VERGÄNGLICHKEIT
Der Altrastheniker, vom alten Stil,
Der sich in alter Rasthenie gefiel,
Sah eines Tag’s sich Neues vorbereiten,
Und er begriff nicht mehr den Sinn der Zeiten.
„Ja, wozu“, sprach er, „habe ich gelebt,
Wenn neben mir das Neue sich erhebt,
Statt bei der alten Rasthenie zu bleiben?
Wie kann der Mensch so ins Verderben treiben?
Und sollt’ es jemals etwas Neues geben,
Das sich erdreistete, sich zu erheben:
Ich bliebe stets dem alten Rasten treu;
Denn alt nie rasten bleibet ewig neu.“
Da, plötzlich hört man von den Dächern klingen
Und in den Sprachen aller Rassen singen:
„Tod der Alt-Rose, Tod der Alt-Ralgie,
Tod altem Rasten, hoch Neurasthenie!“
Jedoch, noch eh’ verblaßt der Neuheit Schimmer,
Ertönt ein andrer Ruf: „Neurasthenimmer!“ –
Der Fortschritt schreitet fort im ew’gen Lauf –
Schritt fort, Fortschritt, der höret nimmer auf.
– Die Lyrik von Kurt Schwitters. –
Ich weiß, daß ich als Faktor in der Kunstentwicklung wichtig bin und in allen Zeiten wichtig bleiben werde.1
Diese Überzeugung vertrat Kurt Schwitters 1930, zu einer Zeit, als seine Werke dem breiten Publikum noch verborgen waren und er selbst von jungen Kritikern heftig angefeindet wurde. In der Stille arbeitete er auch ohne Publikationsmöglichkeit weiter, legte Dichtung auf Dichtung, Skizze auf Skizze und Bild auf Bild, alles sorgfältig verpackt und signiert, an verschiedenen Stellen in der Schweiz, Deutschland, Norwegen und England. „Das ist“, so rechtfertigte er sein Tun, „mein Erbe an die Welt, der ich nicht böse bin, daß sie mich nicht verstehen kann.“2
Was Schwitters mit Humor aussprach, wird in der Gegenwart mit Ernst vertreten; denn Merzkunst ist nicht mehr allein vom kleinen Kreis der Dada-Freunde und Avantgardisten anerkannt. Auch die offiziellen Kulturträger und damit die Öffentlichkeit bekennen sich zu Merz. Das haben die Ausstellungen und die Publikationen, die Rundfunk- und Fernsehsendungen, die bis in die Bürgerstube drangen, gezeigt.
Schon vor dieser neuen Publizität aber hatte die Merzkunst die heutige Kunst beeinflußt, so etwa die konkrete Poesie, die Pop-Kunst, den Neuen Realismus und die Happenings. Es wäre aber durchaus nicht richtig, alle neuen Ideen nun insgesamt als angewandte Schwitters-Ideen zu interpretieren. Man kann den Einfluß eines einzelnen Schwitters’schen Werkes auch gar nicht genau ausmachen. Schwitters’ Merzprodukte, insbesondere seine Dichtung, sind parallel zu ähnlichen Kunstwerken in anderen Ländern entstanden. „Von Bedeutung ist“, so führt Dietrich Helms in seinem Aufsatz „Schwitters nachher jetzt“ aus, „daß Schwitters zu einem Grundstock an Vorstellungen, Verfahren, Anwendungen beigetragen hat, der noch ausreicht, um daraus etwas zu machen, das wirkt. Schwitters trug zu diesem Grundstock in dem Maße bei, als er Konventionen überschritt.“3 Nun, Schwitters überschritt ständig, weil er nichts von einem ,Grundstock‘ hielt. Jeder ,gesicherte Bestand‘ wurde von ihm verformt und neu bewertet. Vielleicht liegt darin der Unterschied zwischen dem Merzkünstler und dem Popkünstler, daß letzterer sich eines bestimmten Grundstockes ererbter Verfahren bedient, während der erste sie immer nur erfand.
In diesem Sinne gestaltete er sein Leben selbst zum Merzprodukt, indem er ständig alles Erlebte und Erdachte gegeneinander wertete. Seine autobiographischen Artikel wurden selbst wieder zu kleinen Kunstwerken, etwa dieser kleine Rückblick, den er am 30. Juli 1939 in Olden, im Westen Norwegens, schrieb:
Ich wurde als ganz kleines Kind geboren. Meine Mutter schenkte mich meinem Vater, damit er sich freute. Als mein Vater erfuhr, daß ich ein Mann war, konnte er sich nicht mehr halten und sprang vor Freude im Zimmer herum, denn er hatte sich sein ganzes Leben immer nur Männer gewünscht. Die größte Freude für meinen Vater aber war es, daß ich ein Zwilling war.
Dann wuchs ich heran zur Freude anderer, und es ist schon immer in meinem ganzen Leben mein Bestreben gewesen, anderen immer nur Freude zu bereiten. Wenn sie sich dann manchmal aufregen, dafür kann man ja nichts. Mein Lehrer freute sich immer, wenn er mich ohrfeigen konnte, und. die ganze Schule war froh, als ich mit ihr fertig war.4
Die Freunde, die über Kurt Schwitters’ Leben schrieben, verfielen allzuleicht ins Anekdotische und schufen gewollt oder unbewußt so an einem Schwitters-Mythos, der sich allmählich gebildet hatte. Ihre Bücher und Aufsätze – ich denke besonders an die von Käte Steinitz,5 Hans Arp,6 Katherine Dreier,7 Bernhard Göttrup,8 Raoul Hausmann,9 Hannah Höch,10 Georg Muche,11 Otto Nebel,12 Harry Pierce,13 Lothar Schreyer,14 Edith Thomas15 und Heinz Vahlbruch16 – handeln von Erlebnissen mit dem Merzkünstler und stellen Teile einer umfangreichen Memoirenliteratur dar, die aus der Erinnerung jene goldene dadaistische Zeit heraufbeschwören will. Die komplexe Gestalt des Merzkünstlers wurde dann von Ernst Schwitters17 und Werner Schmalenbach18 dargestellt, ebenso in Der Merzkünstler Kurt Schwitters.19
Es faszinierte vor allem an Schwitters, daß seine künstlerischen Arbeiten nicht an eine Gattung gebunden waren. Er machte Bildgedichte, eine Ursonate mit Lauten, Objektpoesie, Architekturplastiken und Environment-Kunst. Gerade dies führte wohl dazu, daß seine Kunst zu seinen Lebzeiten von der Öffentlichkeit eher verspottet und beschimpft als geachtet wurde. Nur einzelne avantgardistische Künstlergruppen erkannten die Bedeutung seines Werkes in den zwanziger Jahren. Später hielten Katherine Dreier in Amerika und Carola Giedion-Welcker in Europa den Namen Schwitters in der Diskussion. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Merzkunst allgemeiner anerkannt. Die Bilder, Collagen und Plastiken fanden großes Interesse, nachdem Werner Schmalenbach im Frühjahr 1956 die erste große Retroperspektive in Hannover ausgerichtet hatte. Von da an blieb der Name Kurt Schwitters lebendig, besonders durch die überall in den Kunstzentren Europas, Amerikas und Asiens veranstalteten Retrospektiven. Die große Bestandsaufnahme des Schwitters’schen Werkes, die 1967 von Werner Schmalenbach verfaßte, vorzüglich dokumentierte Monographie Kurt Schwitters, war lange erwartet. Sie stellte das bildnerische Werk im Zusammenhang der ganzen schöpferischen Arbeit von Kurt Schwitters dar. Der Merzdichter, der gleichberechtigt an die Seite des bildenden Künstlers tritt, erhielt darin erstmals Aufmerksamkeit. Bis dahin war die Dichtung nur am Rande behandelt worden, was seinen Grund z.T. darin hatte, daß Schwitters’ literarisches Œuvre nur zu gut einem Drittel veröffentlicht war, wovon die Hälfte sich zudem noch in kleinen Heften mit oft niedriger Auflage befand, die der Interessierte nur mit Glück für teures Geld erwerben konnte. Die Artikel und Geschichten in den Zeitungen und Zeitschriften der zwanziger Jahre waren nahezu vergessen und in keiner Bibliographie auf geführt. In modernen Anthologien zur expressionistischen Lyrik war Kurt Schwitters gewöhnlich mit dem Gedicht „An Anna Blume“ vertreten, ab und zu wurden Teile seiner Merzbühnentheorie abgedruckt. Aus dadaistischen Anthologien kennt man allenfalls zehn Kurt Schwitters-Gedichte aus der Merzzeit. 1963 wurde in Akzente die Erzählung „Auguste Bolte“20 nachgedruckt. Ab 1965 erschienen im Arche Verlag Nachdrucke von den „Anna Blume“-Dichtungen21 und von „Auguste Bolte“,22 beide vom Sohn, Ernst Schwitters, herausgegeben und – im Fall der „Anna Blume“-Texte – geistreich kommentiert.
