Helmut Kraussers Gedicht „Gedicht, wo nix los ist.“

HELMUT KRAUSSER

Gedicht, wo nix los ist.

Abendland und Untergang,
zwei Rentner aus dem Plattenbau,
betreten ihre Lieblingskneipe.
Sagt Abendland: Ich nehm ein Bier.
Sagt Untergang: Ich auch.

So sitzen sie und trinken.
Sagt Abendland: Mein Freund –
Sagt Untergang: Wer? Ich?
Dann lachen sie und trinken.

Was wolltest du denn sagen?
fragt Untergang. Und Abendland
versucht sich zu erinnern. Es fällt
ihm nicht mehr ein. Sie rauchen.

Wir melden uns zurück, sobald sich

2000

aus: Helmut Krausser: Strom. Neunundneunzig neue Gedichte (’90–’03). Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003

 

Konnotation

In unverwüstlichem Selbstvertrauen lässt sich der äußerst produktive Erzähler, Dramatiker und Gelegenheitsdichter Helmut Krausser (geb. 1964) gerne als „der letzte Romantiker“ qualifizieren. In seinen Gedichten konzentriert er sich entweder auf sentimental-Liedhafte Töne oder auf lässig dargebotene Alltagsszenen, die sich in donnernden Pointen gefallen – oder aber in milder Ironie eine Genreszene aus dem Plattenbau skizzieren.
Dass die verschwiegenen Biertrinker in diesem Gedicht aus dem Jahr 2000 große philosophische Namen erhalten, bat hier vor allem rhythmisch-klangliche Gründe. Auch in öden Eckkneipen, so scheint es, wird am „Untergang des Abendlandes“ (Oswald Spengler) gearbeitet. Triviale Alltagsgeschichte trifft in unwiderstehlicher Komik auf die großen Verwerfungen der Kulturgeschichte. Wenn sich wie in der letzten Zeile ein Gedanke an Veränderung einstellt, zerplatzt das komische Genrebild sofort.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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