Bertolt Brechts Gedicht „Der Kirschdieb“

BERTOLT BRECHT

Der Kirschdieb

An einem frühen Morgen, lange vor Hahnenschrei
Wurde ich geweckt durch ein Pfeifen und ging zum Fenster.
Auf meinem Kirschbaum – Dämmerung füllte den Garten –
Saß ein junger Mann mit geflickter Hose
Und pflückte lustig meine Kirschen. Mich sehend
Nickte er mir zu, mit beiden Händen
Holte er die Kirschen von den Zweigen in seine Taschen.
Noch eine ganze Zeitlang, als ich wieder in meiner Bettstatt lag
Hörte ich ihn sein lustiges kleines Lied pfeifen.

1938

aus: Bertolt Brecht: Die Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2000

 

Konnotation

Ein läppischer Kirschdiebstahl als Thema eines Gedichts? Auf was will der in Realismus und didaktischer List erprobte Bertolt Brecht (1898–1956), der zur Zeit der Niederschrift des Gedichts in Svendborg im dänischen Exil lebte, unsere Aufmerksamkeit lenken? Ein schlafloser Mann entdeckt im Morgengrauen auf dem hauseigenen Kirschbaum einen Dieb, der sich offenbar in bester Laune mit reichlich Beute eindeckt. Der Besitzer des Kirschbaums sieht tatenlos zu, wie der Dieb seinen vergnüglichen Beutezug durchführt. Trifft hier ein Melancholiker mit Handlungslähmung auf einen fröhlichen Hedonisten?
„Der Kirschdieb“ entstand im Sommer 1938 als Bestandteil der sogenannten „Steffinschen Sammlung“, die zu Lebzeiten Brechts nie gedruckt wurde. Die Brecht-Forschung hat auf den erotischen Subtext der Szenerie hingewiesen. Die Kirsche als das klassische Erotik-Symbol verweise auf einen sexuellen Übergriff durch einen Fremden oder Nebenbuhler, während ein passives Subjekt tatenlos zusieht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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