Im französischen Sprachraum kamen zwei Übersetzungen von Robert Valancay heraus. Unter dem Titel La Loterie du Jardin Zoologique23 erschien 1951 Merz 21: erstes Veilchenheft. Die Übersetzung von Auguste Bolte kam 1967 heraus.24
Nur wenige Kritiker schrieben vor Schmalenbach über die literarischen Arbeiten von Kurt Schwitters. Literaturkritisch oder literarhistorisch ausgerichtet waren acht kleinere Artikel. Über das Wesentliche der Schwitters-Dichtung schrieb Carola Giedion-Welcker in „Die Funktion der Sprache in der heutigen Dichtung“,25 „Kurt Schwitters“,26 und „Einheit in Vielfalt“.27 Die Artikel „Der Surrealismus und Kurt Schwitters’ Merz“28 von Horst Liede, „Zu ,Auguste Bolte‘ von Kurt Schwitters“29 von Franz Mon und „Annoncen waren seine Inspirationsquelle; der Dichter Kurt Schwitters“30 von Wieland Schmied behandelten Einzelaspekte. Nach den ersten Einordnungen von Ernst Schwitters in „One never knows“31 und Michel Sanouillet in „Dada dans le monde: Hannovre“32 gab Werner Schmalenbach einen informativen Einblick ins literarische Gesamtwerk. Das ganze literarische Werk wurde erst in Der Merzkünstler Kurt Schwitters33 vorgestellt. Bemerkenswert bei der vorliegenden Sekundärliteratur ist einerseits die Geteiltheit der frühen Kritik und die Einstimmigkeit der späten. Zu Beginn als Unsinnspoesie (Liede) abgestempelt und als Pioniertat (Giedion-Welcker) gelobt, geben die letzten Arbeiten literaturhistorische Einordnungen und literatursoziologische Interpretationen und erkennen die Qualität des Schwitters’schen Werkes an.
Leben und Werk von Kurt Schwitters bilden eine Einheit. Deshalb ist es notwendig einen kurzen Einblick in Schwitters’ Leben zu geben, um zum besseren Verständnis der Lyrik beizutragen. Von einigen Dada-Kollegen wurde Kurt Schwitters oft als zu bürgerlich bezeichnet, eine Fixierung, die wir uns heute nur aus seinem hannoverschen Habitus erklären können. Kurt Schwitters wurde nämlich am 20. Juni 1887 in Hannover, jener Provinzhauptstadt geboren, die für ihre merkantile Bürgerlichkeit bekannt war. Wenn er auch später noch seiner äußerlichen Erscheinung nach, seinen bürgerlichen Anzügen und den geblümten Krawatten genau so wie dem spitzen Zungen-S nach zu seiner Geburtsstadt gehörte, so war er doch kein Provinzkünstler. Seine Konzeption war die der internationalen Avantgarde, so würden wir heute jedenfalls seine Freunde nennen, die in seinem Atelier aus- und eingingen: Hans Arp, El Lissitzky, Raoul Hausmann, van Doesburg und Moholy-Nagy. Von seinen Eltern hatte er eine gutbürgerliche Erziehung erhalten, wie es nach deren ehrbaren Lebenswandel nicht anders zu denken war. Der Vater hatte sich vom Lehrling und Kommis im Modewarengeschäft hochgearbeitet und kaufte sich 1886 ein Geschäft. Er arbeitete mit kaufmännischem Geschick bis zum 40. Lebensjahr und setzte sich dann nach dem Verkauf des Geschäfts und dem Erwerb von fünf Häusern zur Ruhe, denn von den Mieteinnahmen konnte er jetzt das ruhige Leben eines wohlhabenden Bürgers führen.
Auch die Mutter von Kurt Schwitters war eine Idealgestalt des aufstrebenden Bürgertums. Mit dreizehn Jahren nähte sie bereits für ein Modewarengeschäft, mit siebzehn übernahm sie die Stelle der Directrice und mit einundzwanzig hatte sie ihren eigenen Betrieb. – Die Eltern lebten mit „Kuwitter“, wie der kleine Kurt Hermann Eduard Karl Julius Schwitters sich nannte, in der ruhigen Waldhausenstraße – mit allen Standeszeichen des wohlhabenden Bürgertums. Nahezu fünfzig Jahre blieb Schwitters dieser Umgebung treu. Über seine Kindheit und seine erste Lebenszeit hat er sich später allerdings nur ironisch geäußert. Offensichtlich kam man im Hannoverschen Realgymnasium I seinen musischen Anlagen wenig entgegen. Er fühlte sich erst nach bestandener Reifeprüfung in der Kunstgewerbeschule in Hannover wohler. Aber 1909 – nach einem Jahr Kunststudium – verließ er seine Heimatstadt für vier Jahre und schrieb sich an der königlichen Kunstakademie zu Dresden ein, die den Ruf einer guten Hochschule hatte.
Während der Dresdener Akademiezeit von 1909 bis 1914 erlernte er gründlich das Handwerk der Malerei. Mit Fleiß und Genauigkeit arbeitete er auch über die Kunsttheorie. Daß er ehrgeizig und gründlich war, zeigt seine Arbeit an einem theoretischen Werk über die Kompositionslehre, das er damals zu schreiben begann.
1914, bei Kriegsausbruch, kehrte er nach Hannover zurück, ohne Kontakt zu den Dresdener Brücke-Künstlern gefunden zu haben. Seinen malenden und dichtenden Altersgenossen gegenüber war er weit im Hintertreffen. Von 1914 bis 1918 verhielt er sich durchaus konformistisch. Er heiratete 1915 Helma Fischer, mit der er schon sechs Jahre verlobt war, machte eine längere Hochzeitsreise nach Opherdicke in Westfalen und lebte dann mit seiner jungen Frau in der zweiten Etage des elterlichen Hauses. Er malte viel. Als düstere Zeit erschien ihm später seine kurze Soldatenzeit von März bis Juni 1917, weil er ständig an der Militärordnung aneckte.
Das Jahr 1918 brachte die große Wende. Damals stieß der Einunddreißigjährige zum futuristischen Berliner Sturm-Kreis, und alles, was sich an künstlerischem Tatendrang angestaut hatte, brach hervor. Er schrieb dutzendweise Gedichte im futuristischen Stil August Stramms, verfertigte kleine Kohlezeichnungen mit typisch futuristischem Bildaufbau und folgte Herwarth Waldens Aktivitäten mit letztem Einsatz: denn er hatte während seines ganzen bisherigen künstlerischen Schaffens die in der Sturmkunst realisierte Befreiung gewünscht.
Der größte Schaffensimpuls für ihn war es aber, daß er in der konsequenten Weiterentwicklung der in Berlin vom Sturm-Kreis und vom Club Dada empfangenen Impulse bald kein Epigone mehr war. 1919 trat er – zweiunddreißigjährig – mit seiner eigenen Kunstrichtung Merz hervor, zur Freude Herwarth Waldens und einiger Avantgardekünstler und Förderer in Berlin und Hannover, die ihn von jetzt ab entschieden unterstützten. Er war unermüdlich bereit, das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, schrieb bissige Polemiken gegen die Feinde seiner Gönner und übertraf sich an geistreichen witzigen Sprachexperimenten. Andererseits war er bemüht, seine Dichtung ins Volk zu tragen. Er ließ seine Liebesgedichtpersiflage „An Anna Blume“ an die Litfaßsäulen Hannovers schlagen (s. S. 58), an eine Stelle, wo zuvor die zehn Gebote angeschlagen waren. Als die Hannoveraner auf diese Weise erfuhren, daß Kurt Schwitters seinen Platz als Dichter Hannovers beanspruchte, konnten viele sich vor Entrüstung nicht halten und schrieben bitterböse Briefe gegen den Unsinn eines Geisteskranken. Das größte Ärgernis war es dann für sie, daß gerade durch die entrüsteten Briefe an die Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen das öffentliche Interesse wuchs. Kurt Schwitters’ erstes Gedichtbändchen Anna Blume, Dichtungen (1919) wurde jedenfalls reißend abgesetzt.
Kurt Schwitters entwickelte sich innerhalb von zwei Jahren zu einem in allen damaligen Avantgardekreisen beachteten Dichter und Maler. Seine Manifeste, kritischen Artikel und Dichtungen wurden bald in Deutschland, Holland, der Schweiz, Polen und der Tschechoslowakei gedruckt, seine Bilder in Amerika und Europa ausgestellt
In Hannover wurden 1919 gleich zwei bedeutende Zeitschriften gegründet: Der Zweemann mit der späteren Nachfolgezeitschrift Die Pille und Das hohe Ufer. Der Verleger Paul Steegemann veröffentlichte außerdem eine Buchreihe Die Silbergäule, von der innerhalb eines Jahres über fünfzig Hefte mit modernen Dichtungen erschienen. Kurt Schwitters hatte bei all diesen Unternehmen bald einen festen Platz. Hart attackierte er auch in seinen Pamphleten die heimischen Kritiker. Seine Manifeste und Dichtungen wurden gern gedruckt, weil sie schockierten, genau was diese Zeitschriften brauchten, um auf sich aufmerksam zu machen.
Für seinen internationalen Ruf und für seine künstlerische Entwicklung wurden die Freundschaften mit den Dadaisten, insbesondere mit Hans Arp, Tristan Tzara, Raoul Hausmann, Hannah Höch und Katherine Dreier entscheidend. Hans Arp hatte eine ähnliche Entwicklung durchgemacht und konnte vor allem künstlerische Anregungen geben, Tristan Tzara erschloß ihm organisatorisch die Publikationsmöglichkeiten der Dadaisten, Katherine Dreier machte ihn in Amerika bekannt, Raoul Hausmann und Hannah Höch regten ihn wohl zu manchen neuen Dada-Techniken an: vor allem zur Photomontage und zum lettristischen Gedicht.
Ab 1922 gehörten zum Schwitters’schen Freundeskreis mehr und mehr osteuropäische Konstruktivisten und Suprematisten sowie De Stijl- und Bauhauskünstler. Vor allem El Lissitzky, Moholy-Nagy und Theo van Doesburg arbeiteten mit Schwitters eng zusammen. Die klassische Merzperiode war 1923 abgeschlossen, und Schwitters näherte sich mehr und mehr den zeitgemäßen Tendenzen der „Neuen Sachlichkeit“. In seiner eigenen Zeitschrift Merz (1923–1932) trug er eine Zeitlang noch die künstlerischen Auseinandersetzungen zwischen Dadaismus und Konstruktivismus aus, dann entwickelte er seine eigene konstruktivistische Kunst. Aber so wie es allgemein keinen Generalnenner für die Kunst der zwanziger Jahre gibt, so findet sich auch für Kurt Schwitters keine klare Festlegung. Einerseits machte er konkrete Poesie und reine Abstraktionen, andererseits volkhafte Dichtungen und Landschaftsmalereien.
