FRIEDERIKE MAYRÖCKER
Proëm auf den Änderungsschneider Aslan Gültekin
und hatten einander gesehen ich meine
zugeworfen den Blick und die Blicke bodenloses
Terrain, uns angeblickt einen Blick zwei Blicke lang angeblickt
im Vorübergehen an seiner Ladentür also mit je einem
Auge einander berührt im Vorüberstreifen mit Nachdenken, dann
ins Fluszknie der Mann gleichsam profilhaft
solch Raptus-Szene, während ein Tropfen Schweisz
langsam aus meiner Achselhöhle den Arm hinabrinnt
ein Buchstabe plötzlich aus meinem Namen
fällt zu Boden ich sehe ihn fallen, verschwinden –
mit FARNKRAUT AUGEN, Breton
1995
aus: Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2007
„Ich lebe in Bildern“, hat die große Dichterin Friederike Mayröcker (geb. 1924) einmal ihre Poetologie knapp zusammengefasst. „Ich mache die Bilder zu Sprache, indem ich ganz hineinsteige in das Bild. Ich steige solange hinein, bis es Sprache wird.“ So zeichnet sich in Mayröckers Gedichten ein „undomestiziert-wildwuchernder Blick“ ab, der sich noch an der winzigsten Begebenheit entzünden kann zu einem „euphorischen Sehen“ (Thomas Kling). Grundgestus dieses Wahrnehmens ist das Flanieren, das Umherstreifen mit den Augen, das nur manchmal schockartig innehält, wie in dem Gedicht über den Änderungsschneider Aslan Gültekin.
Mit der dieses Gedicht startenden „Raptus-Szene“ wird das flüchtige Treffen der Augen zweier Personen zu einem zeitenthobenen Moment. Damit wird eine aus der urbanen Anonymität bekannte Alltagsbegebenheit zu einer Erfahrung von Schönheit, wie sie der französische Surrealist André Breton am Ende seines Buchs Nadja beschreibt: „Die Schönheit wird ein Beben sein, oder sie wird nicht sein.“
Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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