RALF ROTHMANN
Reklamation 2000
Das Mißtrauen bleibt: Gegen Vegetarier
in Lederjacken, gegen Goethe und ähnliche
Turngeräte. Und besonders gegen die Post.
Alle dort scheinen krank zu sein. Briefmarken-
entzündung. – Schick mir den Januar nach,
der Frühling war längst da. Und ein
an die Menschheit adressiertes Jahrhundert
kam bei den Hyänen an.
2000
aus: Ralf Rothmann: Gebet in Ruinen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2000
Von diesem zunächst eher lässigen Misstrauensvotum gegen kanonische Idole, gegen bestimmte Lebenshaltungen und gegen eine ungeliebte Institution des Alltags sollte man sich nicht täuschen lassen. Die lakonische Flapsigkeit der Rede scheint zunächst nur die bekannten Ressentiments zu bedienen. Der moderne, konstitutionell unzufriedene Mensch hat ständig irgendeine „Reklamation“ vorzubringen – gleichzeitig beharrt er auf der sofortigen Verfügbarkeit von allem. Doch dann weitet sich in dem um die Jahrtausendwende entstandenen Gedicht des Erzählers und Lyrikers Ralf Rothmann (geb. 1953) der Blick ins Metaphysische.
Die letzten drei Verse ziehen eine bittere Bilanz – die Bestände der Spezies Mensch sind bei den Aasfressern gelandet. Dieser metaphysische Schmerz kommt aus einer religiösen Disposition des Autors. „Inbrünstig katholisch“ sei er aufgewachsen, hat Rothmann in einem Interview bekannt. Diese katholische Prägung teilt sich seinen Gedichten mit – als Sehnsucht nach einer Transzendenz, die sich gegen alle sarkastischen Ironisierungen behauptet.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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