In der Linie einer konstruktivistischen Stilkunst lagen seine Theorien zur Normalbühne, seine Bildgedichte, Buchstabengedichte, Lautgedichte sowie die konstruktivistischen Bilder, Plastiken und Typographien. Das volkhafte Element pflegte er in seinen Liedern, Schlagern, Märchen, Grotesken, humorvollen Schwankerzählungen, Sketchen und in den Ready-mades seiner i-Kunst.
In Schwitters’ Arbeit der späteren zwanziger Jahre zeigte sich zugleich wie bei vielen Künstlern der damaligen Zeit ein starker Wille zur Synthese. Er beschäftigte sich gleichzeitig mit Malerei, Dichtung, Plastik, Architektur, Typographie, Werbung, Photographie und arbeitete intensiv an der Grenzüberschreitung dieser Bereiche. Auch in seinem Leben bemühte er sich um eine sachliche Lebensausrichtung. Er arbeitete gewissenhaft und mit großer Präzision an typographischen Aufträgen, wählte den Beruf des Werbefachmannes und entwickelte Schrifttypen. Eine eigene Type war er selbst, wenn er reiste, tanzte, vortrug, dichtete, malte und Merzabende veranstaltete. Ihn schien ein – für die damalige Zeit typischer – vitalistischer Lebensrausch ergriffen zu haben. Ja, er beteiligte sich sogar aktiv an der Ausrichtung großer Tanzveranstaltungen in Berlin und Hannover. Zur selben Zeit entdeckte er seine Liebe zur Bühne. Er schrieb opernhafte Schauspiele mit einem Maximum an Bühneneffekten, die wir heute mit denen des Living-Theatre vergleichen müssen, und gewann auch für einen gemeinsam mit Käte Steinitz verfaßten Operntext einen Preis. Sein Hauptwerk aber blieb der Merzbau in der Waldhausenstraße, eine phantastische Raumarchitektur, die er in achtzehn Jahren durch mehrere Räume seines Hauses zog.
1929 entdeckte er Norwegen und verbrachte dort immer längere Zeit, um in der schönen Landschaft zu malen und zu dichten. Seine Lage in Deutschland wurde anfangs der dreißiger Jahre zusehends unerträglicher. In den Autodafés von 1934 wurden seine Bücher verbrannt. Er verlor seine Stellung als Reklameberater der Stadt Hannover und mußte dann 1937 endgültig Abschied von Deutschland nehmen. In Lysaker bei Oslo fand er für drei Jahre eine neue Unterkunft. Er verdiente sich durch Landschaftsmalerei seinen Lebensunterhalt und arbeitete – in seinem erzwungenen Einsiedlertum – an seiner Kunst weiter. Seine Hauptarbeit galt einem zweiten Merzbau, den er an einem Abhang im Garten seines Hauses in Lysaker begonnen hatte und mit Unterstützung seines Sohnes ausbaute.
Am 9. April 1940 verließ er seine zweite Heimat, während deutsche Bomben auf den naheliegenden Osloer Flugplatz fielen. Die Gestapo kam einen Tag zu spät. Nach zwei Monaten Flucht in den Norden Norwegens konnte er einen Tag vor der norwegischen Kapitulation nach England fliehen. Obwohl er dort fast siebzehn Monate lang durch Internierungslager geschleppt wurde, war er glücklich, dem Druck entkommen zu sein und wieder künstlerisch arbeiten zu können. Im Lager fand er das lang vermißte anregende geistige Klima wieder, schrieb seine frühen Dichtungen aus dem Gedächtnis auf und begann auch, auf englisch zu schreiben.
Nach der Entlassung aus dem Internierungslager lebte er eine Zeitlang in London, ohne recht Fuß fassen zu können. Das London von 1941–1945 war von Kriegslärm erfüllt, eine Kunstmetropole war es nicht. Schwitters fand mit seinen Arbeiten keinen Anklang. 1944 bereits bekam er einen leichten Schlaganfall. Er erholte sich nie mehr so recht, auch als er in den ländlichen Lake District (Westmoreland) nach Ambleside übersiedelte. Noch einmal nahm er 1946–1947 seine schöpferischen Kräfte zusammen, malte, baute und dichtete in großer Schaffenseuphorie. Er begann seinen dritten Merzbau in einer alten Scheune. Obwohl er am 17. Juni 1947 ein Lungenbluten erlitt, arbeitete er unermüdlich weiter. „I have so little time“,34 pflegte er auf Vorhaltungen zu antworten. Am 8. Januar 1948 starb er – 60 Jahre alt – und wurde im Beisein seines Sohnes und seiner Freunde in Ambleside bestattet.
Schwitters’ Lebensziel war, ein Gesamtkunstwerk zu hinterlassen, das seine ganzen künstlerischen Bemühungen zusammenfaßte. Heute können wir aus seinem umfangreichen Nachlaß ersehen, daß er mit unermüdlichem Fleiß in allen möglichen Kunstsparten seine Kunstidee verwirklichte. Im literarischen Bereich galt seine besondere Liebe der Lyrik. Sie begleitete sein ganzes Künstlerleben. Von seinen frühen Produkten ist allerdings nur Weniges erhalten: fünf Gedichte aus den Jahren 1909, 1912, 1913 und 1914. Im ersten Gedicht von 1909, „Herbst“ (s. S. 32), schildert der Zweiundzwanzigjährige seinen Schmerz beim Abschied von der Verlobten; denn nachdem er seine ganze Jugend in Hannover verbracht hatte, ging er 1909, kurz nach seiner Verlobung, nach Dresden, um dort die Technik der Malerei zu erlernen. Das Abschiedsgedicht ist wie alle Gedichte bis 1914, die in die Dresdener Studienzeit gehören, ganz der neuromantischen Tradition verpflichtet. Sie sind voller Melancholie und Sentiment. Ein Vergleich mit dem Gesamtwerk zeigt, wie Schwitters von einer bewußten, möglichst genauen Vermittlung seiner Gefühle, zumeist seiner fast krankhaften Melancholie, in konventionellen Bildern einer Natursymbolik zu einer konsequenten Verarbeitung der Sprachkonventionen im Merzgedicht kam, und daß von diesen ersten neuromantischen Ansätzen bis zu seiner konkreten Poesie eine stetige Entwicklung führte. Am Anfang war Dichten für Schwitters eine Übersetzung seiner persönlichen Schwermut in die traditionellen lyrischen Motive: Herbstklage, Scheiden, Gewitter, Wandern, Frühlingsblühen und Vogelgesang. Die entsprechenden Reime konnte jeder im Volkslied, in der Gartenlaubenlyrik und der damals durch Hermann Löns bestimmten hannoverschen Zeitungspoesie gefunden haben, wenn er sich für Dichtung interessierte. Der junge Schwitters war sich 1913 des Abgegriffenen der Motive bewußt. Durch richtig dosierte Verteilung von Sentiment und Ironie sucht er die gefühlsträchtigen Gedichte lesbar zu machen. Schon damals entwickelte er eine Vorliebe für das Artistische. Er selbst kommentierte später seine ersten Versuche:
An einem Vollmond-Herbstabend fiel mir der klare, kalte Mond auf. Seitdem dichtete ich lyrisch-sentimental.35
Die künstlerische Problematik, in der sich der junge Schwitters befand, lag in der zeitgemäßen Kunst und Literatur des bürgerlichen Realismus und den veränderten Vorstellungen der Romantik. Die Gedichte spiegeln einerseits die fast krankhafte Melancholie, die den jungen Schwitters seit seiner pubertären Lebensphase ergriffen hatte, andererseits sind sie echte Zeitdokumente.
Das Dilemma des anfänglich epigonalen Dichtens teilte Schwitters nämlich mit vielen expressionistischen Dichtern. Georg Heym, Ernst Stadler, René Schickele, Ivan Goll und Hans Arp zeigten ähnlich neuromantische Ansätze. Im Vergleich mit diesen Expressionisten ist Schwitters jedoch 1914, bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, weit im Hintertreffen. Auf seine spätere Entwicklung weisen allenfalls das artistische Spiel mit den Floskeln der spätromantischen Gedichte und die Vorliebe für die ironische Verkehrung.
Schwitters’ Befreiung aus den Fesseln der Tradition in den Jahren 1914 bis 1918 ging von der expressionistischen Lyrik aus: von Gedichten von Jacob van Hoddis, Gottfried Benn und August Stramm. Vor allem Stramms Pronominalketten, Verbhäufungen und Wortbildungen mit geballtem Ausdruck beeinflußten ihn nachhaltig. Aber erst über die Parodierung seiner künstlerischen Vorbilder – Stramm, Benn und Arp – gelangte er zu seinem eigenen Stil. Daß Schwitters so spät mit eigenen Leistungen hervortrat, erklärt sich zum Teil aus der Tatsache, daß er in unermüdlichem Fleiß und mit großer Geduld ständig bemüht war, traditionelle und neue Techniken zu erlernen. Allem, was Geduldsarbeit war und was gelernt werden konnte, unterzog er sich freiwillig. Das betrifft sein bildnerisches Studium wie auch sein dichterisches Arbeiten.
Zuerst interessierte sich Schwitters für die Gedichttechniken von van Hoddis. Die Paraphrasen, Ausrufe, Projektionen und banalen Einschübe bei van Hoddis regten ihn zu eigenen Gedichten an. Der Weg zu den Merzgedichten war damit beschritten. Aber Schwitters arbeitete vier Jahre, bis er zu seinen eigentlichen Leistungen kam. Als nächstes suchte er den geballten Ausdruck des Einzelwortes, das er auf seinen semantischen, bildlichen und rhythmischen Wert abfragte. Er komponierte die einzelnen Gedichtelemente so, daß durch die rhythmische Anordnung der Ausdruck gesteigert wurde. Bei einem solchen Streben nach Ausdruckskunst mußte die erste Begegnung mit August Stramms Gedichten zu einem entscheidenden Erlebnis werden.
