrer Frömmigkeit. Als Dichter war er Lyriker, selbst wenn er gelegentlich Prosa schrieb. Verse gelangen ihm, die wie Volkslieder klingen. Zeit seines Lebens wollte er ein spielendes Kind sein und bleiben. Er versuchte da Unmögliches, und er wußte es.
Die Verlorenheit in der Welt der Erwachsenen färbte seine Gedichte melancholisch, resignativ und aufrührerisch. Doch in all diesen Stimmungen und Verstimmungen blieb er ein unvergleichlicher Herrgottsdichter, der seinen Glauben pries, verfluchte und wieder pries. Die Behörden aber registrierten nur seine Flüche und verfolgten ihn quer durch Deutschland wegen Gotteslästerung und Beleidigung. In dieser Verfolgungssituation nahm er die Rolle eines Narren an. Völlig auf sich bezogen und in sich versponnen gab er sich anklägerisch, aufsässig, zornig, polternd, verbittert, mitleidheischend und bilderbuchnaiv.
Alleinsein als das Schicksal „des echten Menschen“ – darüber schrieb er. So sah er sein Leben. Frauengeschichten säumten seinen Weg. Doch es band ihn nichts. Seine Lust war das Fortgehen, der lange Rausch der Straße, der Gedanke: du reist hier nur durch. Er zog Menschen an und drückte sie mit ein paar giftigen Worten urplötzlich an die Wand. Er hatte ein Bedürfnis, sich unmöglich zu machen, um sich selbst möglich machen zu können.
Von dem Erlös seiner Gedichtbände konnte er nur selten seinen Lebensunterhalt bestreiten. Mit Geld, hatte er es, konnte er nicht umgehen. Er schrieb Bettelbriefe an seine Schriftstellerkollegen und wurde von ihnen immer wieder finanziell unterstützt. In seinen Büchern, die er zum großen Teil auf eigene Kosten veröffentlichte, dankte er den Helfenden im Anhang mit den Worten:
In ewigem Angedenken an die treuen Kameraden in meiner tiefsten Nacht.
Dann zählte er ihre Namen auf: Alfred Döblin, Klabund, Franz Jung, Carl Sternheim, Ivan Goll, Max Herrmann-Neiße und Paul Zech. Hermann Hesse nannte den Vaganten „ein Sonntagskind in einer Welt ohne Sonntag“. Alfred Döblin schrieb über Haringer:
Von Menschen seiner Art wird das Malheur angelockt. Er hat nichts, wird ignoriert, bekommt Stöße: das färbt ihn waschecht durch, aber – verändert ihn nicht. Er wird Veteran im Dulden der Misere; wird gar nicht weise davon. Die Tücke des Objekts bleibt, aber er bleibt auch. Sie sind oder werden kongenial.
Jakob Haringer erhielt den Gerhart-Hauptmann- und den Kleist-Preis. Und dennoch geriet sein Werk nach dem Zweiten Weltkrieg in totale Vergessenheit.
In jungen Jahren engagierte sich Haringer für den Sozialismus und war dabei, als die Räterepublik in Bayern 1919 ausgerufen wurde. Urchristliche Motive machten dieses Bündnis möglich. Das Ideologische stand ihm fern. Er nahm frühzeitig Stellung gegen den Nationalismus; in der Tonart, in der er groß war: er schimpfte sich seine Emotionen vom Leib. Die Nazis verfolgten ihn. In der Schweiz fand er Zuflucht. Die letzten Zeilen, die man in seiner Schreibmaschine fand, als er 1948 starb, klingen wie eine Erfüllung:
Und die weiße Landschaft lag unberührt vor mir – wie der Weg ins Paradies.
Haringers Mutter war eine Zigarrenverkäuferin aus München. Der Vater stammte aus Oberösterreich und arbeitete als ambulanter Buchhändler. Das Geburtsregister weist den Sohn als einen Sachsen aus, doch Sachse war er nur durch Zufall. Er kam auf einer Reise der Eltern in einem Eisenbahnzug zur Welt – kurz vor Dresden. Seine ersten Kindheitsjahre verbrachte er in München. Unruhig wie sein späteres Leben waren auch seine Jugendjahre. Seine Eltern übernahmen im Bayerischen und Österreichischen Gastwirtschaften. Jakob Haringer ging in Traunstein, Salzburg und in Ansbach zur Schule. Später schrieb er:
Meine Eltern sind schlichte Leute. Sie haben sich’s vom Mund abgespart und mich auf die Schule geschickt, – damit sich der Bub nicht so plag’n braucht wie unsereins, und daß er vielleicht später, wenn er Beamter oder Pfarrer ist, für seine alten Leut was übrig hat –. Aber der Bub ist kein Pfarrer geworden, sondern ein Taugenichts, der dem lieben Herrgott den Tag stiehlt… Er las von Kolumbus, Sokrates, Galilei. Von ihren Fesseln und tausend Martern, die ihnen hartherzige verblendete Menschen angetan. Weinte über van Gogh, der elendig, zerknirscht, in unsagbaren Himmelsfarben aufschrie und von nichts lebte als seiner Not.
