Gerald Zschorsch’ Gedicht „Zeugnis“

GERALD ZSCHORSCH

Zeugnis

Bin allein. Bin deshalb mehr.
Bin kein Kontakt. Bin Adresse.

Bin doppeltvernäht voll; bin leer.
Bin Schlag in die Fresse.

Haben und Sein. Ständig Pubertät.
Je früher sie wegbricht, ist es zu spät.

1990

aus: Gerald Zschorsch: Torhäuser des Glücks. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2004

 

Konnotation

Bei diesem Dichter gibt es keine leisen Töne, hier gibt es ausschließlich die kategorische Geste, die harte Fügung. Der 1951 geborene Gerald Zschorsch, der Sohn eines hochrangigen DDR-Diplomaten, suchte früh den Konflikt mit den Repräsentanten des SED-Staats. Als Jugendlicher hatte er gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei demonstriert und musste das mit zwei Jahren Jugendhaft büßen.
In den Akten der Staatssicherheit wurde der renitente Linksradikale als „Überzeugungstäter“ geführt und 1974 schließlich ausgebürgert und in die Bundesrepublik abgeschoben. In harten, lakonischen Zeilen attestiert sich hier das Ich des 1990 erstmals veröffentlichten Gedichts eine unaufhebbare Einsamkeit und ein unbeugsames Außenseitertum. Das Alleinsein schließt eine aggressive Gestik mit ein – und auch einen selbstironischen Seitenblick auf den Rebellen als ewig Pubertierenden.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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