Am 19. Januar 1918 trug Rudolf Blümner in der Kestner-Gesellschaft in Hannover futuristische Dichtungen vor, Werke von Kurt Heynicke, Hermann Essig, Peter Baum und August Stramm. Noch im selben Jahre schrieb Schwitters 26 Gedichte in typischem Strammschen Stil. Ganz nach dem Muster der August Stramm-Gedichte bildete er Verben wie: zerwogen, gieren, stacheln, gluten und umeinen, und arbeitete mit Pronominalketten, Wortkolonnen und rhythmischer Gliederung bei knappstem Ausdruck. Nur die Strammsche Logik einer Handlungsfolge mit Gestalten, Aktionen und Gegenaktionen übernahm er nicht. Statt einer Dramatisierung suchte er Sprachexperimente zur künstlerischen Formung, etwa durch Wortwiederholungen, Paraphrasen und durch das spannungsvolle Spiel von Bildlichkeit und Abstraktion.
Stramms Beispiel und die Theorien Marinettis lösten 1917–1918 bei Schwitters eine Katharsis aus, nach der in seinem Gedächtnis später alle früheren dichterischen Versuche ausgelöscht waren. Für ihn begann seine lyrische Dichtung mit seinen Gedichten im August Stramm-Stil. „Denn seit 1917 dichte ich“, schrieb er in einer seiner vielen autobiographischen Skizzen. Da von der Zeit vor 1917 nur fünf Gedichte erhalten sind, erscheint es durchaus möglich, daß er analog zu Stramm die meisten seiner früheren Manuskripte zerstörte und „von vorn“ begann.
Das Streben nach Ausdruck erachtete Schwitters bald als schädlich für sein Dichten. Angeregt von den Sturm-Theorien Waldens, Blümners und Schreyers, löste er sich von dem Einfluß Stramms und damit vom Epigonentum, das ihm drohte. Im Sturm-Kreis hatte man die reine Gestaltung innerer Erlebnisse zu einem organischen Kunstkörper gefordert. Man wollte nur noch das Gedichtmaterial verwenden: Töne, Klänge, Rhythmen und Worte. Was Schwitters an dieser Theorie faszinierte, war das Primat der künstlerischen Formung zuungunsten des logischen Zusammenhanges. In konsequenter Anwendung dieser Theorien schrieb er Gedichte wie „Wand“36 und „Gedicht Nr. 23 Wunde Rosen bluten“,37 in denen die gleichen Worte mehrmals wiederholt werden (s. S. 48 u. 203). Hier waren Sinnbezug, logische Folge einer Handlung, Bildlichkeit und syntaktische Fügung bereits auf gehoben. Schwitters wußte, daß das Material der Dichtung unwesentlich sei, daß künstlerische, rhythmische Formen dagegen alles bedeute. „Weil das Material unwesentlich ist“, so formulierte Schwitters, „nehme ich jedes beliebige Material, wenn es das Bild verlangt.“38 Damit war der entscheidende Gedanke zur Merzkunst und zur Merzdichtung bereits ausgesprochen.Was vom Merzbild gesagt wurde, galt auch für die Dichtung. Schwitters resümierte:
Ich habe mich zunächst noch mit anderen Kunstarten beschäftigt, z.B. der Dichtkunst. Elemente der Dichtkunst sind Buchstaben, Silben, Worte, Sätze. Durch Werten der Elemente gegeneinander entsteht die Poesie. Der Sinn ist nur wesentlich, wenn er auch als Faktor bewertet wird. Ich werte Sinn gegen Unsinn. Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, daß er bislang so selten künstlerisch geformt wurde, deshalb liebe ich den Unsinn.39
Was Schwitters hier beschrieb, nannte er Merzdichtung.
Was er anstrebte, stand in engen Beziehungen zu anderen europäischen Ismen, zum italienischen, russischen und deutschen Futurismus, zum deutschen Expressionismus, zum Züricher, Berliner, Kölner, Pariser Dadaismus, zum osteuropäischen Konstruktivismus und zum Bauhaus. Nicht ohne Grund publizierte Schwitters in Zeitschriften und Anthologien des Expressionismus, Dadaismus, Futurismus, Konstruktivismus und des Bauhauses. Merz erscheint im Hinblick auf die europäische Literaturrevolution nur als ein weiteres Schlagwort zur Proklamation des radikalen Umbruchs ästhetischer, sozialer und politischer Werte. Die Merzdichtungen provozierten durch die Umwertung, Abwertung und Verwertung der politischen Schlagworte und bürgerlichen Sprachfloskeln, aber versöhnten zugleich durch die Intimität, mit der Schwitters dieses Material behandelt. Er suchte es liebevoll aus – ähnlich wie die Abfallbrocken, Straßenbahnfahrscheine und Papierschnitzel, mit denen er seine Merzbilder klebte.
Historisch gesehen tritt die Merzkunst zu einem Zeitpunkt auf, als die anderen Ismen bereits ,etabliert‘ waren. Schwitters’ Merz ist als Kunststil eine bewußt arrangierte künstlerische Demonstration, die ähnlich wie die Vorbilder im Futurismus und Dadaismus erst im Laufe der Entwicklung Bedeutung erhielt, als sie auf alle Kunstsparten konsequent ausgedehnt wurde. Aber im Gegensatz zu Dada, das als Wortprägung aus dem zufälligen Aufschlagen des Larousse entstanden ist, was das Primat des Zufalls zeigt, ist bei Merz von Beginn an die Gestaltung eines künstlerischen Gebildes entscheidend. Das Wort Merz wurde bewußt aus Commerz herausgeschnitten, um ein Kompositionselement für ein Bild abzugeben. Den Hintergrund zur Merzkunst bildete die Nachkriegszeit mit der allenthalben ausgesprochenen Hoffnung auf einen Neubeginn und einen Aufbau. Schwitters erfaßte das Gebot der Stunde, wenn er forderte, die Trümmer der im Ersten Weltkrieg zerstörten Welt auf ihren Wert neu zu prüfen und in ein neues künstlerisches Arrangement zu bringen.
Für ihn waren die Werte der wilheminisch-militärischen wie der bürgerlichen Welt nicht mehr ernst zu nehmen. In diesem Sinne gehen seine Anschauungen konform mit denen der Expressionisten und Dadaisten. Die Merzlyrik zeigt, daß er nicht durch kommunistische oder sozialistische Agitation, sondern nur durch die Kunst Revolution machen wollte. Die Orte, an denen Merz entstand, waren Hannover und Berlin. In beiden Städten probten die Spartakisten vergeblich den Aufstand. In Schwitters’ Erzählung „Die Geheimlade“ erleben wir einen jungen Mann, der Grotesken schreibt und – zum Kummer seiner Verlobten – nicht politisch agitiert. Als die Verlobte aber einmal seinen Schreibtisch aufbricht und eine Geschichte mit dem Titel „Franz Müllers Drahtfrühling. Ursachen und Beginn der großen glorreichen Revolution zu Revo“ liest, ist sie von dem Geist der Freiheit, der daraus spricht, so erfüllt, daß sie sich ganz zu ihm bekennt. Der junge Mann könnte Schwitters’ Beziehung zur Revolution verdeutlichen. Er hofft, durch seine Erzählungen die Leute von ihrer Borniertheit zu erlösen und sie aus ihrer beschränkten Welt in die Freiheit zu führen. Schwitters’ Merzabende waren denn auch genauso wie seine Merzdichtung keine politischen Demonstrationen wie die Dada-Abende der Berliner Dadagruppe, sondern allenfalls Provokation der etablierten Bürger. Alle Versuche, die Merzdichtung als Protestdichtung zu definieren, führen auf ein zu enges Gleis.
Schwitters hat ein recht komplexes Werk hinterlassen, das einerseits ständig gegen konventionelle literarische Vorstellungen verstößt, andererseits aber konventionelle Literatur enthält. Man muß sich, um ein halbwegs treffendes Bild vom Merzkünstler zu erhalten, unbedingt Schwitters’ lebenslanges Bemühen um Freiheit vor Augen führen. „ Jede Zeit muß sich selbst erlösen, weil sie an sich allein leidet“,40 so stellte er einmal – 1926 – fest, und er fügte hinzu, daß die Kunst zum Heilmittel der Zeitkrankheiten werden müsse. Er war der Ansicht, jede Zeit leide daran, daß bestimmte Strömungen, Ideen, Thematiken überbetont seien. Noch während des Ersten Weltkrieges richtete sich Schwitters’ Kunst – durchaus im Rahmen der expressionistischen Auflehnung gegen die überlieferten bürgerlich-kapitalistischen Lebensformen – gegen die Konventionen des Bürgertums. Während des allgemeinen Chaos der Novemberrevolution von 1918 forderte er die Konstruktion in der Kunst. Da es nach seiner Meinung in der Nachkriegszeit an politischem und sozialem Bewußtsein im Bürgertum mangelte, wurde eine Zeitlang die sozial-politische Provokation ein notwendiges künstlerisches Mittel. Fünf Jahre später, als jedermann wegen der gespannten Wirtschaftslage ganz auf die Realität eingestellt war, propagierte er eine reine, konstruktivistische Kunst, wieder fünf Jahre später, in einer Zeit wachsender Politisierung, trat er für Phantasie und künstlerisches Spiel ein, zur Zeit der politischen Diktatur und der Kriegsschrecken dichtete er märchenhafte Idyllen und konkrete Poesie. Je destruktiver die Zeit wurde, desto stärker forderte er die Konstruktion, je politischer sie sich gebärdete, desto mehr forderte er die neue Kunst. Wenn man Schwitters’ apolitischen Habitus angreift, übersieht man, daß sich seine Arbeit ständig gegen die überbetonten Zeittendenzen richtete. Daß sein freiheitliches Schaffen und Leben in einer Diktatur politischen Sprengstoff bedeutete, erkannten die Nationalsozialisten. Sie vertrieben ihn. In seiner Lyrik zeigen sich die wandelnden Standpunkte deutlich. Provokative Merzlyrik, konkrete Poesie, Schlager und Klapphornverse wechseln einander ab. Schwitters drängte stets aus jeder einengenden Perspektive heraus, verfiel oft ins entgegengesetzte Extrem, um jede Festgefahrenheit zu vermeiden.