Jakob Haringers Schulweg endete nach der vierten Realschulklasse. Er wurde Verkäufer, Tagelöhner, Knecht, Lastträger und Fabrikarbeiter. Mit 19 zog er als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg, kämpfte als Kanonier in Flandern, brach zusammen, kam ins Feldlazarett, wurde als „kriegsuntauglich“ entlassen, schrieb die ersten Gedichte, kämpfte mit Lyrik gegen falsches Heldentum. In München schloß er sich 1919 den Führern der bayerischen Räterepublik an, wurde nach der Niederschlagung dieses politischen Versuchs verhaftet, saß im Gefängnis Stadelheim und in der Festung Ingolstadt. Nach seiner Entlassung ließ er sich in Bayrisch Gmain nieder. Dort versteckte Haringer den ehemaligen Räterepublikaner und „Militärchef der Nordgruppe/Dachau“, Erich Wollenberg, vor dem Zugriff der Polizei. Dort schrieb er seinen ersten Gedichtband, der unter dem Titel Hain des Vergessens im avantgardistischen Dresdner Verlag herauskam, in dem auch Oskar Maria Grafs Erstling Die Revolutionäre und die von Felixmüller illustrierten Werke Walter Rheiners, eines heute ebenfalls zu Unrecht vergessenen Lyrikers, publiziert wurden.
Haringers erste 26 Gedichte in Hain des Vergessens zeigen, was er kann und was nicht. Er ist kein politischer Dichter wie so viele seiner Zeitgenossen, auch wenn eines davon „An den König Liebknecht“ gerichtet ist. Da ist der Wunsch, das Übergewicht des Hasses in der Welt durch Liebe zu mindern, Liebe zu bewahren und auszuleben, die Erinnerung an die Ursprünglichkeit kindlicher Gefühle, der Rückzug auf das Ich als einzige Quelle alles Menschlichen und die Abneigung gegen das Massenhafte und Organisierte. Der Expressionismus liegt auf der Straße jener Zeit. Er flicht ihn in seine Verse, ohne die einfache Melodie seiner Worte dabei zu zerstören.
Was die Thematik seiner Gedichte angeht, ist er schon in seinem Erstling fertig. Er folgt da dem Vaganten Peter Hille (1854–1904) und dessen Enzyklopädie der Kleinigkeiten. Das Alleinsein klingt an und wird schließlich von Gedichtband zu Gedichtband in ganzer Unerbitterlichkeit, aber auch zur Flucht in die Sentimentalität ausgeweitet. Er mag nicht lachen über die Sentimentalität kleiner Leute, die in ihren Gefühlen ertrinken. Er haßt nur dort in seinen Versen, wo aus dieser Sentimentalität Bösartigkeit wird. Da schreit er auf in seinen Gedichten und schlägt um sich.
„Mein Schmerz hat dreizehn Köpfe und tausend tobende Giftzähne“, schreibt er. In dem Prosastück „Abschied von allen Heiligen“ heißt es:
Was soll ich mit Euch! Die Ihr das Leben nie geliebt, die Ihr es verachtet und in Verzicht, Entsagung, kasteiend vegetiert, die Ihr stets nur über den Tod und sein Jenseits gedacht, nie an das Bunte, Schöne, Satte, Große, Wilde, Herrliche unseres Lebens.
In blasphemisch vertraulichem Ton pflegt er Umgang mit dem „Herrgott“:
Du weißt, wie gern ich fraß und Völlerei hab und saufe, und erst die schöne liebe Unkeuschheit: ach Du lieber Gott! Laß mich endlich mal wieder Unkeuschheit treiben und laß mich doch wieder mal Deine Gebote übertreten.
So war Jakob Haringer. So war er oft. Und doch korrespondiert dieser Deftigkeit eine Zartheit, die seine Heftigkeit erklärlich macht:
Maria wäscht ihr Hemdelein,
Ihr Kindlein spielt im Sand.
Der Josef muß im Wirtshaus sein.
Der Mond zieht schon ins Land –
Und weil ich nicht dabei sein kann,
Muß ich halt einsam sein…
Maria fängt zu weinen an,
Der Josef kommt schon heim.
In dem Prosastück „Kleine Liebe zum heiligen Josef“ schreibt er:
Der Beruf des heiligen Josef war, so lange er lebte, alles Göttliche zu verleugnen.
Da hat sich Haringer nun einen Reim auf sich selbst gemacht.
Der Erstling Hain des Vergessens wurde in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, wie überhaupt der expressionistische Zirkel Dresdens mit Felix Stiemer, Rudolf Adrian Dietrich, Heiner Schilling und Walter Rheiner, immer im Schatten der Zentren Berlin, München und Wien stand. Die damals in Dresden erschienenen Werke blieben eine Randerscheinung auch in der Wertung der Literaturkritik bis zum heutigen Tag, geschätzt und gesammelt von Bibliophilen und inzwischen gesucht von Kunstliebhabern wegen der Illustrationen des erst in den sechziger Jahren zu Ruhm gekommenen Felixmüller.
Gering blieb auch die Wirkung von Haringers zweitem Gedichtband Abendbergwerk, der im Münchener Verlag Die Wende herauskam. Ein kleiner finanzieller Erfolg wurde der dritte Lyrikband Die Kammer, der 1921 im Franz-Ludwig-Habbel-Verlag in Regensburg erschien, der auch Johannes R. Bechers Frühwerk Der Gestorbene herausbrachte. Für die Kammer erhielt Haringer ein Pauschalhonorar von achthundert Mark und freies Unterkommen für mehrere Wochen beim Verleger in Regensburg. Bei seinem nächsten Band griff Haringer zur Selbsthilfe. Er täuschte Resonanz im Ausland vor, als er seinen lyrischen Zyklus Tobias mit Holzschnitten von Betzler im Verlag Christoph Brundel Amsterdam publizierte. Es war eine fiktive Adresse. Es war Haringers Eigenverlag. Das Geld zur Finanzierung dieses Druckes und anderer in seinem Verlag schnorrte er sich zusammen. Er kaufte sich Kürschners deutschen Literaturkalender und suchte sich dort die Adressen bekannter Schriftsteller heraus und verschickte an sie seine Gedichte. Handgeschrieben. Er nahm Papier, Federhalter und Schere. Er fertigte Hefte an, in denen diese Gedichte enthalten waren. Dazu schrieb er:
Verzeihen Sie bitte diese Fetzen. Aber ich bin ärmer als arm. Mir geht’s elender als einem Straßenhund…
Die Kollegen reagierten. Der Schriftsteller Siegfried von Vegesack, der 1924 von Haringer dessen im Eigenverlag gedrucktes Bändchen Weihnacht im Armenhaus bekommen hatte, brachte eine Rezension dieser Gedichte in der Vossischen Zeitung unter:
Haringer schmeißt seine Visionen unbekümmert aufs Papier, wie’s gerade kommt, kennt weder Selbstzucht noch Selbstkritik, nicht die Strenge der eigenen Schöpfung gegenüber, die erst den Dichter krönt… Falls Jakob Haringer die Kraft zur Selbstzucht, zur Strenge, zur Arbeit an sich und seinem Werk aufbringen wird, zweifle ich nicht an seiner Zukunft.
