FRIEDERIKE MAYRÖCKER
Gesang zwischen dir und mir
siehst du den Abendstern?
ich sehe
hörst du den Wind?
ich höre
fühlst du die Ewigkeit?
ich fühle
und dein Name?
nenne mich Nacht
woher kommst du?
aus deiner Einsamkeit
wohin gehst du?
in deine Innigkeit
gib mir die Hand
um 1950
aus: Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte. Hrsg. v. Marcel Beyer. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 2004
„Das ,freie‘ oder ,totale‘ Gedicht, das ich anstrebe… ist meiner Vorstellung nach ein Gedicht, das einen Ausschnitt aus der Gesamtheit meines Bewusstseins von der Welt bringt. ,Welt‘ verstanden als etwas Vielschichtiges, Bruchstückhaftes, Unauflösbares…“ Was Friederike Mayröcker (geb. 1924) in einem Statement von 1967 zu Protokoll bringt, gilt noch nicht für ihr zart-naives Frühwerk. Denn in den Gedichten der Jahre 1945–1955 geht es nicht um assoziationsreiche Totalität, sondern um die lyrisch-unmittelbare Anrufung eines Du.
Ein bewegendes Liebesgedicht, das noch weit entfernt ist von den filigranen Verästelungen der modernistischen Poetik Mayröckers nach 1967. Die Basiswörter romantischer Gefühlspoesie dominieren, vom „Abendstern“ des Matthias Claudius bis hin zu „Wind“, „Nacht“ und „Einsamkeit“. Und doch ist bei allem Traditionalismus das Elementare der Gefühlsbewegung zwischen zwei Liebenden festgehalten.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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