Für seine Lyrik spielt die Parodie, mit der er sich aus dem drohenden Epigonentum befreit, eine entscheidende Rolle. 1918/19, als er seine Merzgedichte zu schreiben begann, löste er sich von den expressionistischen Sprachballungen und Sprachdeformierungen, wie sie u.a. noch im Sturm-Kreis geübt wurden. Ein Jahr später war das Vorbild Arps so drückend stark, daß auch er die Sprachspiele der Dadaisten, etwa die Arpschen Kontaminationen, als Klischees verwandte und sie als Arpsche Wortbandwürmer parodierte. Auf diese Weise befreite er sich von den Sprachmustern, die ihn am meisten beeinflußt hatten. In anderen Merzgedichten betrieb er ein heiteres Spiel mit den Sprachgewohnheiten Apollinaires und Walter Mehrings, aber auch mit Wortklischees der Bürger und Politiker. Dahinter stand das Mißtrauen gegen alles, was als Wert oder als absolut Gültiges gesetzt war. Aus diesem Grunde wandte sich Schwitters auch scharf gegen Huelsenbeck, der im Manifest des dadaistischen revolutionären Zentralrates Deutschlands die Einführung des radikalen Kommunismus als dadaistische Forderung gestellt hatte. Er verband sich jedoch freundschaftlich mit den ,Künstlern‘ des Dadaismus, vor allem mit Hans Arp und Tristan Tzara, und fühlte sich zu Picabia, Ribémont-Dessaignes und Archipenko hingezogen.
Von Schwitters’ Merzdichtungen sind nur wenige bekannt geworden. Die heutige Avantgarde schätzt weniger das heitere Spiel, das Schwitters in seinen Merzgedichten mit den Wortklischees der Alltagssprache und den poetischen Konventionen trieb, als seine Lyrikexperimente, die er von 1919 an ausführte – teils aus Freude am Experiment und als Beispiel der künstlerischen Freiheit, teils aus dem Wunsch, Beispiele zu seinen programmatischen Erklärungen zu geben.
Zu Schwitters’ konkreter Poesie gehören Experimente an den Grenzen fast aller Gattungen, insbesondere widmete er seine Arbeit den Grenzübergängen von Bild, Dichtung, Musik und Bewegung. Er schrieb selbst dazu:
Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Reihung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, aus denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen.41
Im Unterschied zu vielen heutigen Experimenten arbeitete Schwitters in seinen Bildgedichten, Lautgedichten, Zahlengedichten und Buchstabengedichten optisch und akustisch. An unzähligen Merzabenden trug er seine Poesie vor. Die Augenzeugen berichten übereinstimmend, was auch die theoretischen Schriften bestätigen: die rhythmische Gestaltung der Poesie stand im Vordergrund. Bildrhythmus, Musikrhythmus und Sprachrhythmus waren für ihn aber verwandte, übertragbare Phänomene. Angefangen von seiner ersten Auseinandersetzung mit künstlerischen Fragen bis zu seinem Lebensende verglich und verband Schwitters Klang- und Bildrhythmen. Die gesetzten Bildgedichte von 1922 sind die Konsequenz eines zehnjährigen Bemühens; dasselbe gilt für die vielzitierte Objektpoesie.
Schwitters’ Experimente an den Grenzen der Gattungen werden heute von Dichtern genau so ernstgenommen wie von Musikern und Theaterleuten. Die Ursonate ging den Experimenten Pierre Schaeffers voran, die Merzbühne den Aufführungen des Living-Theatre und den Happenings, die Bild- und Zahlengedichte der heutigen konkreten Poesie.
Seine Arbeit an der konkreten Poesie setzte Schwitters bis zu seinem Tode fort. Daneben schrieb er in den späten zwanziger Jahren Gedichte mit Morgenstern- und Edward Lear-Techniken. Durch die unpassende Verwendung von lautlich passenden Wörtern wurden die verschiedensten Sprechweisen der Bürgersprache, die zu Konventionen erstarrt waren, parodiert. Wilhelm Busch-Zeilen, Kinderverse und Moralsprüche wurden mit der Merztechnik abgewertet. Entsprechend beschäftigte sich Schwitters mit Autoren, die traditionelle Formen durch witzig-geistreiches Spiel in Frage stellten: mit Heine und Wieland. Bei Heine fand er die verkehrende Pointe und Parodie, bei Wieland die witzige Auflösung in der Phantastik.
In Norwegen und während der Emigration in England dichtete Schwitters unermüdlich weiter. Seine literarische Entwicklung vollzog sich dabei – ähnlich wie bei Arp – nicht extrem geradlinig. Gerade an der in England entstandenen Lyrik können wir noch einmal die Pole sehen, zwischen denen sein lyrisches Werk angesiedelt war. In den reinen Lautgedichten einerseits und den Merzkompositionen mit Annoncentexten andererseits entfernte er sich am weitesten von seinem neuromantischen Ansatz, in der reinen lyrischen Aussprache seiner Resignation in den letzten Londoner Jahren geht er am weitesten auf diesen Ansatz zurück. Während Schwitters’ Weg von 1912 bis 1922 fortschreitend vom Erlebnisgedicht zur konkreten Poesie führt, bewegt sich sein lyrisches Schaffen von 1922 an bis zu seinem Tode 1947 auf den Stationen zwischen diesen Polen. Je nach der formalen und thematischen Notwendigkeit greift er auf eine schon erarbeitete Form zurück.
Seine Gedichte erhalten da ihre literaturgeschichtliche Bedeutung, wo sie gegen die allgemeinen Grundsätze der dichterischen Tätigkeit verstießen, gegen die Reinheit des Materials und gegen die Ausschließlichkeit des Dichtermetiers. Schwitters’ Dichtung ist ein Teil eines Gesamtkunstwerks, und selbst in diesem Teil sind möglichst viele Kreativitäten des Menschen vermengt: Malerei, Typographie, Propaganda, Musik, Tanz und Poesie sind oft gleichzeitig erfaßt. In den zwanziger Jahren überschritt man die Grenzen der Kunstsparten fast gleichzeitig in Rußland, Italien, Frankreich, Deutschland, England und Amerika. Was Schwitters’ Produkte auszeichnet, ist ihre künstlerische Qualität. Es erübrigt sich heute herauszufinden, welches einzelne Schwitters-Werk Folgen für den künstlerischen Nachwuchs gehabt hat. Für die Lyrik hat er zweifellos mit seiner konkreten Poesie und Objektpoesie zur Grenzerweiterung der Poesie und zur bildenden Kunst beigetragen. Die Merzgedichte, die Lautpoesie und die Objektpoesie aus den zwanziger Jahren sind als Versuche zu sehen, ständig die Grenzen, die von den künstlerischen Konventionen gesetzt waren, zu überschreiten.
Schwitters bedient sich dabei der bisher als unrein angesehenen Mittel für seine Produktion: er zog das Banale, Abgegriffene und Unsinnige in seine Arbeit hinein. Alles, was ihm begegnete, nahm er als Material für seine Formungen: Redewendungen, amtliche Formulierungen, Werbetexte, Slogans, Schlagzeilen, Schlagworte und alle möglichen Wendungen aus der banalisierten Umgangssprache. Er kehrte die Produkte der Abgegriffenheit, Belanglosigkeit und Mißachtung in Kunst um: sein Verfahren war das der Kunst aller Zeiten, die rhythmische und klangliche Gestalt.
Nicht nur in der Lyrik, auch in der Prosa und im Drama wie im bildnerischen Schaffen galt Schwitters’ ständiges Bemühen der Verwirklichung des Merzgesamtkunstwerks. Er wußte um die Schwierigkeiten; denn er schloß eine wichtige Schrift über dieses sein Hauptthema mit den Worten:
Schaffen können wir es nicht, denn auch wir würden nur Teile und zwar Material sein.42
Die Vermerzung der Welt hat nicht stattgefunden, aber die Merzwelt hat Schwitters in allen Facetten aufgewiesen.
Friedhelm Lach, Vorwort
In der vorliegenden Sammlung der Lyrik Kurt Schwitters’ werden neben den vom Künstler selbst veröffentlichten Texten erstmalig auch alle aus seinem Nachlaß stammenden lyrischen Dichtungen vereinigt. Ediert wird dieser Textbestand nach den Handschriften, die oft nur in Gabelsberger Kurzschrift vorliegen. Dort, wo die Originalmanuskripte nicht mehr vorhanden sind, wird nach den früheren Abdrucken ediert. Der Leser kann so einen klaren Überblick über das Schaffen des Dichters erlangen.