Doch zur Disziplin hat Haringer nie gefunden. „Lieber die Nächte mit Lumpen verlumpen / als so wie ihr in Ehren verludert, verstunken –“, höhnte er in seiner Lyrik. Er lud die Leute in den Pinten ein, zahlte ihr Bier und trank selbst Wein. Er pumpte die Wohlhabenden an und gab ihr Geld mit weniger Wohlhabenden aus. Er sprach die Sprache der einfachen Leute und war doch niemals einer von ihnen; denn er sah scharf wie ein Intellektueller und erkannte, daß die Vitalität der Kleinen sich mit zunehmenden Alter nur noch in der Gastwirtschaft austoben konnte. Doch er beanspruchte für sich Freiheit über den Alkohol hinaus.
Er liebte die katholische Religion und beobachtete zugleich, wie sie in seiner ländlichen Gegend um Bayrisch Gmain als Lebensersatz mißbraucht wurde. Er holte für sich Jesus und Maria vom Himmel herunter und stellte sie auf den Boden der Wirklichkeit, ging mit ihnen um wie mit seinen Zechkumpanen, redete mit ihnen irdisch, suchte ihre Liebe, sah sich enttäuscht, beschimpfte sie, und das Schimpfen war doch nur Reaktion auf die Tatsache, daß das von ihm ersehnte kindliche Paradies sich nicht einstellen mochte.
„Ach bewahr mich lieber Gott“, schrieb er, „wie ich Dich bewahren wollte, wärst Du der arme Jakob Haringer und ich der liebe Gott.“ Als Schriftsteller schrieb er zärtliche und wüste Gebete. Aber immer Gebete. Und auch das Schluchzen des Schlagerhaften durchkreuzte sein Volkslied. Er war ein Trunkenbold der Gefühle. Doch der Rausch stand der Wirklichkeit entgegen, wie er immer der Wirklichkeit entgegensteht. Haringer kroch nicht zu Kreuze, gab nicht klein bei, rebellierte sein Leben lang. Er hatte ein franziskanisches Sündergehör. Er peinigte die frommen Konservativen und die rigiden Revolutionäre. Er lechzte nach dem Wohlstand des Bürgertums, doch er wollte nicht für diesen Wohlstand die Seele verkaufen.
Er nahm sich, was er bekommen konnte. Er lebte sich ein als Phantast. Und Phantasie war die Münze, mit der er zahlte. Er gab Worte. Mit ihnen überredete er die Leute, ihm Maßgeschneidertes zu nähen, ihm die besten Krawatten zu geben. Er paffte teure Zigarren und tröstete seine Seele nach der Art Nestroys, wenn er sagte:
Da tät die Trauer bitterlich seufzen, wenn sie dich nimmer hätt’.
In einem seiner Gedichte schreibt Haringer:
Tja, Jakob Haringer ist doof. Aber Du Leser bist noch blöder…
Seine despektierliche Art, mit der katholischen Religion umzugehen, brachte ihm ein Dutzend Gotteslästerungsverfahren ein. Haftbefehle ergingen gegen ihn. Er floh aus seiner bayerischen Gegend – und gab den Behörden neue „Anlässe, gegen ihn zu ermitteln. Er nannte sich Doktor oder Professor Haringer oder Jakob von Haringer. Ein Haringer auf der Flucht war ein denkbar schwieriger Partner für Buchverlage. Doch die prominenten Kollegen unter den Schriftstellern der Weimarer Republik traten für ihn ein, deckten ihn, halfen ihm.
Zwischen dem ihm zugefügten Leid, allein wegen des Wortes verfolgt zu sein, und dem Selbstmitleid, dem er sich mehr und mehr ergab, war schließlich nicht mehr zu unterscheiden:
Dichtungen, wie ich sie schreibe, tragen nichts! Es war immer so! So zu dichten ist Schicksal… Es war doch stets so: Lessing starb verbittert, von Almosen abgespeist, Beethoven, Schubert verhungerten, Mozart bekam ein Massengrab, den alten Wieland lachte man aus, auf Georg Forsters Kopf setzten die preußischen Generäle einen Preis, Kleist endete verzweifelt im Selbstmord, Büchner, von der Polizei gejagt, starb als Emigrant, Börne, Heine durften nicht in Deutschland leben, grauenhaft war Hebbels Jugend, Nietzsche wird verspottet und bespien. Wedekind, Thoma, Panizza etc. werden eingesperrt… „Überhaupt ist Körner bedeutender und größer als der unmoralische, in Selbstmord endende Kleist, wo alles ohne Selbstzucht hingeschleudert“ (so Rektor Metschnabl an der Realschule Traunstein). In Wien wurde 1945 die Beethoven-Feier verboten. Grillparzers Rede durfte nicht gesprochen werden. Die Aufführung der Messe Beethovens in einer Kirche wurde verboten, weil eine Messe nur zur Ehre eines Heiligen abgehalten werden darf. Des Unsterblichen Trakls Verse gelten in seiner schönen Vaterstadt als blödsinnig. Kokoschkas Bilder wurden von Spießern zerstört, er von den Behörden schikaniert. So daß er nach Paris geflüchtet. Die Münchner Zeitung schrieb dieser Tage über Pechstein, Kokoschka usw.: „Scheußlichkeiten, Spachtelgestammel, bestenfalls Kunstgeckerei…“, und ich werde wegen Gotteslästerung verfolgt.
