EXPEDITION
Ging wochenlang
im Kreis, immer
nachmittags. Kam
gestern ans Tor
sagte:
Er könne es sich
wieder vorstellen
Menschen aus
Staub geformt.
zeigt Klaus Merz einmal mehr als Meister der Verdichtung. Aus kurzen, sparsam gesetzten Versen entwickelt er ganze Lebensgeschichten, zeichnet mit bloßen Andeutungen Bilder voller Farben und Licht. Ob Klaus Merz über alltägliche Szenen schreibt oder in seine Erinnerungen eintaucht, ob er fremden Orten und Menschen begegnet oder vertrauten – stets gelingt es ihm, den Blick auf das Wesentliche zu richten und ihm seinen ganz eigenen Tonfall zu verleihen. Unter der Oberfläche seiner lakonischen Poesie blitzen Witz und feine Ironie auf, hinter dem ruhigen Vordergrund seiner Gedichte verbergen sich Momente voller Überraschung und Verstörung. Und genau aus dieser Ruhe und Einfachheit seiner Lyrik „entwickelt Klaus Merz seine Stärke, indem er sie wie ein Schmetterlingsnetz über Augenblicke legt, auf dass sie über die Länge weniger Sätze verweilen“ (Sibylle Birrer, Bieler Tagblatt).
Haymonverlag, Ankündigung
− Aus dem Staub – in seinen neuen Gedichten stellt Klaus Merz die Vorstellungskraft auf die Probe. −
Aus dem Staub heisst Klaus Merz’ neuer Gedichtband. Der Titel hält das dünne (und wieder mit expressiven Pinselzeichnungen von Heinz Egger begleitete) Bändchen in einer atemlosen Schwebe. Halb schwingt die stille Ironie des Fahnenflüchtigen in der Wendung mit, halb glaubt man als Menetekel zu hören, was uns dereinst zu werden verheissen ist. Jedoch kommt die Formulierung wieder, gegen Ende des Bandes, in einem anekdotischen Gedicht, dessen Figur sich ihrerseits ganz auf der Kippe zwischen Wahn und Hellsicht zu halten scheint. Wochenlang sei er nachmittags, so heisst es, im Kreis gegangen, dann sei er ans Tor gekommen, um dies zu sagen:
Er könne es sich
wieder vorstellen
Menschen aus
Staub geformt.
Und so kippt das Bild hier in eine Reminiszenz aus der Schöpfungsgeschichte, die nun allerdings, bedenkt man den nur vage angedeuteten Kontext, nicht weniger beunruhigend sein könnte als die vorausgehenden Assoziationen.
Ironie und Poesie
Klaus Merz indessen hält sein Material kühl. Er forciert nichts, kaum lässt er sich in die Karten blicken, und seine Verse oszillieren im beunruhigend Unwägbaren. Aber sie raunen nicht. Vielmehr zeichnet sie eine emphatische, eine geradezu zärtliche Genauigkeit aus. Merz ist ein wortkarger Autor. Er weiss es und bedenkt sich hier auch mit einem selbstironischen Vierzeiler. Gelegentlich erinnert er an jene kauzigen alten Männer, die am Rand des Geschehens sitzen, lange zuschauen und ebenso lange nichts sagen, um dann in einem bestürzend kurzen Satz zusammenzufassen, was sich ihnen darbietet. Ein solcher Satz enthält dann ebenso viel hingebungsvolle Ironie wie aus der Anschauung gereifte Poesie. In den gelungensten Gedichten dieses Bandes verdichtet sich in dieser Weise die sinnliche Erfahrung zur bildstarken Sprache. Das ist ein Gang auf schmalem Grat. Wie leicht der Schriftsteller hier ausrutschen kann – in Beliebigkeit, in Albernheiten, in wacklige Syntax –, lässt sich auch hier, freilich nur selten, nachlesen.
Was bewegt Klaus Merz? Überblickt man die Gedichte, so ist es einmal die Figur des „Nächsten“, der wie ein Wiedergänger durch die Verse geistert. Es sind furchtsame Begegnungen, als seien die Nächsten Sendboten einer anderen, jenseitigen Welt, die es zu meiden gilt. Auch von der Nachtseite des Lebens und der Welt erzählen die Gedichte in nüchternen Versen. „Nur die Toten sind nah“, heisst es einmal, ohne dass darin ein klagender Ton zu hören wäre:
Und die Gegenwart
verliert ihr Gewicht.
