ASTRONOMISCHES VIERTEL
Von der Sternwarte aus könnte es sich lohnen,
dir zuzusehen, wie du die Straße querst,
in dem mattgrauen, dehnbaren Flaum,
aus dem du bestehst.
Schon ist es zu spät, der Tag vorüber,
und wenn es dich noch gibt,
bist du in einer Parallelgalaxie.
Hinter der Brockhausfassade endet die Weisheit
und die Wildnis beginnt, im Torbogen,
der vom Hotel den kürzesten Weg
in die Stadt einschlägt. Die Straße
kennt kein Replay, nur laufend
neue Lichtverhältnisse, Blätterschatten,
Schall und deine beschwingte Schrittkadenz,
die bisweilen an entfernte Lieder grenzt.
An der medizinischen Fakultät ist die Beweisaufnahme
abgeschlossen
und die Studenten strömen in den Abend aus,
Teil des Nebels, aus dem du wie Muschelkalk
herausgewittert bist, bis du Pore für Pore
mit ihm identisch warst. Die Milchstraße
ist auf den Kernschatten zweier Stirnlampen geschrumpft,
mit denen wir uns am Brennesselgebüsch
durch die Baustellenausfahrt drücken.
Was erwartet uns an der Empore?
Ein Gartenerker über altem Mauerputz,
das Inkognito, wo du dem Winter trotzt,
zur Tarnung
gibst du Unterricht in Reiten, Fechten und Ballett.
Das von der Sonne durchschossene Blätterdach auf der Flugbahn der Mauersegler. Die Epoche, in der ein Meer zu Sandstein vertrocknet. Der vor unseren Fenstern tobende Krieg. Diese Gedichte sind Zeitzeugen des Lichts, das es seit viereinhalb Milliarden Jahren gibt, Zeitzeugen der Schwerkraft, welche die Erde auf ihrer Umlaufbahn hält, Zeitzeugen des Lächelns in einem Vorortzug, das zwischen zwei Stationen über die Gesichter huscht.
Jan Röhnerts Poesie durchdringt auch in seinen neuen Gedichten die Schönheiten und Abgründe unserer Innen- und Außenwelten auf eine höchst sinnliche als auch tief analysierende Weise, die einzigartig ist in der deutschsprachigen Dichtung der Gegenwart.
Der Natur und den vielen Reisen in die Welt verdankt der in Leipzig lebende Literaturwissenschaftler, Übersetzer, Essayist, Prosa- und Lyrik-Autor Jan Röhnert (geb. 1976 in Gera) seine Anregungen und Eingebungen auch für seinen jüngsten Gedichtband ERDTAGZEIT. Röhnert ist nicht nur ein genialer Beobachter, sondern verfügt über ein umfangreiches botanisches und naturkundliches Wissen (vor allem in der Ornithologie): In seinem Gedicht „Aus dem Protokoll der Wahrscheinlichkeiten“ (jeder Vers wird mit der Wahrscheinlichkeitsformel „wenn es scheint“ eingeleitet) werden mit wenigen sprachlichen Mitteln Habitus und Verhaltenstypisches des jeweiligen Vogels charakterisiert:
… wenn es eine Schwalbe scheint,
Flügelbogenschwanzantennenpaar
bei Licht besehen
ist es eine Schwalbe.
Umwelt und Natur spielen in Röhnerts Gedichten eine besondere Rolle („Kleine Schmöllner Elegie“, „Crossen Ort“). Deutsche Geschichte wird lebendig („Studie zu einem nicht ausgeführten Altar“ / Bad Frankenhausen), Reiseimpressionen vom Orient, Ägypten und dem Iran (ein Gedicht ist seiner persischen Freundin Mirette gewidmet) verschmelzen Realität und Mythos, Geschichte und Aktuelles. Ein Langgedicht aus fünf Teilen huldigt dem Venezianischen Maler Tiepolo und seinen Fresken in Santa Maria della Salute. Das den dritten Teil des Bandes eröffnende Titelgedicht „ERDTAGZEIT“ erzählt in lyrischer Prosa vom Werden und Vergehen der Erdzeitalter: Vom Sandstein und anderen Gesteinen über die Jahreszeiten, Krieg und Frieden bis zu Hölderlinzeilen, den Geschichten und Tränen und den Sedimenten der Tage, die einmal ein Erdzeitalter sind: Alle „machen weiter“. Eine Serie von Haiku und Tanka gibt Augenblicke von Natureindrücken in seinem geliebten Thüringen wieder (Eichsfeld), mit verstecktem Bezug zu Goethe (Kickelhahn: „Meisters Stille“). Ein stimmungsvolles und farbreiches Hiddensee-Gedicht betört am Ende des Bandes mit atmosphärischen Bildern und Metaphern:
… Ein Leben reicht nicht hin
die Farben alle durchzupausen,
bis sie dir unter die Haut gesickert sind –
Wiesenschwengel Wollgras Heidekraut
und die Wälder wie ein Block Granit
blauschwarz ferner Eiszeitrest…
Georg Rainer, Signum, Heft 2, Sommer 2024
