Rainer Maria Rilkes Gedicht „Herbst“

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RAINER MARIA RILKE

Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

1902

 

Konnotation

Wer das berühmte „Herbst“-Gedicht Rainer Maria Rilkes (1875–1926) in den Dienst der christlichen Glaubenslehre nehmen will, sitzt einer oberflächlichen Lektüre auf. Gewiss taucht am Ende der 1902 entstandenen poetischen Lektion vom „Fallen“ und Untergehen eine beruhigende Gestalt auf, ein namenloser „Einer“, der den Höllensturz „unendlich sanft“ aufzufangen vermag. Aber ist das wirklich eine beruhigende transzendentale Instanz?
Das „Fallen“, so suggeriert das Gedicht, ist das absolute Daseinsprinzip der Natur und des Menschengeschlechts. Die Schwerkraft ist eine unheimliche, alle Schöpfung ins Negative reißende Macht. Mit „verneinender Gebärde“ fällt die Erde ins schwarze Nichts. So tendiert drei Strophen lang alles zum Sturz ins bodenlose. Und der „Eine“ ist nicht unbedingt ein rettender Erlöser, sondern verwandelt nur das allgemeine Fallen in einen „sanften“ Vorgang. Bereits ein paar Jahre vor Entstehung dieses Gedichts hatte Rilke in den „Elf Visionen“ (1896–98) von „Christus“ alle herkömmlichen Formen von Frömmigkeit und Religion in Frage gestellt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

1 Kommentar

  1. Die Stelle : “…sie fallen mit verneinender Gebärde” ist nicht bezogen auf
    die Erde.
    Wenn man einem fallenden Blatt zuschaut, dann ist in der Bewegung, die das Blatt macht, eine nicht lustig tanzende Bewegung zu sehen, sondern eine Verneinung.

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