OSKAR LOERKE
Nachtmusik
Laub kam von den Bäumen
Meine Schulter betupfen,
Nicht du.
Schaum kam ans Ufer
Und wollte mein Schuhband zupfen,
Nicht du.
Sonne von gestern kam aus den Rosen,
In meinen Augen zu wohnen,
Nicht du.
Sternschnuppen hängen, wehende Schleifen,
Aus der Vergängnis Erntekronen,
Auch du.
aus: Oskar Loerke: Die Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1983
Ist es noch möglich, in romantischer Manier der „Nachtmusik“ der Natur zu lauschen? Das lyrische Subjekt im Gedicht Oskar Loerkes (1884–1941) suggeriert uns zunächst ein intensives Verschmelzungserlebnis. Das Ich vermischt sich mit den Tönen und Lauten der Natur, die es zu nächtlicher Stunde erreichen. Aber es bleibt ein entscheidender Mangel. Das „Du“, auf das sich die Sehnsucht des Subjekts richtet, bleibt abwesend. Erst gegen Ende des Gedichts, als sich das Gefühl von „Vergängnis“ in die zuvor intensiv erlebte Naturunmittelbarkeit mischt, ist auch das „Du“ wieder präsent.
Da er als Lektor des S. Fischer Verlags stark beansprucht war, hat Oskar Loerke nur ein schmales lyrisches Œuvre hinterlassen. Von 1928 bis 1933 fungierte er als Sekretär der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste. Nach dem Triumph der Nationalsozialisten im Januar 1933 musste er dieses Amt aufgeben. Während seine frühen naturmystischen Vorstellungen von einer kosmischen Mensch-Natur-Einheit sprechen, beschrieb Loerke später die Natur als unabhängige, autonome Wirklichkeit.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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