Doch in der Hauptsache handeln die Gedichte davon, was diese Gegenwart ausmacht: von Erinnerungen an eine Kindheit, von dem „wilden Entzücken, als / Herbert die dunkle Françoise“ auf den Armen in die Werkstatt trug und den Eros des erzählenden Ich weckte, oder von Krankheit und Tod.
Noch etwas freilich: Die Kunst und ihre imaginative Kraft spielen eine Hauptrolle in diesen Gedichten. Stille Epiphanien der Einbildungskraft reiht Klaus Merz hier aneinander. Bald stellen diese Gedichte ein Kriegsdenkmal vors Auge des Lesers, bald führen sie die Leserin in eine Gemäldegalerie, bald zeigen sie Bilder aus dem Album der Kindheit, und immer scheinen sie sagen zu wollen: Das Abbild ist das Wahre, im Imaginären vollzieht sich die Wahrheit der Wirklichkeit. Gar führt ein Gedicht Malraux ins Feld:
Nicht das Leben, sagte
Malraux, die Statuen
werden für uns zeugen.
Erst die Schaffens- und Imaginationskraft des Künstlers modelliert aus dem Material des Lebens dessen wahres Abbild.
Als möchte er die etwas steile These bekräftigen, mischt Klaus Merz nun ein Gedicht unter diese Betrachtungen, das mit dem Andenken an Rilke und dessen Erzählung „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ die Fortsetzung eines im Krieg sinnlos ausgelöschten Lebens in der Kunst feiert. Das ist ein traumhaft gelungenes Gedicht, weil es in wenigen sanften Versen in den Abgrund der Welt, der Kunst und der Geschichte blicken lässt – und weil hier der titelgebende Staub noch einmal das letzte Wort hat.
Imaginationen
Die Vorstellungskraft aber kann nicht nur das Vergangene überhöhen, sie bringt eigene Wirklichkeiten hervor. Das Gedicht „Glückliche Tage“ beginnt so (und die Lautmalerei macht schon darauf aufmerksam, dass sich etwas Besonderes anbahnt):
In der Ecke sitzt
Becketts Enkel.
Von ihm heisst es nun, er trage Grossvaters Pullover und warte auf die Falten im Gesicht. Das sind drei Zweizeiler, aber sie sagen mehr als jede gelehrte Abhandlung über die Kraft der Einbildung. Und weil auch die Grossmütter zu Ehren kommen sollen, folgt gleich darauf dieser Vierzeiler:
Die Wunderschuhe anziehen! befahl
Grossmutter, setzte sich zu uns
aufs Kanapee, begann zu erzählen:
Schon waren wir über alle Berge.
Ganz rustikal mit „Befehlsgewalt“ ist das Gedicht überschrieben. Solcherart nimmt Klaus Merz das Pathos aus seinen Gedichten, die dort am kräftigsten die Türe zur Imagination aufstossen, wo sie ganz sachlich bleiben.
− Mit der Familiengeschichte Jacob schläft wurde Klaus Merz 1997 international bekannt. Nun hat der Autor mit Aus dem Staub einen Lyrikband vorgelegt – allerdings nicht seinen ersten. −
Im heldenhaften Kampf um die verlorene Ehre der einfachen Wörter könne er nicht immer bestehen. Das bekennt der kühne Bleistiftritter und lyrische Sprecher von Klaus Merz’ Gedichtband Aus dem Staub schon in seinen ersten Versen. Für den Don Quijote der Poesie jedoch kein Grund, das Schreibgerät beiseitezulegen. Denn seine poetische Lanze öffne ihm den Blick in die Seelen. Unbeirrbar folgt der sanfte Ritter der spitzen Feder deshalb seinen literarischen Vorbildern in den jahrtausendealten Feldzug im Namen der Poesie.
Durch die thrakische Ebene
führt der Weg zurück in die Stadt.
Rhodopen und Balkangebirge säumen
das flache Land. Ein Begleiter
weist auf das Denkmal hin
für die Gefallenen der ent-
scheidenden Schlacht:
Gräser des Sommers
von allen stolzen Kriegern
die Reste des Traums
notierte Matsuo Bashō auf
dem Feld von Hiraizumi.
