VERZÄHLVERS
Ene mene Ruh und raus
Wird viel Gewesenes gekehrt
Um und um
So auch ein Schuh draus
Und der Würfel
Auf Sechs gedreht
Das Spiel am Ende
Hat hier
Nichts verloren
Kerstin Hensel Cinderella räumt auf. Lesung, Gespräch, Buchpremiere im Literaturforum im Brecht-Haus am 17.6.2021. Moderation: Carola Opitz-Wiemers
„Um und um deute ich mich. Zur Poetik Kerstin Hensels“
„Ophelia steigt aus“, „Sappho tritt zurück“, „Cinderella räumt auf“.
In Kerstin Hensels Poetik kann von Harmonie und Stillstand keine Rede sein. Der Duktus, mit dem hier die Abkehr vom Kanon verkündet wird, ist radikal, und durchaus entschieden klingt Sapphos Stimme
schöner Glied-
Erlösender du
Kannst mich mal!
Ophelia, die „Dramaqueen“ Shakespeares und schöne Wasserleiche à la Gottfried Benn, erlöst sich derweil selbst, um endlich einmal „Glücklich / Halbwegs“ zu sein. Sie steigt aus dem verschlissenen Maskeradenkarussell aus, was sie weder zur Heldin noch zur Verliererin macht.
Kerstin Hensel stimmte im vorherigen Gedichtband Schleuderfigur mit Ophelia und Sappho eine Klaviatur menschlichen Begehrens an, die in Cinderella räumt auf eine facettenreiche Fortschreibung erfährt.
Im lyrischen Werk der 1961 geborenen Dichterin stellt der ironisch-sarkastische Umgang mit der literarischen Tradition eine bemerkenswerte Kontinuität dar. Nachdem erste Gedichte im legendären Poesiealbum erschienen waren, brachte die Berliner Edition Balance zum 30. Geburtstag Liebesgedichte unter dem Titel Ab tritt Fräulein Jungfer! heraus. Diese, wie auch spätere Publikationen, sind mit Grafiken versehen, so dass sich zwischen Poesie und bildender Kunst schon früh ein intensives Zwiegespräch entwickelte, das Kerstin Hensel bis heute mit Neugierde pflegt. Überhaupt erstaunt die Simultanität der Gattungen, in denen sie sich von Anbeginn mühelos bewegt. Erzählungen und Romane, Hörspiele und Stücke, Essays, Libretti und Features gehören zum Repertoire. Als Dichterin beherrscht sie ein Terrain, das von der klassischen Oden- und Sonettform bis zur lautmalerischen Performance reicht. Respektlos und mit Argusaugen macht sie die Poesie als die verspielteste Gattung zum literarischen Sparringspartner.
In der Zeit ihrer ersten Buchpublikationen erschließt sie sich die Klassiker, allen voran Klopstock, den Wegbereiter freier Verse, wie sie später der junge Goethe und Hölderlin anwandten. Klopstocks religiöses Epos Der Messias erschien Kerstin Hensel in Sprachgestus und Pathetik wie ein wundersames großes Theater. Mit ihm wurde das Fenster zu einer fernen Sprachwelt aufgestoßen, die Unglaubliches ahnen ließ. Zugleich zeigt sich in der frühen Faszination eine besondere Begabung für dramatische Stoffe, die auch in Ab tritt Fräulein Jungfer! am Textgeschehen mitwirkt.
Ein wahres Fundstück ist darin ein Mittelblatt, das unter dem Titel „NACH SAPPHO (Übertragung des Fragmentes aus dem 2. Buch)“ eine zaghafte, aber durchaus furchtlose Annäherung an das antike Dichterin-Ideal darstellt.
Es hat geschüttelt
Die Eichen des Bergwalds
Stämmespaltender Sturm, Eros, mir meine Sinne!
„Wie zu der Mutter ein Kind, so bin ich geflogen“, sagst du
Und: „Weder Honig noch Biene begehr ich. Ab tritt Fräulein Jungfer!
