GERHARD FALKNER
schund
nirgends weiß ich wo ich treibe
ob die prächtig kühle nacht
sich in meine augen schreibe
und aus meinem schmerz im leibe
schatten auf mein kunststück macht
manchmal bin ich fast gewesen
fraß die sterne, schoß aufs meer
keine ferne stand dazwischen
freude schäumte von den tischen
schäumte fort und war nicht mehr
1989
aus: Gerhard Falkner: X-te Person Einzahl. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1996
Seit seinem ersten Gedichtband so beginnen am körper die tage (1981) wird der Berliner Lyriker Gerhard Falkner (geb. 1951) von einer poetischen Lust an der ästhetischen Konfrontation des Gegensätzlichen angetrieben. Stets geht es um die Synthetisierung des vermeintlich Unvereinbaren: lyrische Verzauberung und Entzauberung, hoher Ton und coole Werbeformel, Pathos und Nüchternheit, Gesang und spröder Gegen-Gesang.
Und auch dieses Gedicht aus dem Band wemut (1989) scheint vorbehaltlos ein romantisches Sprechen restituieren zu wollen, fundiert auf eine kühne Metaphorik und sinnliche Wortopulenz. Aber die demonstrativ eingesetzte Kleinschreibung und der ernüchternde Titel dementieren das reimgestützte Fließen der alten Zauberworte „Nacht“, „Meer“ oder „Ferne“. Denn Falkner hat über sein Gedicht eine Überschrift gesetzt, die das fast schwelgerische Schönheitsverlangen seiner Verse negiert: „schund“. So wird die Legitimation des doch kunstvoll hergestellten romantischen Settings der Verse auf irrtierende Weise in Frage gestellt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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