Diese wenigen Gedichtzeilen enthalten ein ganzes poetologisches Glaubensbekenntnis. Es weist in zwei Richtungen. Die eine Spur führt nach Thrakien, zum „goldenen Reich des Orpheus“. Hier im Rhodopengebirge soll der mythische König seine Wurzeln haben. Mit seinem Gesang habe Orpheus sogar die Götter der Unterwelt besänftigen können. Sein Name steht daher für die Macht der Poesie und die Unsterblichkeit der Seele. Behutsam folgt der lyrische Sprecher in seinen eigenen Versen Orpheus’ Spuren. Und reiht sich damit selbst in eine jahrtausendealte epische Tradition ein. Die andere Richtung weist auf den japanischen Haiku-Meister Bashō.
In wenigen Worten von präziser Einfachheit stellt dieser das Unbegreifliche dar: Nichts vom unauslöschlichen Ruhm der stolzen Krieger sei geblieben als das Gras über ihren Gräbern, so Bashō. Seine Verse entstanden beim Besuch von Hiraizumi – Zentrum einer tragisch untergegangenen ruhmreichen Hochkultur. In drei kurzen Gedichtzeilen hat Bashō sie unsterblich gemacht. Die Verse im eigenen Gedicht zitierend, verneigt sich der lyrische Sprecher wiederum vor dem Haiku-Meister. Mit seiner doppelten Verbeugung vor der buddhistisch orientierten Haiku-Tradition und dem antiken Epos markiert er sein eigenes poetologisches Selbstverständnis.
Dichten im Sinne der antiken Mythologie bedeutet, am Menschheitsepos weiterzuschreiben; durch aktives Erinnern in der Überlieferung, Vergangenes im Gedächtnis zu bewahren. Poetische Wirklichkeiten zu schaffen, kann aber auch heißen, Leben zu gestalten. Dichtung als Lebensform – für Haiku-Meister Bashō ist Kado, der Weg der Poesie, Quelle der Erleuchtung. Zwischen diesen großen literarischen Wegmarken setzt der lyrische Sprecher schmunzelnd sein eigenes bescheidenes poetisches Denkmal.
Wenige präzise Andeutungen genügen dem Autor Klaus Merz, um ein Füllhorn von Assoziationen und Bezügen zu öffnen – hier wie in den anderen Gedichten des Bandes Aus dem Staub. Aus einem Dutzend kurzer Verse lässt Merz im Kopf des Lesers einen ganzen Gedankenkosmos entstehen. Oft genügen ihm sogar nur eine Handvoll knapper Zeilen. Ein Zyklus im Band besteht sogar ausschließlich aus Vierzeilern. „Große Geschäfte“ nennt Klaus Merz ihn augenzwinkernd nach dem folgenden Gedicht:
In der Tiefe des Ladens lehnt sie
am Südfrüchteregal und schaut zu
wie die Sonne als erste Kundin
über ihre Schwelle tritt.
Aus einem einzigen schlichten Satz entwickelt Klaus Merz ein Polaroid mit Ewigkeitscharakter. Gravitationszentrum des poetischen Stilllebens sind die Magnetworte „Sonne“ und „Südfrüchte“. Aus ihnen entsteht das Sehnsuchtsvakuum, das im scharfen Kontrast zum leeren Ladenlokal seine imaginative Sprengkraft gewinnt.
Noch kürzer sind die Gedichte im Zyklus „Einschlüsse“. Die Dreizeiler orientieren sich nicht nur formal, in ihrer bildkräftigen Einfachheit, Schlichtheit und Klarheit der Sprache am japanischen Haiku. Wie die poetischen Zen-Meditationen wollen sie über die reine Anschauung alltäglicher Dinge im gegenwärtigen Moment einen Blick hinter die Dinge ermöglichen. In einem solchen Augenblick der Ewigkeit kann selbst eine banale Pfütze auf dem Waldweg zum Spiegel Gottes werden:
In der Radspur des Försters
sammelt sich Himmel: Legt
(es) Gott auf uns an?