Im Gedichtband Cinderella räumt auf holt Kerstin Hensel nun eine Märchenfigur auf die poetische Bühne, die auf mehreren Ebenen agiert: Aschenputtel. Wobei sie das einst arme Mädchen der Asche, in dessen Geschichte der Märchenforscher Ernst Tegethoff einen „Glückstraum sozial Entrechteter“ sah, mit ihrem englischen Namen aufruft. Verkitscht bis zur Unkenntlichkeit hat es sich in ein Glamourgirl der amerikanischen Filmwelt verwandelt. Doch ein Rest des erhofften „Glückstraums“ scheint an ihr haften geblieben, so wie auch Aschenputtels Pantoffel am glückbringenden Pech kleben blieb. Im Titelgedicht „Cinderella räumt auf“ wird eine raffinierte Version der Erlösung angeboten. Cinderella avanciert zur robusten Transformationsfigur zwischen den Sprachwelten
Cancel the bad witch
Forget the bad fay
Bevor es die Tauben tun: die Guten die Guten die Guten
Tiere im Märchen: Snugglebärchen
Instead of kill
Es gilt was ich will!
The good fay that’s me
Holde Jungfrau all hie
Be neatly busy and was dich frommt
Bis der Reißwolf kommt
In der Mittelachse des Gedichts klingt die poetische Idee an: „Es gilt was ich will!“, die sich wie eine Präambel aus dem poetologischen Manifest der Dichterin liest, würde dieses existieren. Da aber alles im Zeichen permanenter Wandlung steht, trägt auch diese Cinderella-Version aus dem 21. Jahrhundert ein kurzes Verfallsdatum, wenn der Wolf im letzten Vers als paper shredder („Reißwolf“) enttarnt wird. Das heute Geschriebene kann schon morgen Makulatur sein. Wo derart uneitel die eigenen Entwürfe zur Disposition stehen, verwandeln sich auch die stabilsten Verhältnisse in Kippfiguren. Einzig auf die Sprache der Poesie als eine den Ordnungen entgegengesetzte ist Verlass.
Wurde im Gedichtband Schleuderfigur das Spiel aus Kindertagen im Sinne exzessiver Bewegung und plötzlichem Stillstand produktiv, so waltet im Gedichtband Cinderella räumt auf das Hensel’sche Gesetz der Metamorphose, mit dem Stoffe und Motive in verschiedenen Versionen durchgespielt werden. Schließlich gilt, „wer den Kopf nicht wendet, den hält die Angst“. Cinderella räumt deshalb nicht nur „auf“, sondern auch „ab“. Mit dem Schlachtruf „Give the money!“ bittet die inzwischen restlos entzauberte Figur als „Lovelygirl der Cover“ und „heilige Hollykuh“ zur Kasse.
Wie schon in den Gedichtbänden Bahnhof verstehen, Alle Wetter und Schleuderfigur schreitet Kerstin Hensel erneut weit aus, wenn sie den Gang in Räume und Regionen wagt, die Herkunft, Sozialisation, Heimat bedeuten, wenn das lyrische Ich auf Reisen durch fremde Sprachwelten fällt oder wenn mit der Bergmannssprache ein Soziolekt wiederbelebt wird, um in seinem Bedeutungsschatten eine Sprachpflege zu praktizieren, die in die Tiefen der Zeit und der menschlichen Körper führt: „meine tief- / Schürfenden Väter“, heißt es im Gedicht „Die hangenden Stunden“, „In ihren Abräumen / in der Stunde verrückt / Nicht wissend von reicherer Gangart“.
Kerstin Hensels Geburtsort Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) liegt am Nordrand des Erzgebirgsbeckens. Die Bergbauregion brachte erstaunlich viele Schriftsteller hervor. Aus Chemnitz stammen Irmtraud Morgner, Werner Bräunig, Peter Härtling, Angela Krauß und Stefan Heym, und im benachbarten Eppendorf wurde der Dramatiker Heiner Müller geboren. Im Essay „Ohne Angst und an allen Dummköpfen vorbei“ mutmaßt sie, dass die „Lust auf Beschreibung der Weltläufte in ihren irren monströsen Ausgängen“ diesem ersten Lebensraum zu verdanken ist.
Mit Begriffen wie Abteufen, Bergbutter, hangende Stunde, Berghenne, Aufwältigung ist die Dichterin von Kindheit an vertraut. Deshalb, und weil sie sich den „Urahnen“ verpflichtet fühlt, rangiert dieses Sujet in ihrem Werk an besonderer Stelle. „Ich baue meine Urahnen zusammen“, wird in einem Text aus „Das gefallene Fest“ proklamiert, „finde sie in der Fotokiste / unter abgestorbenen Feldpostkarten und Komplimentenbriefen mit / den Namen Paul Elly Emil Martha Hans Lisbeth Otto Margot / Erhard … herbe Leute aus dem Erzgebirge“.
