Christian Morgensterns Gedicht „Schauder“

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CHRISTIAN MORGENSTERN

Schauder

Jetzt bist du da, dann bist du dort.
Jetzt bist du nah, dann bist du fort.
Kannst du’s fassen? Und über eine Zeit
gehen wir beide die Ewigkeit
dahin – dorthin. Und was blieb?…
Komm, schließ die Augen, und hab mich lieb!

1906

 

Konnotation

Der Galgenlieder-Erfinder und Palmström-Erzähler Christian Morgenstern (1871–1914) ist vor allem als Dichter humoristischer und grotesker Verse berühmt geworden. Doch regelmäßig durchbrechen die Reihen heiterer Reimkunststücke und wortneugeschöpfter Fabelwesen stille und subtile Gedichte, wie das 1906 im Band Melencolia erschienene „Schauder“, das Morgenstern von seiner anderen Seite zeigt.
Möglicherweise markiert „Schauder“ wie andere Gedichte aus Melencolia eine Wende im Schaffen Morgensterns. Hatte er sich um die Jahrhundertwende im Geiste Friedrich Nietzsches noch um eine Erneuerung der Kunst bemüht, traten seine Bestrebungen zunehmend zurück hinter den Versuch einen Zustand „vollkommener Vergeistigung“ zu erreichen. Diese Form mystischer Erfahrung scheint der Jakob Böhme- und Meister Eckhart-Leser Morgenstern in seinem Gedicht anzustreben. Es ist jedoch nur ein kurzer Moment der Nähe, der dort erreicht werden kann. Voraussetzung ist ein Glaubenssprung: „schließ die Augen, und hab mich lieb!“

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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