Gedichte aus der Pfütze, Poesie Aus dem Staub. Klaus Merz’ Verse entstehen aus dem Nichts. „Nichts ist wirklicher als das Nichts“, sagt Samuel Beckett. Im Gedicht „Glückliche Tage“ setzt Merz dem großen Denker des Nichts ein poetisches Denkmal. In Klaus Merz’ Gedichten nimmt das Nichts Gestalt an. Merz lässt das Schweigen in seine wortkargen Zeilen hinein. Nur so bieten die Worte für ihn Widerstand und Halt gegen den Tod. Erst dann, so Merz, hielten sie ihren Schild bannend vor unsere uralte Grundangst, hoffnungslos verloren zu gehen in der Welt.
− Einladung aufs Kanapee: In seinen Gedichten erweist sich Klaus Merz als Meister in der Kunst der Verknappung. –
Der flüchtige Staub im Titel der Sammlung hat, wie so vieles bei Klaus Merz, eine doppelte Bedeutung. Es ist der Staub, in den man verschwinden, sich auflösen kann; es ist aber auch der Staub, aus dem neues Leben entsteht. „Er könne es sich / wieder vorstellen / Menschen aus / Staub geformt“, heißt es in einem Gedicht, das auf die alten Schöpfungsmythen anspielt und andeutend den Moment schildert, in dem sich ein Ausweg aus hoffnungsloser Gleichförmigkeit zu öffnen scheint. So vorsichtig muss man formulieren, will man sagen, worum es in den neuen Gedichten von Klaus Merz geht.
Schon lange gehören Lakonik und Kürze zu den bevorzugten Stilprinzipien des Schweizer Dichters. In seinen von der Kritik hochgelobten Erzählungen Jakob schläft (1997) und Der Argentinier (2009) fand er eine knappe, eindringliche Sprache für komplizierte Lebensläufe, die ihre Leser noch lange nach der Lektüre beschäftigen. Doch auch als Lyriker ist Klaus Merz seit langem bekannt.
Die 56 Gedichte seines neuen Bandes erheben die Knappheit zum vorherrschenden Stilprinzip, ohne sich jedoch einem verstehenden Lesen zu verschließen. Es ist die Poetik des Haiku, jenes aus der japanischen Dichtung stammenden Dreizeilers mit genau bemessener Silbenzahl, der viele Miniaturen verpflichtet sind; einmal wird der japanische Lyriker Matsuo Basho sogar direkt zitiert. Obwohl sich Merz in seinen Gedichten manche Freiheiten gegenüber dem Vorbild erlaubt, gelingt es ihm meisterlich, markante Situationen in wenigen Versen zu schildern. So wird das Kunsterlebnis einer Italien-Reise, das den eigenen Körper fremd erscheinen lässt, in einer momenthaften Erkenntnis komprimiert – und allein diese Erläuterung beansprucht mehr Raum als das Gedicht „Rom“:
Beim Erwachen fällt
dein erster Blick auf den
eigenen Marmorarm.
Kunsterfahrungen sind ein wiederkehrendes Thema in diesen Gedichten: Malerei, Plastik und Literatur. Die frühe Erfahrung der Verzauberung des Kindes durch die Macht der Fiktionalität spiegelt sich in einer archetypischen Situation, was der martialische Titel „Befehlsgewalt“ zunächst nicht vermuten lässt:
Die Wunderschuhe anziehen! befahl
Grossmutter, setzte sich zu uns
aufs Kanapee, begann zu erzählen:
Schon waren wir über alle Berge.
An anderer Stelle malt Merz sich die Ausweglosigkeit aus, die Schneewittchen dazu verdammt, „lebenslang“ Königin sein zu müssen, ohne zu den Zwergen zurückkehren zu können.
Das Märchenland der Phantasie liegt aber mitten in unserer Realität, und alle Versuche der Weltflucht können nicht von Dauer sein, das weiß Klaus Merz genau. In einem längeren Gedicht, dem dreigeteilten „Wiepersdorf später“, tritt er nicht nur mit den romantischen Dichtern in einen poetischen Dialog, sondern auch mit seiner Kollegin Sarah Kirsch, die ebenfalls einen Gedichtzyklus auf das Gut Wiepersdorf verfasst hat, den ehemaligen Wohnsitz von Bettina und Achim von Arnim. Merz spielt mit märchenhaften und historischen Motiven, mit Zwerg und Trabant, womit er den bleichen Mond ebenso meint wie jenen Autotyp, der früher über die brandenburgischen Alleen fuhr. Plötzlich aber bricht die politische Aktualität in die scheinbar zeitenthobene Idylle:
Aber auch damit
hatten wir nicht gerechnet auf
dieses jüngste Jahrtausend hin
dass, Tochter, dein Liebster
zu dir käme aus einem Krieg.