In Cinderella räumt auf wird in einer Abfolge von Gedichten unter dem Motto „Die hangenden Stunden“ diese untergegangene Welt sprichwörtlich ans Licht geholt. Weil aus den realen Orten längst touristische Schaubühnen geworden sind, werden sie in doppelter Hinsicht zur „Fundgrube“.
So wird im Gedicht „Fliehort“ aus der Erweiterung des Wortes Aufwältigung – dem Ausräumen und erneuten Absichern eines Grubenbaus – in „Aufwältigung einer Hoffnung“ eine die Zeiten verbindende Metapher. Verknüpft mit Hölderlins Vers „Komm! Ins Offene, Freund“ aus seiner Elegie „Gang aufs Land“, der zu „Komm ins Sichere Freund!“ abgewandelt wird, erfährt in diesem Prozess der Bergmannsgruß „Glück auf!“ eine Einbindung ins Poetische.
Programmatisch liest sich das diesen Teil eröffnende Gedicht „Metamorph“. Da verschmelzen die geologischen Zeitalter mit den Bewegungen der Menschheitsgeschlichte zu einem Sinnbild, in dem die Völker mit Edukten verglichen werden, dem Ausgangsmaterial bei der Umwandlung von Gesteinsmasse. Beide haben sich dem „Druck des Daseins“ zu stellen, bewegen sich zwischen „ewiger Verhärtung“ und „Aufschmelzung der Ängste“. In diesem „zwischen“ nisten Hoffnung und Katastrophe gleichermaßen.
Kerstin Hensels Gedichte erweisen sich als klangstarke Palimpseste, in denen Schichten von Ideen, Motiven, Bildern durch Umdeutung und Verwandlung eine neue Geschichte erfahren. Mit diesem Verfahren hinterfragt sie oft parodistisch Traditionen, Wertvorstellungen und Prägungen, wobei Mythen und Märchen als „Wunderstoffe der Phantasie“ ein unerschöpfliches Reservoir an Fallstudien und psychologischen Einblicken ergeben. Zudem erweist sie sich als eine exzentrische Sammlerin zeitgeschichtlicher Ereignisse, die durch einen gekonnt unbarmherzigen Zugriff verfremdet werden. Empirie und Fiktion führen in dieser Dichtung zu einer Symbiose, aus der in oft satirisch-grotesken Überzeichnungen die Abgründe menschlichen Daseins wie das Dasein selbst als Abgrund skizziert werden. Bereits in ihrem Lyrikdebüt Stilleben mit Zukunft ist diese distanzierte Weltsicht einer Zweiflerin angelegt, wenn das lyrische Ich den „zarten Irrsinn des Alltags“ wittert und sich als unsichere Instanz begreift, die allem misstraut.
Wollte man diese Gedichte „zerpflücken“, wie es Bertolt Brecht empfahl, um an die Substanz lyrischer Gebilde zu gelangen, sie würden sich als ungemein „lebensfähig“ erweisen. Denn sie sind das Ergebnis eines lustvollen Arbeitsprozesses, der nach mehr als drei Jahrzehnten dichterischer Produktion nicht zur Routine geworden ist. Kerstin Hensel spricht von „poetischen Zündungen“, die für das Poesieverständnis und Erlernen des Handwerks wegweisend waren und in deren Tradition sie sich versteht.
Neben Klopstock, Hölderlin, Goethe, Kleist und Brecht war es vor allem die intensive Begegnung mit dem Dichter Karl Mickel, dem es stets „ums Große und Ganze, also um Welt und Literatur“ ging, wie sie anlässlich seines Todes erinnert. Von ihm erhielt sie eine Ausbildung zur Poetik- Assistentin an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, wo sie heute das Fach „Deutsche Verssprache und Diktion“ lehrt. Mit „Nachgezeichnetes Portrait K. M.“ widmet sie der maßgebenden Instanz, die „nie / Unters Maß“ wollte, ein Gedicht.