In der Anordnung der Texte folgt der vorliegende Band dem Prinzip der chronologischen Reihenfolge. Dieses Anordnungsprinzip war möglich, weil Schwitters einerseits viele Texte genau datiert hatte, andererseits aber aus den Handschriften oder aus den Formen und Themen der Gedichte die richtige Einordnung der nicht datierten Texte möglich war. Die Reihenfolge der Gedichte in den von Schwitters selbst veröffentlichten Gedichtsammlungen: Anna Blume. Dichtungen, 1. und 2. veränderte Auflage, Die Blume Anna. Memoiren Anna Blumes in Bleie, Sturm-Bilderbuch IV. Kurt Schwitters mußte angesichts dieser chronologischen Anordnung aufgelöst werden; denn sie entspricht nicht der wahrscheinlichen Reihenfolge der Entstehung. Das Verzeichnis der Gedichttitel im Anhang gibt genauere Angaben zur Entstehung. Durchbrochen wird das Prinzip der chronologischen Anordnung nur dort, wo ein Gedicht zum Ausgangspunkt eines neuen Gedichtes geworden war. In diesem Fall stehen diese Gedichte beieinander. Da von vielen Gedichten nur flüchtig geschriebene Zettel vorlagen, war es notwendig, störende Flüchtigkeitsfehler und Versehen zu korrigieren. So wurden Verschreibungen korrigiert, Abkürzungen aufgelöst und die Interpunktion behutsam ergänzt. Für Doppel-s wurde ß eingesetzt. In den zwanziger Jahren bevorzugte Schwitters – auf Anregungen von Jan Tschichold hin – die Kleinschreibung. Da er später selbst wieder von diesem Prinzip abging, wurde für diese Ausgabe die Schreibung normalisiert. Es wurde jedoch dort von einer Normalisierung Abstand genommen, wo die Schwitters’schen Eigentümlichkeiten bewahrt werden sollten.
Der Lyrikband gliedert sich in drei Abschnitte. Im ersten sind die Gedichte von 1909 bis 1948 einschließlich der Übersetzungen zusammengefaßt, im zweiten stehen die Lieder, Schlager und Sentenzen, im dritten wird die konkrete Poesie vorgestellt.
Als Autor im Exil in England hat Schwitters manche seiner frühen Gedichte ins Englische übersetzt und auch englische Lyrik geschrieben. Dieses schmalere Œuvre ist an das erste Kapitel angefügt.
Schließlich gibt es eine Reihe von Übersetzungen ins Französische, Englische, Holländische, Ungarische und Italienische von zum Teil bekannten Dadaisten und Surrealisten wie Hans Arp und Eugène Jolas. Diese stehen in den Anmerkungen zu dem jeweiligen Gedicht.
Da Schwitters gerade an den Grenzbereichen von Lyrik und Prosa, Dichtung und Malerei wie auch von Dichtung und Musik gearbeitet hat, ist das lyrische Werk nur schwer abzugrenzen. Von einigen Gedichten, vor allem aus der Dada-Periode, liegen zwei oder drei Drucke und Fassungen vor, die sich durch das typographische Arrangement und durch Textvarianten unterscheiden. Das berühmte Gedicht „An Anna Blume“ ist in der ersten Fassung als Prosatext gesetzt, in der endgültigen Fassung dagegen typographisch als ein Gedicht angeordnet. In der letzten Handschrift ist die rhythmische Gliederung noch klarer durch die typographische Anordnung aufgezeigt.
Diese Unsicherheit dem typographischen Arrangement gegenüber läßt die Erklärung zu, daß bei solchen dadaistischen Texten im einzelnen nicht mehr entschieden werden kann, ob es sich um Lyrik oder um lyrische Prosa handelt. Zu bemerken ist, daß Schwitters bewußt gegen die traditionellen Gattungskriterien arbeitete und die Grenzen zwischen Lyrik und Prosa verwischen wollte. Wenn er einem längeren Prosatext wie „Die Zwiebel“ den Untertitel „Merzgedicht 8“ gibt, wird dies offensichtlich.
In den Lyrikband sind die längeren Merzprosatexte nicht einbezogen, selbst wenn sie im Untertitel als „Merzgedicht“ bezeichnet sind, die kürzeren Texte sind dagegen eingefügt. Eine weitere Eigenart der Merzgedichte zeigt der Text „Aufruhr“. Darin ist der Gedichttext „An Anna Blume“ einmontiert. Die Möglichkeit, einen Text zum Ausgangspunkt neuer Texte zu machen, wurde von Schwitters jedoch nur in zwei Fällen ausgenutzt: beim Gedicht „An Anna Blume“ und beim Skerzo der „Ursonate“. In beiden Fällen wird das größere Endprodukt hier im Lyrikband mit abgedruckt.
Was Schwitters auf dem Grenzgebiet zwischen Dichtung, Malerei und Musik schuf, ist im dritten Kapitel unter ,Konkrete Poesie‘ aufgeführt. Die Bildgedichte und Stempelgedichte bzw. Stempelzeichnungen sind einbezogen, von den Objektpoesien sind dagegen nur noch Einzelbeispiele gegeben.
Ich danke allen Mitarbeitern für ihre wertvolle Hilfe, insbesondere dem Sohn des Merzkünstlers, Ernst Schwitters.
Friedhelm Lach
In der bildenden Kunst ist Kurt Schwitters (1887–1948) längst als ein Klassiker der Moderne anerkannt; das hat nicht zuletzt die grosse Schwitters-Retrospektive 1971 in Düsseldorf gezeigt, die den Collage-Künstler als Ahnherrn der Pop-Art ins Bewusstsein rückte. Den Schriftsteller Schwitters dagegen hat man in der Oeffentlichkeit bisher noch nicht so recht zur Kenntnis genommen. Dabei hat Schwitters als Autor auf die literarische Moderne einen mindestens ebenso grossen, wenngleich mehr verborgenen Einfluss gehabt wie als Maler auf die bildende Kunst; und unter den zahlreichen dichtenden Malern und malenden Dichtern gehört Schwitters zu den ganz wenigen, bei denen beide künstlerischen Ausdrucksformen von gleicher Wichtigkeit sind. Darin ist Kurt Schwitters seinem Freunde Hans Arp zu vergleichen, der mit seinen Bildern und Plastiken ebenso berühmt wurde wie mit seinen von dadaistischer Phantasie überquellenden Gedichten.
Mehr aber noch als bei Arp verwischen sich bei Schwitters die Grenzen zwischen Lyrik und Prosa, zwischen Text und Bild, Musik und Dichtung. Mit seiner Kunst, der er den Namen MERZ gab – die Bezeichnung wurde willkürlich dem Wort COMMERZ entnommen – zielte er auf ein Gesamtkunstwerk ab, das die Grenzen aller Gattungen und Zuordnungen überschreiten sollte. „Ich fordere“, so schrieb Schwitters, „die restlose Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte zur Erlangung des Gesamtkunstwerks. Ich fordere die prinzipielle Gleichberechtigung aller Materialien, die Gleichberechtigung zwischen Vollmensch, Idiot, pfeifendem Drahtnetz und Gedankenpumpe. Ich fordere die restlose Erfassung aller Materialen vom Doppelschienenschweisser bis zur Dreiviertelgeige.“
So ist es denn selbst aus dem Abstand von Jahrzehnten noch nicht leicht (und vielleicht auch müssig), die einzelnen Arbeiten von Kurt Schwitters stilistisch und gattungsgeschichtlich einzuordnen. Und schwierig wäre es auch, seine Spuren bis hin zur gegenwärtigen konkreten Poesie genau aufzuzeigen. Denn Schwitters lässt sich nicht auf ein Programm oder System festlegen, sein Werk ist so vielfältig, dass es sich immer wieder dem interpretierenden Zugriff listig (und lustig) entzieht.
Schwitters war ganz frei von dem verbissenen Ernst – den – mit Ausnahme von Ernst Jandl – die meisten unserer heutigen experimentellen Texter und Theoretiker zeigen. Denn Schwitters experimentierte tatsächlich, erprobte immer neue Ansätze, ohne im voraus zu wissen, wohin ihn seine Versuche führen würden. Er war nie fertig, dichtete nicht stur nach einem einmal gefundenen System, liess sich auf Risiken ein. So finden sich in seinem poetischen Werk – und zwar bisweilen gleichzeitig, was eine chronologische Reihung seiner Texte als zweifelhaft erscheinen lässt – konventionelle Lyrik und Lautgedichte, Bild- und Zahlengedichte, Konkrete Poesie, Grotesken, Satiren, Parodien.
In seine Gedichte, die anfangs noch stark von August Stramm beeinflusst waren, hat Schwitters Sätze aus vorgefundenen Texten, aus Zeitungen, Katalogen, Gebrauchsanweisungen, von Plakaten eingearbeitet. Vor allem der Annoncenteil der Tageszeitungen war für Schwitters eine nie versiegende Quelle der Inspiration – der Unsinn, der in den Reklamen marktschreierisch verkündet wurde, animierte ihn immer neu. Zu dem schillernden Bild von Schwitters passt es allerdings auch, dass er, der den Unsinn der Reklame durchschaut hatte, selbst Werbesprüche für hannoversche Firmen wie Bahlsen und Pelikan verfasste und die Typographie für Anzeigen gestaltete. Für die Strassenbahn von Hannover ersann er den schönen und nützlichen Reim:
Rechte Hand am rechten Griff
So steig ein beim Abfahrtspfiff!
Der Leser der Schwittersschen Poesie trifft, neben altvertrauten Texten wie „Anna Blume“ und „Ursonate“, immer wieder auf vergnüglichen Ulk, wie etwa:
Meine Tante, die heisst Ida,
Sie hat zwar keine Lust,
Doch das kommt wieder.
Oder:
Das Weib entzückt durch seine Beine.
Ich bin ein Mann, ich habe keine.
Jux, Kalauer und Ulk sind wesentliche Bestandteile dieser Dichtung. Schwitters, den Richard Huelsenbeck wegen seines bürgerlich-biederen Lebensstils einen „abstrakten Spitzweg“ nannte, hat nie die Kunst zerstören, sondern lediglich ihre Möglichkeiten erweitern wollen. Und von vielen Dadaisten – die ihn denn auch konsequenterweise nicht als einen der ihren anerkannten – unterschied er sich auch dadurch, dass er ein politisches Engagement der Kunst ablehnte: er wollte „die Revolution in der lustigen Form“. Wie wenig apolitisch jedoch seine von ihm als rein ästhetisch gemeinte Kunst war, das bewiesen Schwitters die Nazis, denen er als „entartet“ galt und vor denen er schliesslich ins Exil nach Norwegen und England fliehen musste.
