ELEKTRISCHE ENERGIE
Leb wohl, deutsches Radio mit dem grünen Auge,
du schwere Kiste, zusammengesetzt – fast –
aus Körper und Seele (deine Lampen glühten
lachsfarben, rosig, wie das tiefe Ich
bei Bergson).
aaaaaaaaaaaaDurch den dicken Stoffbezug über dem
Lautsprecher (mein Ohr preßte sich an dich wie ans
Gitter des Beichtstuhls) hatte einst Mussolini geflüstert,
Hitler geschrien, Stalin etwas ruhig erklärt,
Bierut gezischt, Gomulka ohne Ende geredet.
Dennoch wirft dir niemand Verrat vor, Radio,
nein, deine einzige Sünde war der unbedingte
Gehorsam, die zärtliche Treue zu den Megaherzen:
wer kam, wurde gehört, wer sendete –
empfangen.
aaaaaaaaaaaaaaaaaIch weiß ja, daß dich erst
Schuberts Lieder in die höchste,
smaragdene Seligkeit versetzten.
Chopins Walzer bewirkten, daß dein elektrisches
Herz sanft und stark schlug und der Stoff
über dem Lautsprecher sich hob, wie der Busen
verliebter Mädchen in den frühen Romanen.
Etwas anderes die Nachrichten – vor allem
wenn sie der Sender Freies Europa oder BBC ausstrahlten;
dein Auge wurde unruhig, die grüne
Pupille weitete sich und schrumpfte, wie
nach unterschiedlichen Dosierungen von Atropin.
Rasende Möwen wohnten in dir, Macbeth.
Verlorene Signale sammelten sich des Nachts
in deinen Gemächern. Die Seeleute baten um Hilfe,
der junge Komet, der den Kopf verloren hatte, weinte.
Ich begleitete deine Vergreisung – sie zeigte sich an
mit heiserer Stimme, mit stockenden Sätzen, dann mit dem Knacken (Husten),
schließlich mit der Blindheit (das Meeresauge erlosch)
und mit der dumpfen, dumpfen Stille. Ruhe sanft,
mein deutsches Erbstück, mein Volksempfänger,
träume von Schumann und werde nicht wach,
wenn der nächste Hahn Diktator kräht.
Der heute 55-jährige Adam Zagajewski gehört zu den bekanntesten und berühmtesten polnischen Dichtern der Gegenwart.
Zagajewski ist seit dem Beginn seiner literarischen Tätigkeit, Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, verbunden mit einer Künstlergruppe, die sich Neue Welle oder Generation 68 nennt. Die Literaten der Neuen Welle formulierten die Forderung, die polnische Literatur im Geiste des Realismus und der Wahrheit zu erneuern. Ein wichtiges Postulat war dabei die Auslotung des Wahrheitsgehaltes der Alltagssprache. Dies bedeutete einen heimlichen Angriff gegen die offizielle Sprache des Gesellschaftslebens in Polen, sowie gegen die polnische Literatursprache, die der Kontrolle durch die Zensur unterlag.
Adam Zagajewski wurde zunächst eher als Kritiker und Theoretiker betrachtet und weniger als Dichter. Seine zahlreichen Äußerungen über die geforderte neue Form der Literatur, sowie die für die damalige Zeit wildaggressiven literaturkritischen Texte, wurden und werden als fundamental für das Programm der neuen jungen Formation begriffen. Die wichtigsten Forderungen Zagajewskis waren: die „Entfärbung“ des Bildes der Wirklichkeit in der polnischen Literatur, die Einnahme einer nicht naiven, schöpferischen Haltung des Künstlers, die Ablehnung einer „symbolischen Sprache“ zugunsten einer „konkreten Sprache“, aber auch das „Aussprechen der Wahrheit“ und die „direkte Sprache“.
Als Dichter debütierte Zagajewski, im Vergleich mit anderen Poeten seiner Generation, verhältnismäßig spät. 1972 erschien das Bändchen mit dem für die Poetik der Gruppe so typischen Titel Verlautbarung. Der nächste offiziell erschienene Gedichtband mit Gedichten Zagajewskis ist Fleischläden von 1975. Danach mußte er seine Gedichtbände auf nicht offiziellem Wege oder im Ausland veröffentlichen, um erst nach der Abschaffung der Zensur mit dem Bändchen Leinwand 1990 wieder ins offizielle Publikationswesen zurückzukehren. Heute werden die beiden ersten Gedichtbände von Zagajewski als modellhafte Beispiele für die Umsetzung der künstlerischen Forderungen der Neuen Welle in der poetischen Praxis angesehen. Der Dichter benutzt bewußt eine prosaische Straßensprache, demaskiert die Sprache der Propaganda, indem er mit ihr trefflich spielt, rüttelt an Stereotypen und gesellschaftlichen Konventionen. Zagajewski zeigt sich als Meister der ironischen Betrachtung einer Welt, die sich nach kommunistischen Vorstellungen organisiert.