Seinen großen Mentor fand Jakob Haringer in Alfred Döblin, der im alten Gustav Kiepenheuer Verlag 1925 die Veröffentlichung von Haringers Dichtungen durchsetzte. Noch im selben Jahr erhielt der 27jährige Vagant den mit 5.000 Mark dotierten Gerhart-Hauptmann-Preis, später den Kleist-Preis, die begehrteste deutsche Literaturauszeichnung. Das Berliner Tageblatt nannte Haringer einen „Stern der Verheißung“, das sächsische Volksblatt rühmte ihn einen der „genialsten Dichter des neuen Deutschland“.
Die Richtung für die überschwenglichen Beurteilungen hatte Döblin mit einem Grußwort zu dem Band Dichtungen gewiesen:
Die Gedichte sind echtes Gewächs, keine lyrische Ware. Dreierlei gehört zur Kunst: einmal, daß einer etwas ist, einmal, daß er zu sich gefunden hat, einmal, daß er etwas kann, das ist dreifache Gnade. Haringer schreibt wie ihm zu Mut ist. Dabei wäre nichts. Aber er ist von Haus aus Lyriker und Könner. Und darum ist alles. Selbst wenn die Gedichte zu einem Teil sich formal nicht schließen, als Einzelwesen schwer bestehen. Woran denke ich bei diesen Einzelstücken? An Tübingen, Hölderlin, die Maler Spitzweg, an Richter, Blechen. Eine sehr deutsche Pflanze. Verschollener Typ eines vagierenden Poeten. Er schreibt von Kinos, Cafés, aber fühlt Rothenburg und Nürnberg… Das Unglück bleibt sein liebes Privatmalheur. Vor allem: Es bleibt seins… Es gibt in der deutschen Lyrik feine Köpfe, kluge Herzen, die manches fühlen, gute Geschmäcker, tüchtige Könner, die es ernst mit ihrer Arbeit nehmen. Dieser Typ ist unerwartet da: Ein lyrischer Poet, ins Heute verschlagen, beständig hintapsender Träumer; der wirkliche, komplette, kranke, verängstigte, psychopathische Romantiker. Manche Lyriker hatten das teilweise, manche spielen es. Er ist es, durch Geschick, Unglück, konstitutionell… Haringer ergeht sich lässig, einfach, bis zum Knittelvers, bis zur Trivialität. Er ist bloß Mensch, kein repräsentierender deutscher Dichter.
Der Lyriker Max Herrmann-Neiße urteilte in der Literarischen Welt über Haringer:
Alles ist erlebt, aus Glück und Not eines freien Lebens unmittelbar zum Gedicht erblüht, noch hängt der Tau des ersten Schöpfungsmorgens an manchem zarten Blatt. Einer tippelt durch sein fragwürdiges verqueres Dasein und singt auf Bergstraße und Großstadtasphalt, wie’s kommt, vor sich hin, von seinem Gram und Grauen, von allen kleinen Leiden und großen Enttäuschungen seines Weltabenteuers.
Der Komponist Arnold Schönberg vertonte mehrere Gedichte Jakob Haringers. Es sind die einzigen Lieder, für die Schönberg seine Zwölftontechnik verwandte. Haringer war auf einen Schlag so populär, daß ihn die Schriftsteller Robert Neumann und Friedrich Torberg parodierten. Torberg spottete – den Tonfall Haringers imitierend – im Querschnitt:
und wir müssen ja alle ach sterbn
und ich hoffe halt immer aufs neue Jahr
da wird es schon besser werdn.
Doch aus seiner schnellen Popularität wußte Haringer nichts zu machen. Die Einnahmen, von denen er bescheiden hätte leben können, verschwanden im Nu. Auf seinem Weg durch die Städte Stuttgart, Bremen, Hamburg und Berlin reihte er eine Liebesgeschichte an die andere und machte den Geliebten teure Geschenke, solange das Geld reichte. Dann lebte er von deren Geld, um über Nacht spurlos zu verschwinden. Im Frankfurter Iris-Verlag erschien noch seine erste Erzählung unter dem Titel Das Räubermärchen, gewidmet dem „Toten Kasperl Larifari, der mich in seliger Kinderzeit so überglücklich lachen ließ“.
Das Räubermärchen beginnt mit den Sätzen:
Der König kochte sich gerade Kaffee. Sein Zepter lag
verträglich neben der Kaffeemühle.
Die Krone wackelte auf seinem ehrwürdigen Haupt.
Dann setzte er sich auf die Herdplatte und schlürfte
mit wonnigem Schaudern den Trank. Aah, heut hatten ihn
doch keine Weiberhände verpfuscht.
Hyronimus Löschblatt, der hundertsechsunddreißigste
Minister pfiff zur Tür herein. Aus den Hosentaschen
schauten ihm die neuen Befehle für die Untertanen. Von
seinen Fingern und seinem Maul tröpfelte noch Tinte. Er war
keine Minute sicher, daß ihm nicht ein guter Gedanke kam.
„Schafskopf“, rief der König und rührte erhitzt
seinen Kaffee dabei „sieht er nicht, daß ich mit wichtigen
Staatsgeschäften beschäftigt“.
Der Minister setzte natürlich – eigentlich brauchte er dies gar
nicht erst zu tun – sein dümmstes Gesicht auf.
