keine multiversen, kein wenden in der einbahnstraße der zeit,
strikt untersagt die vorstellung der welt als eine platte
scheibe, die man zur buße oder bestätigung auflegen kann,
um in sie unendlicher wiederholung abzuspielen. daraus folgt erstens,
es gibt von uns keine kopien, weder als automaten
noch als clone, und zweitens, daß sogar ähnlichkeiten suchen
einen verrat an dir und an mir bedeuten würde,
woraus drittens folgt, auch dies ist dauer: im umlauf
der jahreszeiten, im rotieren der tage zuhören einer stimme.
In Zeiten der Verunsicherung kann die Poesie dabei helfen, ein Gegengewicht zu installieren, indem sie die aktuelle Stimmung aufgreift, ohne diese gezielt zu benennen. Die Gedichte der Gottesdeponie thematisieren deshalb, was für uns wesentlich ist: Sprache und Liebe, die Liebe zur Sprache. Denn beides macht den Menschen nicht nur zu einem humanen, sondern auch zu einem vernunftbegabten Wesen. Die streng durchgehaltene Form von 99 Texten mit jeweils exakt neun Zeilen à neun Worten (bzw. Silben) soll an die antike Tradition metrischer Dichtung anknüpfen, innerhalb der Texte werden die Worte jedoch semantisch und grammatisch quer durch mehrere Sprachen nahezu entfesselt. Denn ein Gedicht kann allemal ,modern‘ sein und sich auf die Tradition besinnen, die stets als synchron, als ,mitlebend‘, betrachtet wird. Die Gedichte schlüpfen in Rollen, legen sich Masken an, breiten die Arme aus und nehmen viele Personen in sich auf, Erasmus Darwin, John Burroughs, Loren Eiseley, Germaine Krull und Albrecht Altdorfer, um nur einige zu erwähnen. Daraus ergibt sich ein langer Wechselgesang zwischen einem Ich und einem Du – denn das Gedicht ist ja, nach der eindrücklichen Darstellung des Literaturwissenschaftlers Heinz Schlaffer, v.a. Anrede und Anrufung. Es bleibt hier jedoch rätselhaft, wer denn angeredet wird: ein Mensch, ein Gott, womöglich die Sprache selbst? Die Evolution des Lebens ähnelt der Entstehung des Gedichts, und das Gedicht wiederum besitzt die Fähigkeit, die Zeit zumindest im Werk für einen kurzen Augenblick umzukehren oder sogar aufzuheben. In der Gottesdeponie werden zahlreiche (Leit-)Motive in immer neue Zusammenhänge gebracht, bis sie wie ein vielstimmiges Lied ertönen, mal eher im Parlando, dann wieder unverhohlen sublim; mal mit Rückgriffen auf das komplexe Wissen über eine noch komplexere Welt, dann wieder ganz schlicht, sinnlich und direkt hinein in die alltägliche Erfahrung sprechend. Dinge miteinander zu verknüpfen und ihre Reibungsflächen abzuhorchen, ist der sinnstiftende Prozeß der Sprache.
Marcus Neuert: Vom „Wörtern“ des zweiten Körpers
signaturen-magazin.de, April/Mai 2023
Monika Vasik: „obwohl ich die endlichkeit verweigere“
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