Über den Autor von Leinwand sagt man gewöhnlich, daß sein Werk sich als zweigeteilt beschreiben läßt. Und so ist es auch. Der erste Teil wird durch programmatische Skizzen aus Die nicht vorgestellte Welt und durch ihre künstlerische Realisierung in den ersten Gedichtbänden gebildet. Den zweiten Teil bilden die Sammlung von Essays Solidarität und Einsamkeit, die bereits nach der Emigration Zagajewskis nach Frankreich erschien, sowie die drei nächsten Gedichtbände, mit dem bekanntesten Nach Lemberg fahren aus dem Jahre 1985. Ein Zeichen des Wechsels und der Veränderung ist das Buch Brief. Ode an die Vielheit, das in Paris vom Literarischen Institut 1983 herausgegeben wurde. (Eine frühere Version dieses Buches erschien ein Jahr früher in Polen in einem nichtoffiziellen Verlag.)
Mit einer neuen Essaysammlung und später mit einem neuen Gedichtband trat Zagajewski in die Diskussion über die Art der Aufgaben und Herausforderungen der polnischen Literatur ein, die Mitte der siebziger Jahre geführt wurde. Die Stimme Zagajewskis wurde sofort zu einer der wichtigsten und traf sowohl auf enthusiastische Zustimmung, als auch auf unerbittliche Kritik. Zagajewski gab das programmatische Herangehen an die Kunst auf, wendete sich von der Idee der Erörterung gesellschaftlicher Funktionen der Literatur, sowie von der Idee, die Wirklichkeit durch Dichtung gewissermaßen direkt abzubilden, ab. In Solidarität und Einsamkeit schuf Zagajewski eine Vision des Künstlers, dessen kreativer Akt auf einzigartigen individuellen, geistigen und existentiellen Erfahrungen basiert. In dem folgenden essayistischen Band Zwei Städte wurde diese Vision weiterentwickelt. Für die polnische Literatur, die zu diesem Zeitpunkt in den politisch-historischen Kontext des Endes der Volksrepublik verwickelt war, hatte dieses „Quasi-Programm“ (denn die Diagnosen Zagajewskis hatten schon nicht mehr solch eine „diktatorische“ Kraft wie die früheren aus der Zeit von Die nicht vorgestellte Welt) eine nicht unwesentliche und belebende Bedeutung. Gerade als Essayist und als Dichter zeigte sich Zagajewski als einer der geistigen Patrone der jungen Schriftsteller, die mit dem Ende des Kommunismus gegen Ende der achtziger Jahre ein literarisches Konzept der privaten Erfahrung entwickelten, in dem stolz (und widerspenstig) gesellschaftliches Leben und politische Faszination geringgeschätzt wurden. Die „Neue Poesie“ von Adam Zagajewski wurde zur Dichtung der Kultur, der Vorstellungskraft, der emotionalen und intellektuellen Erfahrung. Sie ist reich an malerischen und musikalischen Metaphern und geht mit Bildern frei um. Sie ist der Versuch, die Beobachtung der Welt aus der Perspektive des Individuums (mit einer bestimmten Biographie und mannigfaltigen konkreten Vorlieben) zu notieren. Diese Dichtung ist konzeptionell und impressiv, verwirft die Realistik und wendet sich von allem publizistischen Ehrgeiz ab. Das Buch Nach Lemberg fahren wurde im allgemeinen positiv aufgenommen und ist eines der wichtigsten dichterischen Bücher der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in der polnischen Literatur.
Zweifellos hat die Dichtung Zagajewskis bereits klassischen Rang eingenommen und ihr Autor die Stellung eines Klassikers der zeitgenössischen polnischen Literatur. Adam Zagajewski verhält sich gegenüber enthusiastischen wie kritischen Reaktionen auf sein Werk mit würdevoller Gleichgültigkeit, obwohl sowohl diese als auch jene von der Vitalität und dem Gewicht seines Schaffens zeugen. Der Dichter, der voller Schaffenskraft ist und es versteht, mit Distanz und äußerst charmanter Selbstironie sein Werk zu betrachten, wird den Lesern gewiß noch zahlreiche bewegende Momente liefern und sie mit etwas Unerwartetem überraschen…
Jarosław Klejnocki, Vorwort
Daniel Henseler: Unterwegssein, Fremdheit, Heimkehren. Zur conditio des lyrischen Ichs in Adam Zagajewskis Gedichten.
Burkhard Reinartz: Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen. Der polnische Schriftsteller Adam Zagajewski.
Nico Bleutge: Suche nach Glanz
Neue Zürcher Zeitung, 20.6.2015
dpa: Promi-Geburtstag vom 21. Juni 2020: Adam Zagajewski
stern.de, 19.6.2020
Adam Zagajewski liest seine Gedichte „Now that you’ve lost your memory“ und „Piano lesson“.
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