HANS MAGNUS ENZENSBERGER
Nicht Zutreffendes streichen
Was deine Stimme so flach macht
so dünn und so blechern
das ist die Angst
etwas Falsches zu sagen
oder immer dasselbe
oder das zu sagen was alle sagen
oder etwas Unwichtiges
oder Wehrloses
oder etwas das mißverstanden werden könnte
oder den falschen Leuten gefiele
oder etwas Dummes
oder etwas schon Dagewesenes
etwas Altes
Hast du es denn nicht satt
aus lauter Angst
aus lauter Angst vor der Angst
etwas Falsches zu sagen
immer das Falsche zu sagen?
1980
aus: Hans Magnus Enzensberger: Die Furie des Verschwindens. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1980
Es ist ein erbarmungswürdiger Zeitgenosse, den uns der 1929 geborene Hans Magnus Enzensberger in seinem Gedicht vor Augen stellt. Denn dieser Mensch mit „dünner“ und „blecherner“ Stimme hat offenbar den Willen zur Meinungsäußerung in sich erstickt. Er erlegt sich nicht nur große Zurückhaltung in Diskussionen auf, sondern traktiert sich mit strenger Vorab-Zensur. Und das alles aus der Angst, „etwas Falsches zu sagen“.
Es sind von außen gesetzte Kriterien, die den Ängstlichen von ungeschützten Äußerungen abhalten. Offenbar ist die Angst groß, vom common sense des Diskurses abzuweichen. Das 1980 erstmals veröffentlichte Gedicht liest sich wie eine Mahnung Enzensbergers an die linke Intelligenz, in deren Sekten und Grüppchen zu dieser Zeit der Glaube an die „richtige Lehre“ und der entsprechende Konsensdruck sehr groß war. Dem konformistischen Subjekt des Gedichts ist ein Satz des Philosophen Theodor Adorno entgegenzuhalten: „Die Angst vor dem Beifall von der falschen Seite ist totalitär.“
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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