Erich Frieds Gedicht „Weihnachtslied“

ERICH FRIED

Weihnachtslied

Eine Streu von Stroh
Eine Wand von Wind
Eine Woge als Wiege
Ein Kind

Ein Schwamm voll Essig
Eine Kammer voll Gas
Eine Waage am Wege
Eine Grube im Gras

Eine Gasse voll Dirnen
Eine Gosse voll Wut
Eine Stirne voll Dornen
Eine Mutter voll Blut

Eine Streu von Stroh
Eine Wand von Wind
Eine Woge als Wiege
Ein Kind

1960er Jahre

aus: Erich Fried: Befreiung von der Flucht. Gedichte und Gegengedichte. Claassen Verlag, Hamburg 1968

 

Konnotation

Es ist eine anrührende Geschichte, die immer neu erzählt wird: die Geburt von Jesus Christus in der Stadt Davids, dem judäischen Bethlehem. Folgt man der Darstellung des Lukas-Evangeliums, auf die das Gedicht Erich Frieds (1921–1988) zurückgeht, wird das Kind in einem kalten Stall geboren und dort in eine Krippe gelegt, in eine „Streu von Stroh“. So beginnt Frieds „Weihnachtslied“, das Anfang der 1960er Jahre entstand, in der Art eines Wiegenlieds, in dem litaneiartig die Elemente der Weihnachtsszene aufgerufen werden.
Aber der politische Lyriker Fried erzählt in der zweiten und dritten Strophe eine düstere Gegengeschichte zur Verheißung des Erlösers. Die Leiden des sterbenden Jesus am Kreuz werden mit drastischen Anspielungen auf barbarische Menschheitsverbrechen gekoppelt. Die Gestalt des sterbenden Jesus wird mit den Opfern der nationalsozialistischen Judenverfolgung verbunden, die dritte Strophe assoziiert zur Dornenkrone Jesu die prostitutionshafte Zurschaustellung aller gesellschaftlichen Verhältnisse. In der Art eines Rondos schließt das Gedicht – und hält die Hoffnung auf das „Kind“ wach.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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