Aus der Vermittlung angewandter Verskunst entstand Das verspielte Papier, eine Abhandlung über „starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte“, in der ein vergnüglich-erkenntnisreiches Selbst-Gespräch über die Kunst des Dichtens geführt wird. Wer ein Gedicht schreiben will, so die Autorin, sollte wissen, wie Hexameter oder Alexandriner gebaut sind. Denn das Gedicht ist ein Kunstwerk und lebt wie alle Kunstformen von Chiffren und Verschlüsselungen, die entziffert werden wollen. Ein Blick in die Weltliteratur beweist ihr, wie schwer es ist, ein gelungenes Liebesgedicht zu schreiben. Liebesverse sollten eine Grenzerfahrung sichtbar machen, die über das konkrete Liebesgeschehen hinausweist. So sind ihr die Oden der Dichterin Sappho ebenso „Weltgedichte“ wie Brechts Sonett „Entdeckung an einer jungen Frau“ oder die Liebes-Sonette Petrarcas. Denn in seinem „Canzoniere“ an die ferne Geliebte Laura erfährt das Motiv eine einzigartige Transformation ins Übersinnliche.
Kerstin Hensels Liebesgedichte in Cinderella räumt auf stehen unter dem Motto „Daphnes Durst“. Damit tritt eine Figur ins Geschehen, die verschiedene Rollenmuster bedient. Sie ist die schöne Nymphe aus dem Wasserreich, die für Apollons Liebe Unempfängliche und die zur Rettung in einen Lorbeerbaum Verwandelte. In der wunderbaren Alliteration „Daphnes Durst“ wird ihr nun ein Bedürfnis in den Mund gelegt, das Daphne vorübergehend erlösen könnte. Nämlich einmal das zu sein, was sie selbst begehrt, wenigstens für eine Nacht
Ein Ziel genügt nun: Leben das sich in uns spannt
Und das den Mond
Aus seinem Spiegelrahmen schießt
Heut Daphne ist es unsre Nacht
Der Durst der Wein die Kopfgewinne
Die herrlich unvernympht’schen Sinne!
Das überbordende Maß, mit dem Daphnes heftiges Verlangen verkündet wird, lässt sich in den anderen Liebesgedichten kaum finden. Da klingen zarte, verhaltene Töne an, aus denen Melancholie und Einsamkeit sprechen, wenn die Liebe „die Augen dicht“ macht, „teert und federt und rädert“, der Vater nicht mehr am Bahnhof wartet oder in „Des Tages glückliche Fülle“ die kalte Erkenntnis hereinbricht:
Freunde überall keiner
Der mit mir aufwachen will
Der Kuss der Muse scheint einem Durst nach Leben zu erliegen, den kein Metrum zu stillen vermag.
Etwas Trost ließe sich in einem Fünfzeiler entdecken, dessen ruhiger Zeilenfluss die Melancholie wie in einer Sanduhr verrinnen lässt.
Heute sind die Mirabellen reif
Heut frisst er mir aus der Hand
Der wechselwarme Sommer
Der mich so zärtlich
Verachtet
Eine besondere Kraft poetischer Originalität steckt hingegen in jenen Gedichten, wo aus dem Reservoir der Mundarten und Dialekte geschöpft wird. Etwa, wenn ein „Gruß aus Salzburg“ mit „Mozartes Kipfl hoch stiegn / Kapuznmönschliches Klanggwitter / Burgnglotzn“ beginnt. Ohne sich als Wortartistin profilieren zu wollen, bringen diese regionalen Klangschatzkammern Verse aus dem Erzgebirgischen, aus dem Oberbayrischen und dem Oberpfälzischen hervor, die sich als feinsinnige Persiflagen erweisen.
Wird in der Nähe das Fremde dann aber doch allzu übermächtig, verspricht die Ferne mit der Sanftheit unverständlicher Lautklänge dem lyrischen Ich eine wohltuende Auszeit. Unter dem Einfluss „märchenhafter Verwunschenheit“, die laut Erich Kästner nur unterwegs erfahrbar ist, entstehen synästhetische Fernwehlust-Gedichte. Wie die bereisten Orte und Landschaften – Rom, Zypern, Portugal, Bitterfeld, Konnersreuth – sind auch die gewählten Formen und Stilmittel vielgestaltig. Realität und Fiktion vermischen sich mitunter auf eine magisch-mystische Weise.
