Peter Härtlings Gedicht „Ich werfe…“

PETER HÄRTLING

Ich werfe
deinen Schatten.
Mehr habe ich nicht
von dir.
Du gehst mir voraus.
Du gehst mir nach.
Du bist kühler
als ich.
Wenn ich auf dich
falle,
verlierst du
mich.

1960er Jahre

aus: Peter Härtling: Gedichte 1953–1987. Luchterhand Literaturverlag, München 1989

 

Konnotation

Peter Härtling, 1933 in Hermannsdorf bei Chemnitz geboren, gelangte nach einer dramatischen Flucht am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Südwestdeutschland und lebt seit vielen Jahren in Nürtingen. Literarisch ist er vor allem durch seine autobiographischen und seine Künstler-Romane bekannt geworden. Doch angefangen hat Härtling als Autor von Gedichten, in denen sich die Kenntnis der lyrischen Tradition mit dem kalkulierten Einsatz verschiedener Sprechweisen mischt.
In Härtlings Gedicht scheinen für Licht und Schatten andere physikalische Gesetze zu gelten. In Form einer mystischen Verinnerlichung entsteht vordergründig ein Liebesgedicht, das den Schatten zur Identifikationsfläche zweier Personen stilisiert. Diese Schattenfläche ist zugleich die Grenzscheide von einer Person zur anderen, doch ebenso lässt sich im Schatten die Stelle verorten, an der ein Übergang möglich ist von einer Welt zur anderen. In den Worten eines anderen großen Schattendichters (Gunnar Ekelöfs): „Die große Identifikation ist, je näher man auf sie zu gleitet, der stets größere Schmerz, der zum Tod führen kann.“

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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