Mindestens die Hälfte des literarischen Werks von Kurt Schwitters ist bis heute noch unpubliziert, und ein beträchtlicher Teil des früher Veröffentlichten ist heute vergriffen. So ist es zu begrüssen, dass sich der Kölner Verlag DuMont Schauberg entschlossen hat das literarische Werk von Kurt Schwitters in vier umfangreichen Bänden herauszubringen. Der erste Band enthält die Lyrik, Band 2 und 3 Prosa, Schauspiele und Szenen, Band 4 Manifeste und kritische Arbeiten. Herausgeber ist Friedhelm Lach, Professor im kanadischen Montreal, der 1971 ebenfalls bei DuMont eine Schwitters-Monographie publiziert hatte. Mit der kritischen Gesamtausgabe, die Lach, laut Verlagsprospekt, „nach langjährigen Forschungen“ vorlegt, werde (so sagt der Klappentext von Band 1) Philologen und Kunsthistorikern „eine fundierte Arbeitsgrundlage“ gegeben. Dass dies nicht stimmt, hat Jörg Drews inzwischen in einer vernichtenden Kritik von Band 1 der Schwitters-Ausgabe schlüssig nachgewiesen. Drews hat die von Lach gebotenen Texte mit den Handschriften verglichen und dem Herausgeber – dessen hilflos-ungelenkes Vorwort schon Kopfschütteln erregen muss – eine solche Fülle von Fehlern und Irreführungen nachgewiesen, dass er mit Recht von einem „philologischen Skandal“ sprechen konnte.
Nach der Ankündigung des Verlages, der den Lyrikband 1973 herausgebracht hatte, müssten in diesem Jahr auch die Bände 2, 3 und 4 vorliegen. Bisher jedoch ist nicht einmal Band 2 der Schwitters-Ausgabe erschienen, geschweige denn 3 und 4, und auf eine Anfrage beim Verlag erfährt man, dass der Erscheinungstermin der weiteren Bände noch nicht feststehe. Entschieden jedoch wird in Abrede gestellt, diese Terminverschiebung gegenüber der ursprünglichen Planung sei eine Reaktion auf die vernichtende Kritik von Jörg Drews an den Editionsprinzipien von Friedhelm Lach. Zu dieser Auskunft mag sich jeder sein Teil denken. Ich jedenfalls meine, dass es keine Schande ist, wenn sich ein Verlag und ein Herausgeber von der Kritik eines Rezensenten zu mehr Sorgfalt bewegen lassen und darauf verzichten, zu Lasten der Genauigkeit einen Terminplan um jeden Preis beizubehalten. So bleibt die Hoffnung, dass auf die noch ausstehenden Bände mehr Sorgfalt verwendet wird als auf den ersten Band der Schwitters-Edition, bei dem sich der Herausgeber, als er selbstherrlich in die Texte eingriff, wohl von der von ihm wörtlich genommenen und damit missverstandenen Devise des MERZ-Künstlers Schwitters leiten liess:
Jedermann seine eigene Redaktion.
Dada wollte die Welt von den Bürden der alten Kunst befreien, aber auch die Dada-Revolution war nicht ohne ihren Terror. Dada wußte ganz genau, wie man befreien mußte, und wer nicht dazu gehörte oder die große Emanzipation auf eigene Faust unternahm, der lief rasch Gefahr, kalter Herablassung zu begegnen. Und wenn einer gar aus Hannover zugereist kam, geblümte Krawatten trug und durchaus nicht gesinnt war, Spartakus als letzten Kunstakt zu proklamieren? Kurt Schwitters hatte seine Schwierigkeiten mit Dada: Er kam immer ein wenig zu spät (in der Nachhut der Avantgarde); Talente dritten Ranges (wie Tristan Tzara) nannten ihn einen „Kleinbürger“ und „Idealisten“; und wäre ihm Hans Arp nicht mit freundlicher Sympathie entgegengeeilt, er hätte wenige Freunde gefunden.
Oder war dieser akademische Maler, der noch in den ersten Kriegsjahren brave Bauernhöfe mit Birken malte (eben zur Zeit, als die Dadaisten die Welt schon von der improvisierten Bühne ihrer Zürcher Kneipe veränderten), die eigentliche Inkarnation aller Dada-Energie, ohne Hektik, aber mit Heiterkeit, ohne Geschrei, aber im ontologischen Spiel mit den Medien der Graphik, der Architektonik, der Literatur?
Die neue, die erste Gesamtausgabe, bezeugt uns, wie selten wir uns die Frage nach den Qualitäten der Avantgarde gestellt haben; wer hatte die eigentliche Begabung und Originalität und wer das Geschäftstalent, Literatur zu organisieren?
Ich glaube, Arp und Schwitters haben das Primat der produktiven Energie; die Frage ist, ob man Schwitters überhaupt mit der Dada-Vignette katalogisieren darf, ob er nicht viel mehr und viel weniger ist als Dada?
Friedhelm Laschs Gesamtausgabe seiner Gedichte, die viele unveröffentlichte Texte aus dem handschriftlichen (stenographischen) Nachlaß im Schwitters-Archiv in Oslo entschlüsselt und chronologisch ordnet, demonstriert sehr überzeugend, daß der Graphiker Schwitters auch als Vers-Autor auf die divergenteste Art arbeitete; neben dem liebenswürdigen Kitsch einer veralteten Neuromantik (auch Arp schrieb in Jugend und Alter sentimentale Gedichte) stehen, ganz unbefangen, kesse Chansons und die kühnsten Antizipationen der antisemantischen Poesie. Lasch unternimmt den verzweifelten Versuch, diese Texte nach bestimmten Gattungen zu ordnen (Gedichte, Sentenzen, Englisches, konkrete Poesie), aber ich bin mir nicht gewiß, ob diese Trennungen ihre Funktion haben; Schwitters schreibt so oder so, und sobald er eine besondere Methode erarbeitet hat, nimmt er sie in sein methodologisches Repertoire auf, ohne die anderen, die älteren Möglichkeiten jemals ganz zu opfern.
Seine Anfänge sind reine Sonntagsdichterei vom Weh im Wald, von des Mägdeleins lieblichem Mund und der Frühlingsharmonie: Erst im dritten Kriegsjahr werden seine Landschaftsbilder unruhig expressiv, und seine Syntax wird es auch (bei Schwitters gehen Veränderungen im Graphischen den Veränderungen des Literarischen immer voraus). Nachdem er Rudolf Blümner die Sturm-Lyrik der deutschen Futuristen rezitieren hörte, schiebt er seine Sonntagsgedichte – zunächst – beiseite und entwickelt sich rasch über seine wunderbaren „Portrait“-Gedichte (Walden, Blümner), in welchen der antisemantische Impuls das traditionelle Gedicht vor den Augen des Lesers auszehrt und vernichtet, zu seiner „Merz“-Kunst und den i-Gedichten, die seine radikalsten Einsichten formulieren. Aber Schwitters experimentiert, ohne den semantischen (oder in seinem Fall: sentimentalen) Gedichten je ganz zu entsagen; und selbst noch im englischen Exil, einer bitteren und einsamen Zeit, laufen in seinen schriftstellerischen Arbeiten die Strähnen des Erlebnisgedichtes, der Sprachgroteske und des phonetischen Experimentes mit- und nebeneinander.
Eine besonders freundliche Entdeckung, welche uns die neue Gesamtausgabe darbietet, sind Schwitters’ Parodien, Balladen, Chansons, Schlager, Sentenzen und Banalitäten, in denen sich der produktive Witz, von Heine und Morgenstern her, mit den antielitären Formen einer plebejischen Poesie vereint, wie wir sie von Walter Mehring, dem Überbrettl und Brecht her kennen; gelegentlich Derb-Obszönes, schmissige Schlager von anno 1930, die Freude an der Parodie.
Meine Lese-Empfehlungen: Schwitters höchsteigene Lorelei („… ein blondes nacktes Frauenzimmer, / Die hatte hinten irgendwo / Den Schwanz gewachsen am Popo; / Dagegen fehlten ihr die Beine / Das Mädchen hatte eben keine“); seine späte Kinderlied-Version („… Alle Herren, die Papa sind / Singen Lieder, die dada sind / Alle Vögel alle“); und eine fragile Chinoiserie („Ich stand vor meiner eisernen Haustür / Mein Freund kam vorbei auf einem lenkbaren Fahrrad. / Da erinnerten sich meine Gedanken an sie“). Das meiste ist nichts für allzu zarte Ohren, und das Ganze der Mischung, Anti-Prüdes in nächster Nachbarschaft zum graphischen Spiel mit der Literatur, darf mit E.E. Cummings glücklich wetteifern.
Ich finde es außerordentlich nützlich, daß wir die komplizierte Publikationsgeschichte dieser bekannten und unbekannten Texte erfahren. Ich wünschte nur, der Herausgeber hätte sich nicht für eine „Anna Blume“ letzter Hand aus einem sehr späten und unpublizierten Brief entschlossen und die rezeptionsgeschichtlich wichtigeren Publikationen des berühmten Gedichtes nicht mehr oder minder in den Apparat verwiesen.
Ich neide dem Herausgeber die schwierige Aufgabe nicht: Je unbestechlicher er die literarischen Texte ediert, desto unausweichlicher setzt er sich dem undankbaren Vorwurf aus, die produktive Gegenwart eines spielenden Intellekts zu zerstückeln und das Literarische, das in diesem Falle seine Gültigkeit nur im engsten Zusammenhang mit dem Graphischen und Theoretischen hat, von den Schwesternmedien zu trennen.