Dann griff Majestät in seinem großartigen Schlafrock
herum und hinunter, zog erst eine Schnupftabakdose,
Malzbonbons und Lebkuchen, ein Gebetbuch, eine Käse-
rinde, Spielkarten, Dukaten, einen Kreisel und eine Mund-
harmonika, ein paar gedörrte Pflaumen hervor, die er
sich, während das Wasser kochte, aus dem Schubladen ge-
kripst, bis er endlich erfreut seinen Reichsapfel fand.
Den warf er dem lächelnden Minister an den Kopf.
Im Königreich – seinen Namen hab ich wirklich vergessen –
herrschten nämlich geordnete Verhältnisse und strengste
Formen. Es war ein Ordnungsstaat, und der König hätte
sich nie erniedrigt, selbst wenn er sterben müßte –
und das ist doch wirklich viel für einen König –,
irgendeinen anderen Gegenstand nach dem Erreger seiner
Ungnade zu werfen. Tja, es war eben noch ein anständiger
König, und die Menschen noch brave Untertanen und nicht
so schlecht und gescheit wie heute.
Ja, wie er in seinem Schlafrock Ordnung hatte, so hielten
sie die Minister, samt der Ruhe, im Staate. Und dann tat
der Reichsapfel nicht weh, denn er war, praktisch wie
alles im Königreich, – aus Gummi.
Es war eine neue patentierte Erfindung.
Satire, die den Lebenstraum Jakob Haringers spiegelt. Satire, die aufgelöst wird in dem Spruch „Je dümmer ich gewesen bin, desto mehr Glück hatte ich in der Welt“, den Haringer dem Kasperl Larifari in den Mund legt und den er seinem Räubermärchen voranstellte. Zwei Jahre lang – zwischen 1926 und 1928 – schwieg sich der Vagant aus, lebte er wieder einmal von der Hand in den Mund, bastelte er erneut seine kleinen Heftchen mit den handgeschriebenen Gedichten zusammen und schrieb Bettelbriefe an die wohlhabenden Kollegen.
Zu den Geldgebern gehörte auch der Jugendstil-Zeichner Marcus Behmer. Der kam eines Tages in das bayerische Dorf, in dem Haringer lebte. Auf der Straße sprach er einen Mann an, der einen eleganten dunklen Anzug trug: „Können Sie mir sagen, wo hier ein Herr Haringer wohnt?“ Der Angesprochene erwiderte: „Haringer? Der bin ich!“ Marcus Behmer reagierte empört, denn er fühlte sich vom „armen“ Haringer verschaukelt. Doch der redete beschwichtigend auf Behmer ein und nahm ihn mit in sein Zimmer. Dort öffnete Haringer den Schrank und zeigte dem verblüfften Besucher weitere zehn Anzüge. Haringer hatte die Masche mit den Geldbitten überzogen und schließlich nichts mehr bekommen. Ein neuer Text an die alten Spender mußte her: „Bin völlig abgerissen“, hieß es nun in den Bettelbriefen. Der Spruch tat seine Wirkung, noch einmal flossen die Spenden. Der Vagabund wurde ein Herr mit vielen Anzügen.
Beständigkeit kam in sein Leben, als der 31jährige Haringer sich in Hertha Grigat verliebte, ein 18jähriges Mädchen. Der renommierte Paul Zsolnay Verlag Salzburg nahm sich 1928 des Werkes von Haringer an, der Verlag, in dem auch Heinrich Mann publizierte. Heimweh hieß der Lyrikband, der nun herauskam. Es folgten 1930 Gedichte unter dem Titel Abschied, 1931 ließ Haringer seine ketzerische dreibändige Lyrikausgabe Das Schnarchen Gottes mit Zeichnungen von Marcus Behmer in 200 Exemplaren erscheinen. Kein Verlag traute sich, diese Gedichte, die schamlos deftig geschrieben waren, zu veröffentlichen.
Im November 1931 kaufte Haringer in Ebenau bei Salzburg ein kleines Häuschen, und Hertha Grigat lebte bei ihm. 1932 kam ein Sohn zur Welt, Johannes, 1933 eine Tochter, Ingeborg. Bei der Geburt seines Sohnes im efeuüberwucherten Klammhäusl 9 war er dabei. Als seine Tochter zur Welt kam, lebte er nicht mehr mit Hertha Grigat zusammen. Nach einem Zerwürfnis war sie nach Deutschland zurückgekehrt. Haringer hat sie nie wiedergesehen.
Hertha Grigat überlebte den Krieg in Braunschweig, kurz vor Kriegsende heiratete sie in die Kruppdynastie ein, wurde die Frau von Berndt-Rembrandt v. Bohlen u. Haibach. Haringers Kinder, die zunächst in einem Heim lebten und dann zur Mutter zogen, erfuhren erst nach dem Kriege, wer ihr wirklicher Vater war.
Jakob Haringer hat viele Gedichte über Frauen geschrieben. Als er seine Liebe zu Hertha Grigat besang, schwamm der Dichter im Gefühl davon:
Du mein Trost im Weh
O Du liebes Reh!
Beiden Toren nur und Dir ist Trost.
Ach die Welt ist schlecht,
Aber Du warst echt –
Schönstes Ostern! Liebste Weihnachtspost!
Alle trogen arg.
Alle warn mein Sarg.
Aber Du warst echt und ohne Trug!
Unser Kind – es lacht
Licht die tiefste Nacht,
Hell des Lebens ärgsten Menschenspuk.
O es war zu schön
Doch auch Du wirst gehn,
Wirst verlöschen wie ein kleiner Stern.
