HANS MAGNUS ENZENSBERGER
Optimistisches Liedchen
Hie und da kommt es vor,
daß einer um Hilfe schreit.
Schon springt ein andrer ins Wasser,
vollkommen kostenlos.
Mitten im dicksten Kapitalismus
kommt die schimmernde Feuerwehr
um die Ecke und löscht, oder im Hut
des Bettlers silbert es plötzlich.
Vormittags wimmelt es auf den Straßen
von Personen, die ohne gezücktes Messer
hin- und herlaufen, seelenruhig,
auf der Suche nach Milch und Radieschen.
Wie im tiefsten Frieden.
Ein herrlicher Anblick.
1999
aus: Hans Magnus Enzensberger: Leichter als Luft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999
„Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht“, hat der 1929 geborene Hans Magnus Enzensberger bereits verkündet, als er dem westdeutschen Staat in seiner Zeitschrift Kursbuch noch eine veritable Kulturrevolution verordnen wollte. Nach seiner Enttäuschung über die ideologische Verblendung der Linken setzte Enzensberger nach 1970 die „Verteidigung der Normalität“ auf die Tagesordnung. Aber sein Lobgesang auf die friedvolle Idyllik des Kapitalismus hat ironische Widerhaken.
Das Eröffnungsgedicht des Bandes Leichter als Luft (1999) gibt vor, einen Hymnus auf die Verhältnisse anzustimmen, in Form eines begütigenden „Liedchens“. Aber es entsteht ein abgründiges Genrebild. Was als Errungenschaft des „dicksten Kapitalismus“ gepriesen wird, erweist die Fragilität der zivilisatorischen Standards. Dass ein Alltagshandeln ohne Massaker und ohne „gezückte Messer“ möglich ist, will man für selbstverständlich halten. Aber diese Selbstverständlichkeit steht zur Disposition, das einschränkende Vergleichswort „wie“ verweist auf die Abwesenheit des „tiefen Friedens“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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