Friedrich Nietzsches Gedicht „An der Brücke stand“

FRIEDRICH NIETZSCHE

An der Brücke stand
jüngst ich in brauner Nacht.
Fernher kam Gesang:
goldener Tropfen quoll’s
über die zitternde Fläche weg.
Gondeln, Lichter, Musik –
trunken schwamm’s in die Dämmrung hinaus…

Meine Seele, ein Saitenspiel,
sang sich, unsichtbar berührt,
heimlich ein Gondellied dazu,
zitternd vor bunter Seligkeit.
– Hörte Jemand ihr zu?…

 

Konnotation

„Wenn ich ein andres Wort für Musik suche, so finde ich immer nur das Wort Venedig“, notiert der Philosoph und Dichter Friedrich Nietzsche (1844–1900) im zweiten Buch seiner Bekenntnisschrift Ecce homo von 1888. Die vollkommene Verwandlung von Musik in Poesie, im Verlauf derer beide Sphären ineinander übergehen, demonstriert er in Ecce homo mit einem Venedig-Gedicht.
Das einsame Subjekt auf der Brücke wird ergriffen von einem „fernher“ herbeiwehenden Gesang – und die ganze Szenerie löst sich auf in der Bewegung der Musik. Die Welt – in diesem Fall der konkrete Ort Venedig – erscheint als Projektion des lyrischen Ich, sie verliert ihre Kontur und verschwimmt zur „zitternden Fläche“. In der Verzückung des Ich und dem Saitenspiel der Seele gibt es keine festen Bezugspunkte mehr. Alles ist zur Musik geworden. Nietzsche selbst erklärt das so: „Ich weiss keinen Unterschied zwischen Thränen und Musik zu machen, ich weiss das Glück, den Süden nicht ohne Schauder von Furchtsamkeit zu denken.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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