Jan Röhnert ist schon vielen Spuren als weltkundiger Wortgänger gefolgt. Dem „Randgänger“ Wulf Kirsten ähnlich, liebt er die Spondeen oder, wie in seinem Titel Erdtagzeit, auch dreiteilige Hebungen, wie sie Dingwörter hervorbringen. Schaut man, ja atmet man dann aber in Röhnerts Gedichten, merkt man schnell, dass man sich in Odenstrophen, meist neuerer Bauart, bewegt. Was weiterhin auffällt, ist das Kontinuum der Vogelkunde, das so ausgeprägt sonst wohl nur noch im Vogelwerk von Henning Ziebritzki, bei Jan Wagner oder eben auch bei Kirsten erscheint, auf den er sich in seinem schönen Gedicht „Der Rede wert“ bezieht. Röhnert, der es meist mit einfachstem Vokabular schafft, Seelen- und Geisteslandschaften samt ihren Rätseln und Verschlossenheiten vor und in uns entstehen zu lassen, erreicht bei den Vögeln oft nur mit Namedropping, dass sie uns präsent werden. Sie sind vorzufinden in 35 Gedichten des Bandes, darunter seine Favoriten Eisvogel, Wiedehopf und Mauersegler, besonders jedoch der Bienenfresser. Man hört ihn nur:
aus weiter Ferne
ihre vagen, wandernden Stimmen
das vielkehlige Schwärmen
verhalten angetäuscht gedimmt
und einfach da
vibrierender Teppich aus Klang
in der Sommerluft
im Mittag überhelles
zerfließendes Muster
sich knüpfend schon wieder gelöst.
Wenn ein Kosmopolit wie Raoul Schrott Jan Röhnert zu den „welthaltigsten und weltläufigsten deutschen Dichtern“ zählt, dann ist zwar auch der Karstwanderer mit seinen zwei Büchern aus jüngster Zeit zu diesem Thema gemeint, vor allem aber der Lyriker Röhnert. Da ist es denn auch kein Wunder, dass dieser Wanderer auf den seelenverwandten Mitreisenden Jan Wagner traf. Beide kann man als Team auf Lesungen erleben. Sie lassen uns nicht nur mitreisen, wir bekommen da auch das Gefühl, an den entspannten Gesprächen teilnehmen zu dürfen, wie sie während einer Rast geführt werden. Das klingt ein wenig nach Romantik, aber Nature Writing im Stil von Robert Macfarlane und überhaupt die gesamte Erdtagzeit sind natürlich auch „romantisch“.
Alle bisherigen Reise- und Landschaftsessays und die fünf Gedichtbände von Jan Röhnert könnte man als eine Fortschreibung des naturschreibend-menschheitlichen Gedichts „Lob des Kalksteins“ von Wystan Hugh Auden lesen. Stephen Spender nannte es einmal „eines der größten Gedichte des Jahrhunderts“. Die eigentliche Initialzündung für den geophilosophischen Weltwanderer und, so Wagner, „Augenkünstler“ Röhnert war und ist bis heute aber ein „provinzieller“ Ort, ein Steinbruch im ostthüringischen Oberndorf, seine Heimat und Refugium: „das höchste Gut / sperrangelweit offen / für Stille / und Grillengezirp“, so lauten Verse aus dem Gedicht „Landmittwochsland, vielleicht“, oder:
über Spinnenfäden im Gras
tanzt sein Licht
auf der Wiese duftet
der Himmel nach Heu.
Himmel, vor allem Sommerhimmel, gewinnen bei ihm einen fast schon religiösen Wert.
Röhnert geht in die Welt und in der Welt, und bringt nicht nur geschauten Landschaften davon mit, auch Porträts, Historisches, Zeitpolitisches oder einem nach- und nahegehende Liebesgedichte wie „Sandbank“:
Weder deine
noch meine Provinz erreichten wir je.
Dorthin geht Röhnert oft, um das besonders sinngesättigte Licht aufzutanken. Das Hölderlinsche „Ins Offne“ kann eben auch eine Rückkehr unter einen Ursprungshimmel bedeuten. Dort schon begann ja alles:
Die Welt hat mir ein Geheimnis hinterlassen,
das ich nur im Freien lösen kann.
Röhnerts Gedicht „Die Nachrichten von nebenan“ bezieht sich auf Inger Christensens berühmtes Alphabet und wird inzwischen viel zitiert, es endet mit einer Quintessenz des Bandes:
Zum Wasser will alles, der Stein wäscht es aus.
Die Geschichten machen weiter, die Tränen,
die Sedimente der Tage, die einmal ein Erdzeitalter sind.
Wilhelm Bartsch, Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 2, 2024
Stephan Turowski: Das Licht in den Blättern
signaturen-magazin.de
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
Erden und Erdtagzeit: Jan Volker Röhnert und Jan Wagner im Gespräch über ihre neuen Bände am 17.1.2024 im Lyrik Kabinett in München
Vom Gehen im Karst | Katrin Schumacher unterwegs mit dem Literaturwissenschaftler und Lyriker Jan Röhnert
Schreibe einen Kommentar