Nach der Trennung von der Geliebten verkaufte Haringer 1933 sein Haus in Ebenau und wurde wieder einmal Untermieter mit Einzelzimmer – diesmal in Salzburg. Im Deutschland der Nazis war er verfemt. Seine Bücher standen auf der Verbotsliste. In Österreich konnte er vorerst bleiben. In den Nationalsozialistischen Monatsheften wurden Haringers Gedichte „als typische Irrenhauspoesie des verflossenen Dadaismus“ bezeichnet. Das Blatt reihte ihn in die Reihe „der üblen Vertreter des jüdischen Kulturbolschewismus“ ein. Haringer sei ein Mann, „der hemmungslos alle religiösen und kulturellen Werte des Deutschen begeifert und lächerlich macht“.
Ein Jahr zuvor war im Verlag Anton Pustet in Salzburg sein letztes Buch vor dem Kriege unter dem Titel Vermischte Schriften herausgekommen. Darin heißt es in einem Essay von ihm:
Die Einzigen, die dir die Liebe lohnten, die immer da sind, dich zu trösten, die immer warten, die Liebes, Gutes tun: die lieben Bücher. Wo wären die Menschen, die so wie sie, jahrelang auf dich warteten, bis du endlich kommst, bis sie endlich dich verzaubern, dich reich, groß und frei machen dürfen. Freilich Bücher sind fast nichts ohne das Leben. Aber was führte uns mehr zum Leben, zum Erleben, als die Bücher. Dieses feine, zarte, heitere Glück des Lesens, durch das wir weiser, glücklicher, besser werden. Was für Wunderwelten, unerschöpfliche Schätze warten nur auf uns. Und wir brauchen sie nur zu nehmen. Mag einer noch so arm sein – solange er liest, ist er reich.
Die Frankfurter Zeitung hatte ein Jahr zuvor irrtümlich Haringers Tod vermeldet. Die Nazis wußten besser Bescheid: Sie entzogen dem Schriftsteller am 22. Juli 1936 die deutsche Staatsbürgerschaft. Haringer war schließlich in Österreich wieder auf Almosen angewiesen.
Hermann Hesse unterstützte den Vagantendichter von seinem Schweizer Domizil aus; das tat auch der damalige Großgrundbesitzer von Janko, der heute in Ungarn lebt. Haringer schickte ihm „Neue Verse“, faltete um sie ein vorgedrucktes Ablehnungsschreiben der Verlagsanstalt Benziger, die Haringer-Prosa zurückgeschickt hatte:
… haben wir zu unserem Bedauern keine Verwendung und geben sie Ihnen hiermit höflich dankend zurück.
Haringer schrieb dazu:
Hochverehrter Herr von Janko, haben Sie zufällig meinen Nekrolog in der Frankfurter Zeitung gelesen? Leider lebe ich noch… Sollten Ihnen diese Worte ein Abendbrot wert sein, so bitte ich Sie allerherzlichst darum, denn ich friste mein Leben hier von Beeren & verschimmeltem Brot.
Auf Almosen blieb Haringer nun bis zum Ende seines Lebens angewiesen. Am Tage des Einmarsches der deutschen Truppen in Österreich am 11. März 1938 wollten ihn die Nazis verhaften. Doch Haringer war am Abend zuvor gewarnt worden und nach Prag geflohen. An einen Freund schrieb er aus Prag:
Ich bin den Henkern mit tausend Todesnöten entkommen. Gestern verbrachte ich zehn Stunden im Wasser, um die tschechische Grenze zu erreichen, gehetzt von der Gestapo. Wann endlich sieht die Welt ein, was ihr vom Hakenkreuz blüht?
Mit einem Flugzeug gelangte Haringer nach Frankreich, von Frankreich kam er illegal in die Schweiz. Dort versteckte er sich bei Freunden. Zu ihnen gehörte die Familie des Zürcher Professors Rudolf Bernoulli, die zwar nicht verhindern konnte, daß Haringer in ein Zuchthaus und dann in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wurde, doch Bernoulli und andere Gönner Haringers erreichten schließlich seine Freilassung und setzten auch durch, daß sein Gesuch um „Toleranzbewilligung“ durchkam, so daß er dem Schicksal der Ausweisung entging.
In den Jahren der Emigration beschäftigte sich Haringer auf seine Art mit der Politik, erinnerte er sich schreibend an seinen Einsatz für die bayerische Räterepublik im Jahre 1919, suchte er – zur Ruhe gezwungen – einen Standort, der über seine früh in Deutschland geäußerte Ablehnung des Nationalsozialismus hinausging. Er schrieb:
Es ist gefährlich, den Kampf aufzunehmen, ohne im Tiefsten mit sich selber einig zu sein. Ich denke an die Geschichte des Eremiten, der, um sich Gott hinzugeben und allen irdischen Gelüsten zu entsagen, sich selbst entmannte. Nun war er zwar frei von allen Anfechtungen, zugleich aber hatte er die Energie der Liebe zu Gott verloren, war aber wegen seiner Kastration unfähig, in das normale Leben zurückzukehren. So steht es mit vielen kommunistischen Bürokraten, die den Glauben zu der stets wechselnden Parteilinie verloren haben, aber durch ihre eigentümliche Deformation auch die Fähigkeit verloren haben, zum normalen Menschentum zurückzukehren. Sie wirken oft wie Schlafwandler und sind – hinter der stählernen Maske – verschüchterte, übervorsichtige Menschlein.