Die Heimkehr aus derart verwunschenen Regionen wird als freier, harter Fall erfahren. Ihm folgen poetische Provokationen, die in den politischen Gedichten unter „Flechtenkränze am Adlergestell“ den Takt angeben. Da ziehen wieder einmal vergangene dunkle Zeiten herauf, wenn sich der „Geier schwarze Haufen“ nähern, „Blondi in Böttgerbraun“ aufersteht, sich das „Hier & Jetzt / Geistlos“ zeigt. Der angeschlagene Ton, mit dem hier deutschnationale Töne entlarvt werden, ist „huldunfähig“ und „wütig“.
Als Finale Grande beschließt eine Ode, genauer gesagt eine „Ode Ade“, den Gedichtband. Noch einmal wird Hölderlins elegischer Imperativ „Komm! ins Offene, Freund“ zitiert, der als zeitlose Aufforderung die Text-Collage durchzieht. Kerstin Hensel erinnert in „Ode Ade“ an das emanzipatorisch-kritische Potential einer poetischen Form, die der Dichterfreund zur Vollendung gebracht hat. Zugleich erweitert sie deren Möglichkeiten, wenn wechselnde Rhythmen und Versformen die kritische Selbstaussprache zum gegenwärtigen Weltzustand strukturieren. Sie spart nicht mit sarkastisch-derben Bildern, um auch das eigene Metier zu inspizieren:
Berauschte Ratten: die neuen
Intendanten der Unterwelt empfehlen die postdramatische
Umnutzung der Hochschule für Schauspielkunst
Zum virtuellen Labor
Das durchweg angewandte Enjambement bringt im Überschreiten eines Satzes in den nächsten Vers Brüche hervor, mit denen auf die Zerrissenheit im Inneren des lyrischen Ich und im Weltgeschehen verwiesen wird. Zwischen Bindung und Entgrenzung entwickelt sich hohes Sprechtempo, das bis zur Atemlosigkeit reicht. Hier wird der Vorgang des Dichtens selbst zum Ereignis.
Die Literatur ist in diesen „virulenten Zeiten“ besonders herausgefordert, wer sonst wäre imstande „Den Toren voraus“, „Den Verlorenen voraus“ zu denken. Kerstin Hensels „Ode Ade“ kann als ein Angebot in eigener Sache gelesen werden. In der Melange aus hohem Ton und schnödem Abgesang bleibt zwar eine „ratlose Menschheit“ zurück, doch wie dichtete Hölderlin in „Hyperions Schicksalslied“:
uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn
Mit seinen Versen verabschiedet sich die Dichterin. Gewiss nur vorübergehend. Denn die Verwandlungen der Welt halten das schreibende Ich auch künftig in Bewegung, will man einer Henselschen Xenie Glauben schenken:
Imago
Bevor mich der Teufel des Alters verbuckelt, werd ich mich verpuppen:
Reißt meine Larvenhaut auf, schwirr ich als Engel davon.
Carola Wiemers, Nachwort
Kerstin Hensels neue Gedichte –
entstanden in den Jahren 2015 bis 2020 – sind eine Entdeckung. Hier finden sich die Freude der preisgekrönten Lyrikerin am Sprachspiel wieder, das faszinierende Spektrum an Themen und Formen. Hensel widmet sich in Cinderella räumt auf Märchen und Mythen, thematisiert ein veraltetes Frauenbild sowie moralische Scheinheiligkeit. Sie macht „Tiefenbohrungen“ und schürft im subjektiven Erleben. In ihren lyrischen Gruß-Postkarten wiederum gerät das übliche Belanglose des „Reisegrußes“ mit Kerstin Hensels Sprachwitz zur grotesken und mitunter absurden Mitteilung. Ein Band, in dem sich die ganze kreative Schaffenskraft der Autorin wiederfindet.
Luchterhand Verlag, Klappentext, 2021
Bleib ruhig, was du bist, Muse: gemein!
– In ihren neuen Gedichten findet Kerstin Hensel eine präzis aggressive, dabei verspielte, wortfinderische, genießerische Sprache von hoher subversiver Komik. –
Geschichte ist wörtlich verstanden etwas Geschichtetes und steht nicht ein für alle Mal still: Manchmal kehrt sich das Unterste nach oben oder wird nach oben befördert. Im Erzgebirge, der Herkunftsgegend von Kerstin Hensel, lebten die Leute jahrhundertelang vom Bergbau.
