Eduard Mörikes Gedicht „Leben und Tod“

EDUARD MÖRIKE

Leben und Tod

Sucht das Leben wohl den Tod?
Oder sucht der Tod das Leben?
Können Morgenröte und das Abendrot
Sich auf halbem Weg die Hände geben?

Die stille Nacht tritt mitten ein,
Die sich der Liebenden erbarme!
Sie winkt: es flüstert: „Amen!“ – Mein und dein!
Da fallen sie sich zitternd in die Arme.

nach 1830

 

Konnotation

Die Biographie des frommen schwäbischen Dichterpfarrers Eduard Mörike (1804–1875) ist durchzogen von wiederkehrenden Nervenkrisen, seelischen Erschöpfungen und Todesahnungen. Er war nicht recht begabt für eine glückliche Liebe, sondern blieb gebannt in ein Lebensgefühl des Scheiterns. Der Tod ist sein poetischer Begleiter, der in einem der wenig bekannten Gedichte die alleinige Regie übernimmt.
Die Fragen nach dem Verhältnis von Leben und Tod zielen in der ersten Strophe mit ihren auf Harmonie bedachten Kreuzreimen zwar auf eine Balance der Sphären, als könnten sich das lebendige, vitale Dasein und die unwiderrufliche Auslöschung „auf halbem Weg“ zu einer Aussöhnung treffen. Die Begegnung zwischen den Liebenden findet dann aber doch in der Zone der Finsternis statt, in der „stillen Nacht“, in der nur vordergründig eine Erlösung stattfindet. Letztlich triumphiert aber doch die Dunkelheit – in der ein Unerlöster schreibt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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