über den Marxismus urteilte er:
Es gibt keine Theorie, die an sich revolutionär ist und sich nicht zu reaktionären Zwecken verwenden ließ. Der Marxismus ist von einer Lehre zu einer Droge geworden, zu einer Gewissenserleichterung. Vielleicht wird einmal die Losung zu geben sein: der Marxismus ist Opium für das Volk. Lebendig am Marxismus ist vor allem die Ideologiekritik. Marxismus kann als kalte Technokratie verstanden werden, ist aber im Wesen eine tragisch-menschliche Schau. Der Sozialismus wird den Marxismus überleben… es könnte sein, daß der Faschismus militärisch besiegt wird und doch sogar in den Siegerstaaten wiederentsteht…
Jakob Haringer ließ sich nach Kriegsende in der Gemeinde Köniz bei Bern nieder. Im Dachgeschoß eines Bauernhauses wurden ihm zwei Zimmer zur Verfügung gestellt. Hier schrieb er neue Gedichte. Auf jedem noch so winzigen Zettel Papier, auf Streichholzschachteln, Kalenderblättern:
Der Mohn glüht wie ein Lied so schön
Sie wollen lauter weißes Leid
Dunkles mag keiner mehr tragen
Wie ein schlafendes Mädchen
Das so wunderschön träumt
Aber hier ist das Land
Und was wird in ihm sein?
Ein Gebet oder ein Fluch?
Wenn die letzten Herzblätter
Lustig gen Himmel wehn:
Nimmst Du das Leben nicht leicht
Wird’s dir zu schwer.
*
Der liebe Gott der kennt mich nicht,
Was soll er da schon tun?
Wie gern, wie gern, ach, tät man’s nicht
Und dennoch muß man’s tun!
Unnütz verharzt, unnütz vertan,
Das Leben zwingt dazu.
Glück war kein Glück, Fleiß war kein Fleiß,
Und Ruh war keine Ruh.
Das Laub fällt ab, mein Herz fiel ab,
Wo bleibt die Sonne, der Mai?
Und eh du dir den Schlaf auswischt,
Ist alles schon vorbei.
Wenn einer lauter Sterne hat
So braucht er auch kein Licht,
Und der Gott, der alles wissen soll,
Der weiß es eben nicht!
*
Und man schuf sich selbst das schwerste Los
ging täglich zum Schafott
& man tat’s ja nur aus Liebe bloß
und der Sehnsucht nach einem Gott
So ging man traurig & hoffnungslos
durch’s tiefste Wintergrau
& man tat’s ja nur aus Liebe bloß
& der Sehnsucht nach einer Frau
Eine Wolke soll taun, eine Wolke soll schnein
die Einem Alles lächelnd fortnimmt
Und in rosige Mainacht hinein
zu einem Engelein schwimmt
Aber so ist kein Engel da
& bloß die schwarze Zeit
& man tat’s ja bloß weg’n dem Tralala
aus der alten Kinderzeit!
Der Pegasus-Verlag in Zürich veröffentlichte 1946 eine Auswahl von Haringer-Gedichten unter dem Titel Das Fenster. Nur 211 Exemplare konnten davon verkauft werden. Der Rest wurde eingestampft.
In Köniz erinnerte sich Jakob Haringer an eine Angestellte im Berliner Telegraphenamt, Else Rüdrich. Eine Liebesgeschichte aus der Vorkriegszeit. Sie war in der Nacht in Salzburg bei ihm gewesen, als er flüchten mußte. Sie war nicht mit ihm gegangen. Während des Krieges hatte sie ihn in der Schweiz besucht, war von Gestapo-Beamten beschattet worden und hatte nach der Rückkehr nach Berlin ihre Stellung verloren. Jakob Haringer schrieb Else Rüdrich am 20. März 1948, sie möge nach Gottmadingen an die deutsch-schweizerische Grenze kommen, er wolle sie heiraten.
Else Rüdrich kam am 3. April. Sie wartete. Wer nicht eintraf, war Haringer. Sie schrieb ihm nach Köniz. Der Brief kam zurück mit der Aufschrift „Empfänger am 3. April 1948 gestorben“. Auf der Fahrt von Köniz nach Gottmadingen hatte Haringer in Zürich bei Freunden Station gemacht, seinen 50. Geburtstag nachträglich und seine bevorstehende Hochzeit mit etlichen Flaschen Wein gefeiert.
Der Verleger Werner Classen, der nach dem Tode Haringers dessen zur Veröffentlichung vorbereitete Lieder eines Lumpen herausbrachte, erinnerte sich an die Abschiedszeremonie im nächtlichen Zürich:
Meine Frau und ich brachten ihn zu dem Haus, in dem er übernachtete. Doch Haringer bestand darauf, uns nach Hause zu bringen. Als er bei uns war, ließ er sich wieder zurückbegleiten und kam dann doch wieder zu uns mit. Bleiben wollte er nicht. Also gingen wir wieder mit ihm zurück. Auf einer Brücke unterwegs verabschiedete er sich, wollte allein sein. Wir hörten ihn noch die Worte johlen „auf die ganze Welt scheiß ich“. Dann war Ruhe.
Haringer stieg die Treppen zu seinem Mansardenzimmer hinauf, öffnete die Tür und brach tot vor seinem Bett zusammen.
Else Rüdrich erinnert sich heute:
Er war so vollkommen anders als alle anderen. Eigentlich war er im Innersten seines Wesens ein schüchterner Mann.
Kurz vor seinem Tode hatte Haringer geschrieben:
Erwartung ist alles und immer das Schönste. Die in der Sehnsucht leben, wachsen zu Riesen. Man besitzt nie einen Menschen mehr, als wenn man ihn nie besessen. Das Erlebnis ist der Grabstein der Phantasie, schon deshalb flieht der Träumer oft die Erfüllung seiner Sehnsucht.
Ein solcher Träumer war Jakob Haringer, ein Träumer aus schierer Verzweiflung. Ein Mann, der nicht bekam, was er gesucht hatte, und der nun träumte, der Traum sei alles.