Licht bringt sie
Aus dem Lot: meine tief-
Schürfenden Väter
In ihren Abräumen
In der Stunde verrückt
… Hämmern sie ihr Los
Am getakteten Horizont
…
Das konkrete Bild der orientierungslosen Bergleute bei ihrer Schwerarbeit lässt sich auch abstrakt lesen: Nicht nur Bodenschätze kommen ans Tageslicht; manchmal tauchen Phänomene auf, die in der Kulturgeschichte als überwunden galten. Daher gibt es bis in unsere durchgetakteten und digitalen Zeiten immer noch mittelalterliche Zustände. Gesellschaften und Individuen verhalten sich mal schicksalsgläubig, mal pragmatisch, dann wieder irrsinnig entschlossen. Man kann nicht auf einen geraden Menschheitsweg durch Nacht zum Licht vertrauen. Solches Vertrauen zeigt sich bei Hensel allenfalls in verrenkter Form; es ist „die zerflehteste aller Hoffnungen“.
Kerstin Hensel wurde am 29. Mai 1961 im heutigen Chemnitz geboren. Sie lernte Krankenschwester, studierte am J.-R.-Becher-Institut und lehrt seit vielen Jahren Verssprache und Diktion an der Hochschule für Schauspielkunst in Berlin. Ihr literarisches Werk umfasst Romane, Hörspiele, Erzählungen, Essays und Lyrik. Ihre neuen Gedichte zeigen nach wie vor Neugier und Offenheit – was nicht heißt, dass hier auf Haltungen verzichtet wird. Hensels Lyrik ist etwa so idyllisch und harmonisch wie die Zeichnungen von George Grosz. Sie weiß, in welchem Maß das Leben von Machtinteressen und Ignoranz bestimmt wird:
Bei alledem bin ich
Huldunfähig
Wütig und wach
Die Autorin ist sprachlich mit allen Wassern gewaschen. Auch im neuen Buch finden sich intertextuelle Bezüge zu Dichtern wie Hafis oder Hölderlin. Der hohe Tonfall der klassischen Ode oder die Verfahren der konkreten Poesie sind ihr ebenso vertraut wie die schlichten Gestaltungen diverser Heimatdichtungen, die sie einmal bündig als „Trachtenvereinslyrik“ bezeichnete. Wenn sie selbst gelegentlich Mundart verwendet, dann ohne Biedersinn.
Im „Gruß aus Konnersreuth“ hört man ein provinzielles Genöle über die ortsansässige katholische Mystikerin Therese Neumann, die sich zu ihren Lebzeiten offenbar von Luft ernährte:
D’Resl?
Ässn daouds niad drinken daouds niad
…
Owa schdeam daouds niad
Aa wenn’s vreckt is niad.
Der mundartliche Originalton wird konfrontiert mit einem bissigen Kommentar:
Die Bauersfrau treu der Gesätze
Gallebrechen und Gloria
Im Dorfe die Schauung: viel darfst du
Und langlange leiden
Der Wund- und Wundersüchtigen Verein
Erhebt keinen Beitrag mehr
Im Gaudium mysterium das uns
Übern Mund fährt
Heute morgen und dann
Das Gedicht „Cinderella räumt auf“ wirft einen scharfen Blick auf die aktuellen, teils bizarren Folgen des Versuchs, politisch korrekt zu agieren und auszublenden, was Anstoß erregen könnte:
Cancel the bad witch
Forget the bad fay
Hack dir die Augen aus
Bevor es die Tauben tun: die Guten die Guten die Guten
Tiere im Märchen. Snugglebärchen
…
Be neatly busy und was dich frommt
Bis der Reißwolf kommt.
Die märchenhafte Cinderella soll sich im 21. Jahrhundert nicht mehr mit Hexen einlassen; sie soll auf den Augenschein verzichten und sich selbst blenden. Es taucht zwar ein widerständiges lyrisches Ich auf und behauptet, „es gilt was ich will“. Aber dieses Ich bleibt sich selbst wie der Welt gegenüber skeptisch, ist instabil; am Ende wird nichts befriedet. Anstelle des gefräßigen Wolfs droht nun ein profaner Papierschredder – da wird unter der Hand gefragt, ob Lyrik als Mittel taugt, um die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, indem man ihnen die eigene Melodie vorsingt.