Überhaupt die Liebe. Merz spricht gern von ihr, doch ohne sie direkt zu benennen, wie aus Scheu vor den großen und schnell abgenutzten Worten. Die Geschichte einer jahrelangen Vertrautheit erzählt er in sechs knappen Versen, deren Titel – „Zusammen“ – das Entscheidende dieser Verbindung nennt:
Das Brot geteilt, die Nacht
den Blick ins dunkle
Gewässer.
Und wie jeden Morgen
die Einsamkeiten
neu vertäut.
Die „Trauerarbeit“ einer verwitweten Frau hingegen wird in ihrem aussichtslosen täglichen Kampf gegen das Ungeziefer in ihrem Garten beschrieben, so als könne sie sich kniend einen neuen Lebensinhalt erzwingen. Nur diese Körperhaltung verrät etwas über die Gefühle der Trauernden; der Dichter bleibt diskreter Beobachter.
Satirischer geht es zu, wenn Merz seine Zeitgenossen aufs Korn nimmt. Mitunter fällt er sogar in den Duktus der „Zahmen Xenien“, jener Spottgedichte, mit denen Goethe und Schiller den Zorn ihrer Leser auf sich zogen, als sie Hunderte davon in den Druck gaben. Mit einem nahezu klassisch gebauten Hexameter beginnt Merz ein Epigramm über moderne Kommunikationsformen:
Seit gestern besitzt er ein Handy und
gilt vor der Welt als geheilt.
Als wachsenden „Widerstand gegen die Ausführlichkeit“ bezeichnet Klaus Merz seine Kunst der Verknappung. Demselben Stilprinzip folgen die Pinselzeichnungen Heinz Eggers, der schon die vorangehenden Bücher des Schweizer Autors illustriert hat. Diesmal entsteht ein besonders harmonisches Zusammenspiel von Wort und Bild, das diesen Band zu einem Geschenk werden lässt, das Klaus Merz seinen Lesern bereitet.
Vielleicht ist Poesie wie Homöopathie: niedrigst dosiert, hoch potenziert, die Wirkung nicht wirklich nachweisbar, doch Eingeweihte schwören darauf. Aus dem Staub nennt Klaus Merz seinen schmalen Band mit 56 Gedichten. Die Schöpfungsgeschichte schwingt im Titel mit, aber auch Fahnenflucht aus der Welt; eine Beiläufigkeit des Erlebten, das erst in der Rückschau zu dem wird, was es im Moment vielleicht nie war. Einzeltitel wie „Feldzug“ und „Liebefeld“, „Ernstfall“ und „Außerhalb“ stoßen aneinander, Bilder überlagern sich.
Der Schweizer Merz hat bisher gut zwei Dutzend Romane, Hörspiele und Kinderbücher veröffentlicht – doch ist er vor allem ein Meister der Kurzform. Dass er auch Dramatiker und Erzähler ist, wird in manchem Gedicht spürbar. Merz verzichtet auf zeitgeistige Manierismen wie Doppelpunkte, er vertraut allein auf Worte, die hinter die Dinge reichen; reduziert, verdichtet, selbst wenn es einmal heißt, „Manchmal verließ mich die Kühnheit, auf einem Wort zu bestehen, wie Wolke oder Wald.“
− Dem Schweizer Dichter Klaus Merz genügen wenige Pinselstriche, um zum Kern der Dinge zu gelangen und die schwankenden Fundamente des Weltgebäudes freizulegen. −
Dieser Autor ist ein Meister der Kürze, der sich extrem zurücknimmt und lieber die Phänomene selbst sprechen lässt, anstatt ihnen von außen Bedeutungen aufzunötigen. In seiner lakonischen Kargheit gelingt es ihm, an den Gegenständen ihre Substanz und metaphysische Tiefe sichtbar zu machen. „Große Geschäfte“ spielen sich bei ihm auf kleinen „Nebenschauplätzen“ ab. Hinter unspektakulären Alltagsszenen verbergen sich oft die „alten Fragen“ nach den letzten Dingen. Für „drei Kurzgeschichten“ in Gedichtform benötigt Merz gerade mal vier Zeilen, mehr vokabulären Aufwand will sich sein „Widerstand gegen die Ausführlichkeit“ nicht gestatten. Diese „drei Kurzgeschichten“ sind in zarten Wörtern wie „Windrose“ oder „Läutwerk“ deponiert, Wörter, die bereits durch ihre lautliche Gestalt etwas Poetisches in sich tragen und von Himmelsrichtungen oder von begütigenden Geräuschen erzählen.