Ein Beispiel? Das berüchtigte i-Gedicht („lies: rauf, runter, rauf, Pünktchen drauf“), das der Herausgeber in die „Konkrete Poesie“ verlegt, gehört natürlich mit den anderen, den „pornographischen“ i-Gedichten zusammen, die im ersten Teil der Edition erscheinen – sie konstituieren eine einheitliche Gruppe noch mehr: sie sind, in ihrem Anspruch, ganz und gar unverständlich ohne die sie umgebenden theoretischen Überlegungen, die erst im vierten Bande dieser Ausgabe publiziert werden sollen. Der auf den ersten Blick kindliche Scherz, das kleine i oder, im „unsittlichen“ Gedicht, die aus einer Zeitung herausgeschnittene Preisliste holländischer Damenwäsche als ein Kunstwerk zu präsentieren, hat seine Berechtigung allein durch die theoretische Einsicht in Kunst als begrenzte Struktur, die der Künstler in ihrer geschlossenen Strenge innerhalb einer chaotischen Welt entdeckt und von ihr abhebt oder, wie Schwitters sagt, „entformelt“; Duchamps’ Ready-Made als Literatur? Friedhelm Laschs willkommene Edition der Gedichte fördert unsere Kenntnis des modernen Experiments auf ebenso grundsätzliche Art, wie Werner Schmalenbachs Monographie (1967) über das graphische Werk – wünschenswerter noch, daß uns eine zukünftige Schwitters-Publikation die Entwicklung seiner graphischen und literarischen Arbeiten, und wär’s nur die entscheidende Etappe von 1917 bis 1923, in ihrer Einheit vor Augen führte und uns darüber belehrte, wie sich für Schwitters Collage und Merz-Kunst, Ready-Made und i-Gedicht verbünden und dennoch durch ihre Materialität unterscheiden.
Der Klassiker des Experiments Schwitters führt uns wie spielend über die Grenzen des Bildes, des Wortes und der traditionellen Semantik in jene entfesselte Kombinationskunst der Medien hinaus, die sich den trennenden Büchern, Monographien und Editionen nicht mehr willig fügen will.
In fünf schön aufgemachten Bänden hat der Deutsche Taschenbuch Verlag das literarische Werk von Kurt Schwitters vorgelegt: ein Band Lyrik, zwei Bände Prosa, ein Band Schauspiele und Szenen, ein Band Manifeste und kritische Prosa. Es handelt sich um einen Nachdruck der von Friedhelm Lach besorgten Ausgabe, die von 1973 bis 1981 bei DuMont realisiert wurde. Als 1973 der erste Band erschienen war, gab es eine kleine Kontroverse, weil ein Kritiker die philologische Genauigkeit der Ausgabe bezweifelte. Zu bemerkenswerten Korrekturen scheint dies nicht genötigt zu haben; wenigstens ist in der neuen Ausgabe nichts Entsprechendes angezeigt, und so darf man wohl davon ausgehen, daß die Wiedergabe der Manuskripte, auch derjenigen, die in der Gabelsberger Kurzschrift gehalten sind, so zuverlässig wie möglich ist. Wer Schwitters genauer kennenlernen oder gar gründlich studieren will, hat nun jedenfalls die Möglichkeit, dieser Absicht – und diesem Vergnügen – anhand einer erschwinglichen und zudem schönen Ausgabe zu frönen.
Zu danken ist dem Verlag für diese Ausgabe, die die Vorzüge des Taschenbuchs, also günstiger Preis und Handlichkeit, mit dem großen Format der Originalausgabe vereinigt, weil nun endlich eine breitere Beschäftigung mit dem literarischen Werk von Schwitters einsetzen kann. Die Glanzstücke, die Schwitters um 1920 berühmt gemacht haben, kennt jeder: die tolldrastische Hymne auf Anna Blume „A – N – N – A: Du bist von hinten wie von vorne“); das „i-Gedicht“ (in Sütterlin zu denken: „rauf, runter, rauf, Pünktchen drauf“); die „Cigarren (ELEMENTAR): Ci / garr / ren / Ce / i / ge …“).
Dann auch die späteren Klassiker: die aberlogische „Auguste Bolte“ von 1922; das Lachtränen treibende Vortragsstück „Schacko“ von 1926 und die lautartistische „Ursonate“ aus den folgenden Jahren. Aber wer kennt seine zahlreichen Märchen, die von 1924 an entstanden sind? Oder die Bühnentexte, die Schwitters von 1922 an geschrieben hat? Oder die famosen „Tran“-Texte, in denen sich Schwitters mit seinen Kritikern auseinandersetzt:
Kritiker sind eine besondere Art Menschen. Zum Kritiker muß man geboren sein. Mit ganz außergewöhnlichem Schaafsinn findet der geborene Kritiker das heraus, worauf es nicht ankommt. Er sieht nie den Fehler des zu kritisierenden Kunstwerks oder des Künstlers, sondern sein eigenes Fehlen, sichtbar gemacht durch das Kunstwerk. Der Kritiker erkennt durch angeborenen Schaafsinn gewissermaßen seinen eigenen Fehler durch das Kunstwerk. Das ist die Tragik aller Kritiker, sie sehen Fehler, statt Kunst.
Auf eine allzu biedere Kritik, die für die heiteren Spiele von Schwitters keinerlei Sensorium hatte, antwortete er mit dadaistisch zugespitzten Diatriben, die den solchermaßen kritisierten Kritiker ziemlich dämlich dastehen ließen und ihn wohl für eine Weile mundtot gemacht haben dürften; freilich ist Schwitters nie auf manche Rezensenten getroffen, die als Dadaist so grandios wie als Kritiker sind. Jenseits des Spaßigen haben die „Tran“-Texte aber auch eine ernste und literaturgeschichtlich interessante Seite, insofern sie Dokumente für das Unverständnis sind, auf das Schwitters mit seiner heiteren Kunstauffassung und mit seiner experimentell-innovativen Kunstpraxis stieß. Das wäre heute anders. Das Verständnis für die Leistung dieser Art von Poesie: für die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten, für die Erkenntnis sprachlicher Mechanismen, für die Sprengung ideologischer Fixierungen, für die Schulung der Rezeptionsmöglichkeiten von Kunst – das Verständnis für diese und andere Leistungen dieser vermeintlichen Nonsense-Kunst ist bei der Literaturkritik wie bei der Literaturwissenschaft und – als Folge davon – im breiteren Publikum gewachsen.
Gleichwohl stellt sich die Frage, welche Bedeutung dem literarischen Schaffen von Schwitters, das hier komplett mit Varianten und Übersetzungen dokumentiert ist, insgesamt zukommt. Der Rang der obengenannten Klassiker aus der ersten Hälfte der zwanziger Jahre ist unbestritten. Mit ihnen gab Schwitters Muster, die immer wieder anregend wirkten und zum Kanon der Moderne gehören. Auch in den dreißiger Jahren gelangen ihm noch überraschende Inventionen: das „kleine Gedicht für große Stotterer“ (um 1934), das einen, wenn es vorgetragen wird, zwischen Lachen und Entsetzen hin und her wirft; das „Niesscherzo“ („tesch / haisch / tschiiaa“) und „Hustenscherzo“ („kraff / püsch / kraff“), mit denen Schwitters 1936/37 nach Worten, Lauten und Stimmgeräuschen auch akustische Krankheitsäußerungen in den Rang von kunsttauglichen Ausdrucksmitteln erhoben hat (hoffentlich liest das die Ministerin Ulla Schmidt nicht, sonst kommt sie noch auf die Idee, Niesen und Husten mit Vergnügungssteuer zu belegen).
Dennoch ist festzustellen, daß die innovative oder expansive Phase spätestens um die Mitte der zwanziger Jahre zu Ende ging, weil das Prinzip von Schwitters’ „MERZ-Kunst“, die Integration aller möglichen Materialien und Techniken ins Kunstwerk, ausgereizt und hinreichend exemplifiziert war. Von da an ist wiederholender und leicht abwandelnder Ausbau zu beobachten, im Bereich der Prosa und der dramatischen Texte auch eine Rückkehr zu konventionelleren Darstellungsweisen. Vieles blieb im übrigen fragmentarisch, und dies vermutlich nicht nur, weil Schwitters nach 1933 als „entartet“ betrachtet wurde und im Januar 1937 nach Norwegen emigrierte: Auch viele Texte aus den zwanziger Jahren sind unvollendet oder blieben ungedruckt, und so drängt sich der Verdacht auf, daß Schwitters sie nicht zum Abschluß beziehungsweise zum Druck brachte, weil sie ihm als avantgardistische Texte zu konventionell und als konventionelle Texte nicht pfiffig (oder „MERZig“) genug waren.
Wahrscheinlich hatte Gottfried Benn recht, als er 1951 in seiner vielberufenen Rede „Probleme der Lyrik“ sagte, die Avantgardisten der zehner und zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts seien Innovatoren und „Vollender“ in einem Sprung gewesen. Der Herausgeber der Schwitters-Ausgabe, Friedhelm Lach, sieht das zwar anders und vertritt in seinen Vorworten zu den einzelnen Bänden mehrfach die These, daß sich in Schwitters’ Schaffen ein konsequenter Ausbau und durchaus auch eine qualitative Steigerung beobachten ließen. Den Nachweis dafür bleibt er aber schuldig, und die Forschung hat seit dem Abschluß der Originalausgabe vor 25 Jahren nicht eben viel zur Bestätigung der Ausbau- und Steigerungsthese beigetragen. Möge die Taschenbuchausgabe dazu anregen, dieser Frage nachzugehen und die Entwicklung des Avantgardisten Schwitters nach 1930 genauer zu untersuchen und qualifizierend zu beschreiben.
Jürgen Partzsch: Vor 65 Jahren vorgestellt: Die „Ursonate“ von Kurt Schwitters
Vortrag: Eberhard Rothas und Lesung: Oskar Pastior
Akademie der Künste Berlin, 1987
Kurt Schwitters spricht Fragmente aus der „Ursonate“.
Schreibe einen Kommentar