Kerstin Hensel sagte einmal auf die Frage, ob ihr Welt- und Menschenbild optimistisch oder pessimistisch sei, es sei realistisch. Mag sein – aber ihre Gedichte bekommen Flügel durch die Kraft der Fantasie. Also wird die Wirklichkeit durch satirische, groteske Überzeichnung oder durchs Umdeuten und Auffalten vertrauter Bilder ins Flirren gebracht, bis kein Stein mehr auf dem andern bleibt. Die präzis aggressive, dabei verspielte, wortfinderische, genießerische Sprache bringt eine Komik hervor, die nichts mit Stammtisch zu tun hat, sondern als Waffe und als Kunst der Verwandlung taugt.
Nicht ist wie es bleibt
Der feste Gott unser Burgbann
Zinnen Zugbrücken Zinsen
Abbau
Der Kontinente zu babelnden Soden
…
Hensels neue Gedichte sind sprach- und gesellschaftskritische Höhenflüge, wagemutig und wundersam. Und die Autorin weiß bei aller intellektuellen Artistik, auch der Kopf ist ein Teil des Körpers. Also macht sie sich im „Gruß aus Portugal“ ihren unbefangenen Reim auf die irdischen, leiblichen Freuden, respektlos auch gegenüber der Muse der Dichtkunst:
… Salamanderinnen seh ich
Sich im Dünenfeuer kühlen
Auf die andre Seite dreh ich
Meinen Weltwirrwiderwillen
Muse mal nur Nörgelbilder!
Bleib ruhig was du bist: gemein!
Denn ein Butt ein zartgegrillter
Schwimmt in mir in grünem Wein
…
Die Lust, die Kerstin Hensel ganz offensichtlich beim Schreiben hat, überträgt sich beim Lesen: Sinnsuche und Sinnenfreude stehen bei ihr in einem produktiven Spannungsverhältnis und lassen immer noch alles zu wünschen übrig.
Sabine Peters, taz, 26.5.2021
Kerstin Hensel lässt Cinderella aufräumen
– Die in Berlin lebende Schriftstellerin Kerstin Hensel überprüft in ihren neuen Gedichten Vorbilder und Wahrnehmung. –
Ein Titel, eine Ansage: Cinderella räumt auf. Dass es in Märchen nicht gerade „genderneutral“ zugeht, ist bekannt. Umso mehr Freude dürfte es Kerstin Hensel mit ihrem neuen Band bereitet haben, einmal die Axt an dieses klassische Genre anzulegen. Ihre Devise lautet dabei: Nieder mit dem Patriarchat! Und so begegnen wir statt dem Froschkönig eben einer „Fröschin“, die alles andere als Prinzensehnsucht im Sinne hat. „Kein Kuss keine Wundernuss“, konstatiert das maskuline, enttäuschte Textsubjekt daher. Kalauernd fragt es noch:
Wer putzt den Putz?
Doch selbstbewusst ist das weibliche Reptil. Denn „Die Fröschin springt / Mir aus der Hand.“
Während sich dieses Gedicht noch durch charmanten Witz auszeichnet, geht es in dem Poem „Trödelhexe“ weitaus schonungsloser zu. Feilgeboten wird hierin den Herren der Schöpfung „Adams erste / Fickpuppe Marke Lilith“ oder „Margaretes / Aschenes Haar“. Vor allem Goethe, der Letztere in seinem großen Faust vergewaltigen und im Schatten eines egoistischen Genies zugrunde gehen lässt, bekommt sein Fett ab. Von vielen als der Gott der deutschsprachigen Literatur gefeiert, entpuppt er sich in Hensels feministischer Poesie schlichtweg nur noch als „Dichterschwein“.
Schon mit ihrem Band Schleuderfigur (2016) nahm die 1961 in Karl-Marx-Stadt geborene, in Berlin lebende Schriftstellerin jenes ästhetische Konzept vorweg, das sie nun gänzlich zur Entfaltung bringt, nämlich das der Verkehrung und Erschütterung unserer Wahrnehmung. Waren es damals noch die gewohnten Bahnen des Lebens, die mitunter durch Klimakatastrophen durchbrochen wurden, sind es heute vermeintlich literarische Meisterwerke, die ihre Unschuld einbüßen. Hänsel, Gretel & Co. einer politischen und gesellschaftskritischen Lesart zu unterziehen und am Sockel der Säulenheiligen der Belletristik empfindlich zu rütteln, hat unterdessen nicht nur Schneid, sondern birgt auch ein bitterböses Leseamüsement.