Im zweiten Gedicht seines neuen Bandes Aus dem Staub nennt Merz en passant sein Vorbild – den spätmittelalterlichen japanischen Dichter Matsuo Bashô, den Erfinder des Haiku. Von Bashô hat Merz die Kunst des Innehaltens und ruhigen Zuwartens gelernt. Aus diesem Warten und geduldigen Hinsehen entsteht die Poesie, die nah an Dingen ist:
Sitzen bleiben auf der minderen
Seite des Flusses. Und die Sand-
bank gegenüber als Eiland im Auge
zurückbehalten, unentdeckt.
Der Titel von Merz’ neuem Gedichtband weist in zwei Richtungen, die von den Gedichten gleichzeitig aufgesucht werden: Aus dem Staub meint die Bewegung des Flüchtenden, der seinen angestammten Platz auf Nimmerwiedersehen verlässt – und zugleich wird die biblische Sentenz von der Vergänglichkeit des Menschen wachgerufen.
In einer Verdichtungs-Intensität, wie sie in zeitgenössischer Poesie nur noch selten anzutreffen ist, hat Klaus Merz „die Vergänglichkeit in Klänge verwandelt“, wie es in einer seiner so beiläufig wirkenden Miniaturen heißt. Diese Sprache der Sterblichkeit ist auch präsent, wenn der Dichter im Dreizeiler „Hohe See“ zeigt, wie die religiöse Heilsgewissheit zerbrechen kann. Denn die Gläubigen sind hier auf einer gekenterten Arche Noah unterwegs:
Kiel oben steuert
das Kirchenschiff aufs Jenseits zu.
Die Mannschaft singt.
Seine Beobachtungen und Begegnungen verwandelt Merz ganz unaufdringlich in metaphysische Gleichnisse, Erinnerungen an die Kindheit weiten sich zu Expeditionen zu unseren Lebens-Ängsten. Die poetischen Miniaturen dieses Gedichtbuchs, oszillierend zwischen Schwermut und Leichtigkeit, öffnen uns den Blick auf die instabilen Fundamente unserer Existenz. Und manchmal, für Augenblicke nur, heilen sie von der Melancholie:
Es gibt Sätze
die heilen
und Tage
leichter als Luft.
Es gibt eine Stimme
die ich wiedererkenne
noch bevor sie
mich ruft.
Manfred Papst: Das staubige Fell des Sommers
NZZ am Sonntag, 26. 9. 2010
Peter Angerer: Wie die Pflicht zur Kür wird
Tiroler Tageszeitung, 22. 10. 2010
Andreas Tobler: Mit diesen Gedichten altert man gerne
Tages-Anzeiger, Zürich, 25. 10. 2010
Anna Wegelin: Kein Wort zu viel
WochenZeitung, Zürich, 17. 3. 2011
Schreiben, übersetzen, übersetzt werden – Ein Lyrikabend mit Donata Berra und Klaus Merz. Die von Pietro De Marchi moderierte Veranstaltung fand am 7. März 2013 am Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Zürich statt.
Poesiegespräch mit Klaus Merz in der literaturwerkstatt berlin am 13.12.2011.
Klaus Merz: In den Diensten des Dichters. Dankrede zum Friedrich-Hölderlin-Preis 2012.
Klaus Merz liest als Laureat des Basler Lyrikpreises 2012.
Klaus Merz liest beim Internationalen Festival der Poesie von Medellín am 10.7.2009.
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