Nach dem Tode des Dichters suchte die Gemeinde Köniz die Erben. Das Erbe wollte niemand antreten. Haringers Nachlaß wurde gering eingeschätzt. Seine Schulden waren hoch. Das eine war als Erbe mit dem anderen verbunden. Der Polizeisekretär Jenk fand den Nachlaß ausgebreitet in den zwei Zimmern Haringers: Neben vielen Originalmanuskripten der alten Werke hunderte von Zetteln, Papierschnitzeln, Briefumschlägen, auf die Haringer seine Einfälle notiert hatte. Der Polizeisekretär packte Zettel und Papiere und Bücher zusammen, tat sie in drei Kisten und stellte sie auf den Boden des Gemeindeamtes.
Sechzehn Jahre nach Haringers Tod kroch der Student Werner Amstad aus Morschach auf den Boden, sichtete das Material und schrieb eine Dissertation über Haringer, die bisher einzige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk und dem Leben des Dichters. Dann geriet der Nachlaß wieder in Vergessenheit.
Bei den Recherchen für mein Buch „Die verbrannten Dichter“ holte der längst pensionierte Polizeisekretär Jenk die Kisten wieder vom Boden.
Auf den vielen Zetteln Sätze wie:
Wie erbärmlich klein werden vorm Tode alle Gemeinheiten dieses Lebens… Mit den Dummen ist das Schicksal… immer mild Anstand hat nur der, der fühlt, wie den anderen zu Mute ist Glückliche sind meistens geistlos… ja, was Lügen betrifft, da nehmens viele sehr genau… manchmal schämt sich einer für die ganze Menschheit… muß doch warten auf das Kamel, das mich mal durchs Nadelöhr führt.
Auf dem Friedhof von Köniz ist die Urne mit der Asche Haringers beigesetzt. Der 50jährige Dichter hinterließ ein Werk von mehr als einem Dutzend Bänden. Die Bände werden in deutschen Antiquariaten zu Höchstpreisen verkauft. Der Carl Hanser Verlag macht die charakteristischen Haringer-Gedichte nun wieder der Öffentlichkeit zugänglich. Ein Werk, das sein Gewicht hat in der bayerischen Tradition der Schriftsteller Emerenz Meier, Lena Christ, Oskar Maria Graf und Herbert Achternbusch.
Jürgen Serke, Nachwort
Zu dieser Auswahl
Vorangestellt sind Gedichte aus der dreibändigen Ausgabe Das Schnarchen Gottes, die 1931 als Privatdruck in 200 Exemplaren erschienen und dann nicht mehr nachgedruckt wurden. Haringer brachte diese Gedichte unter der fiktiven Adresse „Christof Brundel Verlag Amsterdam“ heraus.
Zwei Bemerkungen hat Haringer dem Privatdruck nachgeschickt: „Notiz für fachsimplige Entwicklungstrottel: Zum größten Teil während der Schlächterei 1914–1917 geschrieben.“ Und:
Bemerkung für Justizbeflissene: Es ist hier der Gott Jupiter, genannt Mayer gemeint. Mithin ist es ein Privatgott Haringers. Bitte das zu beachten und keiner Verwechslung zum Opfer fallen.
Die Gedichte, die dem Schnarchen Gottes folgen, sind nach den Erscheinungsdaten der Lyrikbände Haringers geordnet. Spezielle Daten zur Entstehungsgeschichte der einzelnen Gedichte sind nicht überliefert. Im Inhaltsverzeichnis dieser Auswahl ist kenntlich gemacht, in welchen Original-Bänden die jetzt abgedruckten Gedichte enthalten und wann jene Bände erschienen sind.
Bei dem Band Weihnacht im Armenhaus, den Haringer im Selbstverlag herausbrachte, fehlt das Erscheinungsdatum. Aus Briefen Haringers an damalige Freunde muß davon ausgegangen werden, daß der Band 1924 gedruckt wurde.
Der Herausgeber hat offensichtliche orthographische Fehler, die meist in den Privatdrucken enthalten und beim Setzen entstanden sind, beseitigt. Die zahlreichen sprachlichen Eigenwilligkeiten Haringers wurden nicht angetastet.
Jürgen Serke, Nachwort
Jakob Haringer (1898–1948),
stets umgetriebener Vagant, Landstreicher, Bettler und unvergleichlicher Herrgottsdichter, der über tausend Gedichte schrieb und ein Werk von mehr als zwanzig Bänden hinterließ, gehört zu jenen Autoren, die gehaßt, verkannt, verfolgt, verbrannt, totgeschwiegen und vergessen wurden. Sein Name ist kaum noch bekannt, das Werk des Vergessens war gründlich.
Haringer schrieb – voller Zorn und Trauer – gegen den Krieg, gegen Patriotismus und falsches Heldentum, gegen soziale Ungerechtigkeit und mißverstandenes Christentum; er schrieb dies in kämpferischen Rhythmen und resignativen Balladen, in Natur- und Liebeslyrik und in Bettelliedern.
Seine Gedichte wurden von Döblin und Hermann Hesse gerühmt, von der fortschrittlichen Presse begeistert aufgenommen, mit Literaturpreisen ausgezeichnet und von Schönberg vertont – bis die nationalsozialistische Propaganda auch Haringers Werk zerstörte.
Mit der vorliegenden Ausgabe wird ein zu Unrecht vergessener Autor wiederentdeckt.
Carl Hanser Verlag, Klappentext, 1979
Beitrag zu diesem Buch:
Erich Jooß: Wiedergelesen – Folge 5
dasgedichtblog.de, 15.1.2015
Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + IZA + Kalliope
Nachrufe auf Jürgen Serke: SZ ✝︎ FAZ ✝︎ Zeit ✝︎
Paul Hühnerfeld: Jakob Haringer, Die Zeit, 28.6.1956








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