Björn Hayer, Berliner Zeitung, 2.8.2021
Trauer, Heimat, Augenzwinkern
– Die Lyrikerin und Schriftstellerin Kerstin Hensel ist für ihren Humor bekannt, der über Ironie bis zum Sarkasmus reicht. In ihrem neuen Lyrikband schlägt die Absolventin des Leipziger Literaturinstitutes auch melancholische Töne an, so beim Abschied von ihrem Vater. Und sie widmet sich in atmosphärischen Gedichten auch Orten, denen sie sich verbunden fühlt. –
Als Erzählerin brilliert Kerstin Hensel seit drei Jahrzehnten durch tiefsinnigen Humor, wie man ihn von Eugen Roth oder Joachim Ringelnatz kennt. Mit solch doppelbödiger und hintersinniger Gewitztheit garniert sie auch ihre Strophen. Gern spielt sie dabei mit allen verfügbaren Methoden der Ironie. Das zeigt sich beispielsweise in einem Langgedicht mit dem Titel „Ode Ade“, das ihr neues Buch beschließt.
Wo Hensel derart sarkastisch über das Schicksal der Literatur nachdenkt, läuft sie zur Bestform auf. Amüsante Metaphern und geistreiche Sprachbilder schäumen dann aus ihr hervor. Dieser prickelnde Stil schürt die Lust am Weiterlesen.
Aber die Autorin verfügt nicht bloß über einen dermaßen herrlich mokanten und spitzzüngigen Tonfall. Zuweilen kippt ihre Diktion ins Melancholische, etwa dann, wenn sie sich an ihre Geburtsstadt Chemnitz erinnert.
In ihrem Poem „Gruß vom Kaßberg“ schwärmt Hensel von einem der größten Gründerzeitviertel Sachsens. Daraus entwickelt sich ein ganzer Zyklus von Huldigungen an Orte, deren Atmosphäre sich ihr einprägte.
Dazu zählt unbedingt die Kleinstadt Meuselwitz, aus der Wolfgang Hilbig stammte, ein Büchnerpreisträger, den sie stets bewundert. Oder Hameln an der Weser, das durch seine Rattenfänger-Sage Ruhm gewann.
Ähnlich wie Werner Bergengruen in seinem früher populären Opus „Deutsche Reise“ absolviert die Lyrikerin einen Streifzug durch ihre Heimat. In Zeilen über die erloschene Bergbautradition im Erzgebirge stößt sie in fast mythische Dimensionen vor.
Hensel befindet sich in einem Alter, in dem es in punkto Familie ständig darum geht, Abschied zu nehmen. Daher verwundert es kaum, dass eines der berührendsten und feinfühligsten Gedichte ihrer Lyriksammlung um ein sensibles Thema kreist, nämlich um den Tod des Vaters, den sie zu verarbeiten sucht.
Das Nachwort des Bandes bildet ein Essay, in dem die Germanistin Carola Wiemers die Eigenheiten der Poesie von Hensel auslotet. Der Text ist aller Ehren wert und gut geschrieben – aber im Endeffekt wirkt er akademisch und erfasst den sinnlichen Charakter der sezierten Arbeiten nur eingeschränkt.
Als Kerstin Hensel 1986 in der legendären Publikationsreihe Poesiealbum mit einem Dutzend Versen debütierte, ahnte niemand, dass sie einmal zu den größten humoristischen Erzähltalenten der deutschen Literatur zählen würde. Erstmals entfaltete die Absolventin des Leipziger Literaturinstitutes ihre Begabung für verschmitzten Witz und satirische Pointen in dem viel gelobten Prosaband Hallimasch. Später wucherte sie mit diesem Pfund in den Romanen Im Spinnhaus, Falscher Hase und Lärchenau. Jetzt hat die Schriftstellerin unter dem Titel Cinderella räumt auf einen neuen Gedichtband vorgelegt.
Ulf Heise, mdr Kultur, 24.5.2021
Weiterer Beitrag zu diesem Buch:
@brandt_timo: Kerstin Hensel: Cinderella räumt auf
lyristix auf instagram.com, 14.2.2023
Brigitte Schwens-Harrant im Gespräch mit Kerstin Hensel – „Die Realität ist es, die übertreibt“.
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shi 詩 yan 言 kou 口
Kerstin Hensel liest das Gedicht „Erste Hoffnung“ auf der Großen Nacht der Poesie des 2. ÖKT in München.










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