Ernst Jandls Gedicht „erst habe ich mich umgebracht. …“

ERNST JANDL

erst habe ich mich umgebracht.
dann bin ich wieder aufgewacht.

dann habe ich mich umgebracht.
dann bin ich wieder aufgewacht.

dann habe ich mich umgebracht.
dann bin ich wieder aufgewacht.

dann habe ich mich umgebracht.
dann bin ich wieder aufgewacht.

dann habe ich mich umgebracht.

1964

aus: Ernst Jandl: poetische Werke, hrsg. von Klaus Siblewski. Luchterhand Literaturverlag, München 1997

 

Konnotation

Als die literarische Öffentlichkeit Mitte der 1960er Jahre von der sprachspielerischen Leichtigkeit und dem Humor der Gedichte Ernst Jandls (1925–2000) zu schwärmen begann, demonstrierte der Dichter selbst in einem radikal minimalistischen Werk, dass seine Poesie ebenso der existenziellen Daseinsfinsternis zugewandt war: mit einem Gedicht über die Heillosigkeit des Lebens, das auf den Freitod zustrebt. Das bereits im Oktober 1964 entstandene Gedicht wurde erst 1997 in der ersten Werkausgabe Jandls publiziert.
Es genügen zwei Zeilen und ihre tonlose Repetition, um die finstere Ausweglosigkeit und Todesbesessenheit des Ich zu illustrieren. Die Fixierung auf den Gedanken des Freitods ist so stark, dass sie allen Wiederbelebung und Neukonstitution des Ich vorgängig ist. Das Erwachen aus der Todesstarre ist nur eine Fiktion, die denn auch durch den lapidaren Schlussvers negiert wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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