FRIEDRICH THEODOR VISCHER
Anwendbar
Ein weich verpackter,
Ein fein befrackter,
Nicht sehr intakter
Charakter.
Den Vers, den hab ich im Vorrat gemacht,
Ganz ohne Objekt; ich hab halt gedacht:
Ich mach ihn einmal, er wird schon passen,
Man kann ihn brauchen in allen Gassen.
nach 1860
Eine der haltbarsten Definitionen zum Wesen des Gedichts stammt von dem Hegel-Schüler und Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer (1807–1887). Er nimmt Goethes Begriff vom „Gelegenheitsgedicht“ zustimmend auf, um schließlich zu resümieren: „Die Gelegenheit ist der Zufall des Anlasses, der die Phantasie absichtslos in Bewegung setzt… Die Situation ist der Moment, wo Subjekt und Objekt sich erfassen, dies in jenem zündet, jenes dies ergreift und sein Weltgefühl in einem Einzelgefühl ausspricht.“
Absichtslosen Momenten einer Verbalfaszination oder einer sprachspielerischen Inspiration verdanken sich auch Vischers „Ein- und Ausfälle“, die seinem Alterswerk (nach 1860) zuzurechnen sind. Das knappe, treffliche Porträt eines Charakterlosen steht hier in einer Reihe von reimverliebten Sprüchen, lockeren Epigrammen und lästerlichen Satiren, in denen sich Vischer als Meister der Komik präsentiert.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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